"Mädchen zahlen einen hohen Preis"
Während
Buben zu Problemfällen stilisiert werden, hat die Psychologin Elisabeth
Raffauf einen Ratgeber für Eltern von Mädchen geschrieben.
von Rosa Schmidt-Vierthaler
von Rosa Schmidt-Vierthaler
DiePresse.com: Derzeit wird allerorts über Buben gesprochen: Als Problemkinder, als Bildungsverlierer. Sie dagegen haben einen Elternratgeber für Mädchen geschrieben. Warum?
Elisabeth Raffauf: Weil man das Gefühl hat, die Mädchen sind vergessen worden. Man dachte, sie hätten alles, um sie muss man sich nun nicht mehr kümmern. Nach außen sieht die Bilanz der Mädchen auch gut aus, sie sind die Bildungsgewinnerinnen, sie sind lernwillig und kooperativ. Aber dafür zahlen sie einen hohen Preis.
Was ist der Preis?
Sie wollen alles so perfekt machen, dass sie nicht mehr sie selber sein können. Das Selbstbewusstsein ist in vielen Fällen nur aufgesetzt: Sie wollen so sein, wie die Erwachsenen sie haben wollen und später so, wie die Vorbilder im Fernsehen. Mädchen funktionieren gut. Für sich selbst wissen sie aber, dass sie manchmal auch kompliziert und schwierig sind und dass sie Gefühle haben, mit denen sie nicht so richtig umzugehen wissen. Im Extremfall ist der Preis, den sie zahlen, dann eine Phase mit Selbstverletzungen und Alkohol.
Sie glauben also nicht, dass Mädchen unproblematischer sind als Burschen?
In der Beratungsstelle, in der ich arbeite, werden häufiger Jungen „vorgeführt“ und es wird häufiger über Jungen geklagt. Das liegt aber daran, dass die Jungen nach außen auffälliger sind. Die Mädchen stören die Eltern nicht, sie drangsalieren sich eher selbst. Letztendlich, glaube ich, haben beide Geschlechter ihre Probleme. Sie sind nur verschieden oder werden verschieden beurteilt.
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Welche Probleme treten noch häufig auf?
Abgesehen vom Respekt sind bei Mädchen natürlich auch „Schönsein“ und „Freundinnen“ große Themen. Häufig beschäftigt Eltern, dass ihr Töchter sich unpassend anziehen und mit ganz kurzen Röcken aus dem Haus gehen. Jungen Mädchen ist gar nicht klar, welche Wirkung sie auf erwachsene Männer haben können. In diesem Fall kann man sagen: „Ich weiß, dass du dich ausprobierst. Aber so kannst du nicht gehen, du bist meine Tochter, ich muss dich schützen.“ Wichtig ist der Ton. Es ist normal, dass sich Kinder in der Pubertät ausprobieren. Meine Aufgabe ist es zu sagen: „Das hat andere Konsequenzen, als du dir denkst.“
Haben Väter andere Probleme als Mütter?
In den Gruppen sind eigentlich immer weniger Väter als Mütter. Es ist häufig so, dass die Mütter mehr machen, aber auch kontrollierender sind und die Väter etwas Entspanntes hineinbringen. Es gibt natürlich auch Väter, die sich rausziehen, und das ist eine Katastrophe.
Elisabeth Raffauf ist Diplom-Psychologin, arbeitet in einer Erziehungsberatungsstelle in Köln und leitet Gruppen für Eltern pubertierender Jugendlicher. Mit der Aufklärungsreihe "Herzfunk" war sie 2012 für den Deutschen Radiopreis nominiert. Beim Kinderkanal Ki.Ka ist sie als Psychologin in der Sendereihe "Kummerkasten" zu sehen. Raffauf leitet in und um Köln Gruppen für Eltern pubertierender Kinder und Gruppen für Mädchen zwischen 12 und 18 Jahren. Im September ist ihr "MädchenBuch" erschienen.
