"Die Angst ist der Motor des ganzen Systems"
In seinem neuen Film "Alphabet" beschäftigt sich Erwin Wagenhofer mit der Bildung, in deren Misere er den Grund für die Krise sieht
Interview |
STANDARD: Sind Sie gerne in die Schule gegangen?Wagenhofer: Ich kann mich an meinen letzten Schultag erinnern, da war ich 19. Da habe ich geweint, dass es aus ist. Ich bin aber in einer anderen Zeit in die Schule gegangen. Bei mir gab es nie den Druck, dass ich etwas muss.
STANDARD: Weil Sie gut waren?
Wagenhofer: Meine letzte Deutschlehrerin sagte: "Die Geschichten, die Sie erzählen, sind so fantastisch, dass mir die fünf Rechtschreibfehler wurscht sind." Andere Lehrer gaben mir einen Fünfer.
STANDARD: Sie beklagen, die Kindheit würde heutzutage verzweckt. Was meinen Sie damit?
Wagenhofer: Nicht nur die Kindheit, sondern das gesamte Leben. Alles, was heute keinen ökonomischen Nutzen hat, wird weggegeben. Ob Sie ein guter Mensch sind und à la longue für die Firma besser sind, interessiert nicht.
STANDARD: Ihre beiden letzten Filme haben sich mit Ernährung und Wirtschaft beschäftigt, warum als Abschluss der Trilogie Bildung?
Wagenhofer: Wenn man sich über Ernährung aufregt, muss man auch den Grund suchen. Dieses System bauen nicht die Ungebildeten. Die von der Finanzwirtschaft ausgelöste Krise wurde von den Hochgebildeten verursacht.
STANDARD: Eine Ihrer Thesen ist, dass wir nicht so geboren, sondern von dem System ...
Wagenhofer: ... konditioniert werden. Die Schulpflicht war eine riesige Revolution, man hat begonnen junge Menschen industriell zu formen. Da war am Anfang die Alphabetisierung, deswegen heißt mein Film alphabet. Heute könnten Kinder im richtigen Setting Lesen und Schreiben auch von selbst lernen, wenn sie nicht verbogen und im spielerischen Lernen unterbrochen werden.
STANDARD: Geht es Ihnen um eine schullose Gesellschaft?
Wagenhofer: Nein, es geht darum, dass das industrielle Zeitalter vorbei ist. Wir gehen auf Herausforderungen zu, wo wir Kreativität brauchen und nicht normierte Abläufe. Der Maler Arno Stern sagt in meinem Film: "Die Menschen sind am Leben und wissen nicht, warum." Wie viele Menschen wären lieber Gärtner als Jurist?
STANDARD: Warum ist eine neue Art des Lernens notwendig?
Wagenhofer: Wir hatten lange keine Kriege mehr, und die derzeitige Schule ist ein Kriegssystem. In den 1980er Jahren war in Mitteleuropa der Wiederaufbau einigermaßen abgeschlossen. Damals hätte man das auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaftssystem umdrehen sollen. Just in jenem Moment kamen in Amerika und in Großbritannien die Neocons an die Macht. Seitdem ist die Wirtschaft nicht mehr für den Menschen, sondern der Mensch für die Wirtschaft da. Es werden Produkte hergestellt, die niemand braucht. Die Frage ist: Wie stellen wir den Tanker um?
STANDARD: An einer Stelle in Ihrem Film reden Berater von McKinsey über Familienplanung. Eine Frau sagt: "Das kann ich nicht machen, dann bin ich mit 40 kein CEO."
Wagenhofer: Das ist eine Angstgesellschaft. Die da drinnen sind, haben die größte Angst. Das sind kalte Erwachsene, keine Menschen mehr.
STANDARD: Ist Angst ein Grund, warum dieses System aufrechterhalten wird? Weil Menschen glauben, sie brauchen einen bestimmten Abschluss als Absicherung?
Wagenhofer: Die Angst ist der Motor des ganzen Systems: Wenn du das nicht machst, dann wirst du nicht mehr dabei sein, dann wirst du ausgestoßen. Das hat meine Mutter schon gesagt: Wenn du das nicht machst, dann wirst du das nicht. Und wenn du das nicht machst, dann wirst du keine Frau kriegen. Das stimmt aber gar nicht. Und dagegen wehre ich mich. Das ist eigentlich das Einzige, was ich tue. Ich mache sonst nichts - in meiner ganzen Arbeit. Ich wehre mich. Und ich will auch, dass andere keine Angst haben.
STANDARD: Ist Freisein von Angst ein Bildungsziel?
Wagenhofer: Es würde vieles besser laufen in unserer Gesellschaft, wenn wir frei denkende Individuen hätten, die sich den Luxus einer eigenen Meinung leisten. Die keine Angst haben, etwas Falsches zu sagen. Das beste Beispiel dafür, was Bildung nicht sein soll, ist Spanien mit 55 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Darunter sind extrem viele Akademiker. Da sieht man diese Fehlbildung. Jetzt, wo das System zusammengebrochen ist, können die nicht aus sich selbst schöpfen. Dabei geht ja die Welt nicht unter. Es war ja keine Atomkatastrophe in Spanien. Die Sonne scheint noch immer, die Ressourcen sind auch da. Nur, man müsste jetzt ein neues System schaffen. Offensichtlich geht das nur so dramatisch.
STANDARD: Fehlt in Österreich diese Dramatik zur Veränderung?
Wagenhofer: Bei uns streiten wir über ein Lehrerdienstrecht. Wenn es eine Katastrophe gibt, ist das Lehrerdienstrecht aber nicht mehr angesagt.
Erwin Wagenhofer, geboren 1961, ist Dokumentarfilmer und wurde vor allem durch "We Feed the World" bekannt. In seinem neuen Film "Alphabet" beschäftigt er sich mit Bildung. Der Filmemacher zeichnet den Istzustand eines globales Systems in der Krise. Es seien Verlustängste, die das Bildungssystem kennzeichnen, und ein Mangel an Kreativität. Wagenhofer begleitet junge Unternehmensberater bei einem Workshop "CEO of the future", fährt mit Pisa-Chef Andreas Schleicher nach China, spricht mit Hirnforscher Gerald Hüther. Im Zentrum steht die Familie Stern. Arno Stern entwickelte in Frankreich den "Malort", wo Menschen abgeschirmt und ohne Vorgaben malen können. Sohn André wuchs ohne Schulbildung auf. Und wirkt glücklich. "Alphabet - Angst oder Liebe" ist ab 11. Oktober im Kino. Im Ecowin-Verlag erscheint auch ein Buch zum Film.
Link
Homepage zum Film "Alphabet"
aus Die Presse, Wien, 28. 9. 2013
Trilogie der Erschöpfung: „Es braucht ein Umdenken“
Mit seinem neuen Dokumentarfilm „Alphabet“ seziert Regisseur Erwin Wagenhofer unser Bildungssystem. Und fordert ein radikales Umdenken.
Von Köksal Baltaci
Ein Kämpfer, ein Engagierter, ein Suchender. Nach der Nahrungsmittelindustrie in „We Feed the World“ und dem Finanzsystem in „Let's Make Money“ widmet sich Filmemacher Erwin Wagenhofer in seiner neuen Dokumentation „Alphabet“ (Kinostart: 11. Oktober) dem Komplex Bildung. Darin plädiert der 52-Jährige für ein grundsätzliches Überdenken des Bildungssystems. „Wir können uns als Erwachsene gar nicht vorstellen, dass Kinder keiner Belehrungen bedürfen. Dass sie alles, was sie brauchen, bei der Geburt schon haben. Sie müssen ihre Begabungen nur entfalten können“, sagt Wagenhofer. „Alphabet“ sei ein Film über Haltung. „Aber es gibt keinen Unterricht zu Haltung. Haltung muss man einnehmen.“
So stellt der Regisseur beispielsweise den Leistungsdruck an deutschen Schulen dem französischen Pädagogen Arno Stern gegenüber, der sich dagegen verwehrt, Kinder „nach Programm“ zu erziehen. „Was weiß denn die Schule von den wahren Bedürfnissen der Kinder?“, meint Stern zu Beginn des Films. Auch sein Sohn Andre kommt zu Wort – er wuchs ohne Schul- oder Hausunterricht auf und erwarb sich seine Fähigkeiten durch selbstbestimmtes Lernen quasi selbst.