Erziehen die Mütter der Mittelschicht zu viel, machen sie zu viele Vorgaben?
Es gibt sowohl überbehütende Eltern als auch Eltern, die keine Zeit haben und an den Gedanken des Kindes nicht wirklich interessiert sind. Oft hat das Kind eine Stellvertreterfunktion, manchmal engagieren sich die Eltern sich für ihr eigenes Bild von dem, wie ihr Kind werden soll. Manche Eltern verlangen auch zu viel, indem sie sagen: Mein Kind muss mich doch auch mal verstehen. Aber es ist nicht die Aufgabe der Kinder, die Eltern zu verstehen. Die Eltern sind erwachsen.
Was machen Sie in so einem Fall?
Wenn ein Kind die Eltern attackiert, sagen wir: "Nehmen Sie es nicht persönlich. Versuchen Sie, souverän zu sein." Das gelingt natürlich nicht immer, aber manchmal vielleicht. Es ist wichtig, dass Eltern sich nicht angegriffen fühlen von der Art des Erwachsenwerdens ihrer Kinder. Sie sollen sich sagen: Das ist in der Pubertät so, die Kinder müssen ausprobieren, was geht: Wo ist die Grenze? Wann flippen die Eltern endlich aus? Die Aufgabe der Eltern ist es, erwachsen zu sein und die Kinder zu begleiten, in manchen Fällen Stopp zu sagen - aber in anderen auch großzügig zu sein. Man sollte nicht mit den Kindern in den Kampf gehen um zu beweisen, wer hier der Stärkere ist. Da können die Kinder nur verlieren. Und wenn sie gewinnen, haben sie auch verloren.
Sie sprechen im Buch auch häufig Geschlechterklischees an. Haben Sie einen echten Wandel in den Geschlechterrollen wahrgenommen?
In den Mädchengruppen sind viele forscher, wie wir in unseren Gruppen sehen. Beim Komasaufen gibt es mehr Mädchen als Jungen, die in der Klinik landen. Sie wollen mithalten mit den Jungs und auch so sein wie sie. Die Mädchen müssen nun offenbar auch "cool sein".
Sie schreiben in ihrem Buch: „Vieles ist heute früher als früher, aber nicht alles.“ Was hat sich denn verschoben?
Die körperliche Entwicklung findet früher statt und die erste Periode ist nach vorne verschoben. Es gibt Mädchen, die schon in der Grundschule ihre erste Periode haben, das ist für sie sehr schwierig. Die äußere Erscheinung wird natürlich auch durch die Kleidung und das Make-Up beeinflusst. Manche Eltern kaufen für ihre Kinder sehr früh Erwachsenenkleidung. Andererseits gibt es auch viele Mädchen, die sehr früh sehr selbständig sind, die viel alleine machen.
Ist die Frage „Bin ich schön“ für Mädchen eine der wichtigsten überhaupt?
Ja, schon, denn sie erfahren dafür viel Aufmerksamkeit. Viele denken sich, wenn sie schön sind, sind sie auch erfolgreich, beliebt und noch vieles mehr. Wir haben übergewichtige Mädchen in den Gruppen erlebt, die sagten: Wenn ich nur abnehmen würde, wäre ich glücklich. Dann wäre alles gut.
Sind Mädchen unsicherer, weil sie so viel Bestätigung brauchen?
Ich glaube, dass beide Geschlechter etwa zwischen elf und 14 Jahren eine Phase haben, die sehr, sehr wackelig ist. Bei manchen Mädchen merkt man das nicht, weil sie nach außen hin sehr forsch auftreten. Aber sie sind trotzdem oft ein Häufchen Elend und trauen sich nicht, ihre Freundin anzurufen, weil sie denken, die mag sie nicht mehr. Das Selbstbewusstsein in dieser Zeit ist sehr fragil, dadurch sind viele Mädchen auch sehr beeinflussbar.
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