Ganz im Gegenteil zu Wagenhofer, der einen Gutteil der Sparten des Filmgeschäfts durchlief und eine technisch fundierte Ausbildung absolvierte – stets im Bestreben, neue Ausdrucksformen und Betätigungsfelder zu finden. Nach der Matura in Waidhofen an der Ybbs besuchte er das Technologische Gewerbemuseum in Wien und schloss als Elektro- und Nachrichtentechniker ab. Daran schloss eine dreijährige Tätigkeit bei Philips Österreich in der Entwicklungsabteilung Video an.
Erste Schritte ins Filmgeschäft
Zugleich begann er damals seine künstlerische Arbeit und realisierte erste Kurzspielfilme. In diese Zeit fallen Streifen wie „Endstation normal“ (1981), „Der stumme Frühling“ (1982) oder „Das Loch“ (1983). Danach erfolgte der eigentliche Wechsel ins Filmgeschäft, als Wagenhofer im ORF als Regie- und Kameraassistent zu arbeiten begann.
Seine Tätigkeit als freischaffender Filmemacher startete schließlich 1987. Dieser breite Einblick in das Geschäft prägt ihn bis heute. „Ich bin kein Spezialist, ich fühle mich auch nicht als Regisseur – ich bin ein Filmer. Mein Opa war ein Schuhmacher, und er hat auch nicht nur schwarze Männerhalbschuhe gemacht“, beschreibt er sein Berufsbild.
Die Kinoleinwand entdeckte Wagenhofer erstmals 2005 mit seiner abendfüllenden Dokumentation „We Feed the World“. Mit mehr als 200.000 Zuschauern in Österreich und zahlreichen Festivalerfolgen gehört der Essay über die Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion zu den erfolgreichsten heimischen Dokumentarfilmen überhaupt. Auch sein Nachfolger „Let's Make Money“, der 2008 das globale Finanzsystem und seine desaströsen Auswirkungen auf Gesellschaften, Löhne und die Moral beleuchtete, war mit rund 200.000 Besuchern ein herausragender Erfolg. Spätestens mit dieser Arbeit etablierte sich der Regisseur als zeitgeistkritischer Denker, der zugleich den Humor nicht vernachlässigt. „Ich glaube, dass Humor eine sehr ernste Angelegenheit ist. Wenn wir alles ernst nehmen würden, müssten wir uns jeden Tag entleiben“, so Wagenhofer. Diese Doppelcharakteristik kennzeichnet auch seinen Spielfilm „Black Brown White“ (2011), in dem das Schlepperwesen und die „Festung Europa“ porträtiert wird.
Mit „Alphabet“ will er nun einen „kleinen Beitrag leisten, damit wir den ersten Schritt aus unserem Gefängnis machen“. Wobei die Tür schon offen sei. „Unsere Gesellschaft hat sich erschöpft, daher bezeichne ich meine drei Dokumentationen auch als ,Trilogie der Erschöpfung‘. Es braucht ein Umdenken, eine Veränderung“, fordert Wagenhofer. „In Kriegszeiten geht das schnell. Die Herausforderung ist, die Veränderung in Friedens- und Wohlstandszeiten herbeizuführen, um irgendwann eine Hochkultur zu werden. Denn noch sind wir das nicht.“
Übrigens: Zeitgleich zum Kinostart erscheint auch das gleichnamige Buch im Verlag Ecowin.
Zur Person
Querdenker. Erwin
Wagenhofer wurde 1961 in Amstetten geboren und ließ sich nach der
Matura zum Elektro- und Nachrichtentechniker ausbilden. 1987 begann
seine Karriere als freischaffender Filmemacher. Der Durchbruch gelang
ihm 2005 mit seiner ersten abendfüllenden Dokumentation „We Feed the
World“. 2008 folgte „Let's Make Money“, drei Jahre später der Spielfilm
„Black Brown White“ mit Fritz Karl in der Hauptrolle. Mit seiner neuen
Dokumentation „Alphabet“ (Kinostart: 11. Oktober) komplettiert
Wagenhofer seine, wie er sagt, „Trilogie der Erschöpfung“.