Donnerstag, 5. September 2013

Umrisse eines romantischen Erziehungsprogramms.



Unter dem Titel Alles wandelt sich, der Humanismus bleibt druckte am 27. März 2002 die Welt den Vortrag ab, den der damalige Staatsminister im Bundeskanzleramt für Angelegenheiten der Kultur und der Medien, Prof. Julian Nida-Rümelin, drei Tage zuvor zur Eröffnung des 18. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft gehalten hatte. Darin beklagte er die „technokratische Verkürzung“ der pädagogischen Debatten der vergangenen Jahrzehnte, die im „Dickicht der Institutionen“ stecken geblieben sei, und rief zu einer „inhaltlichen Neubestimmung“ auf dem Boden einer „kulturellen Leitidee“ auf – der humanistischen Bildungskonzeption. Als deren aktuelle Schwerpunkte nannte er: Selbstbestimmung als Sinngebung des eigenen Lebens, ästhetische Bildung, Interaktion und Verständigung sowie Integration und „Umgang mit Differenz“.

Berlin, den 30. 3. 2002
Sehr geehrter Herr Professor Nida-Rümelin,

zu Ihrer Rede vor der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft über die Aktualität der humani- stischen Bildungsidee mächte ich Sie und uns herzlich beglückwünschen. Endlich erinnert einer daran, daß zu den Dingen der Pädagogik nicht dem Erziehungswissenschaftler, sondern dem Philosophen das erste Wort gehört, weil’s um das Was geht und nicht ums Wie. Eine inhaltliche Neubestimmung fordern Sie, und dafür ist es höchste Zeit. Doch nicht besser kann man einen Text würdigen als durch Kritik. Kritik heißt in diesem Fall: Zuspitzung. 

Nicht nur als Philosoph haben Sie zu den Erziehungswissenschaftlern geredet, sondern auch als Regierungs- vertreter, und da war Zuspitzung nicht oberstes Gebot. Da mag es Ihnen recht sein, wenn das Zuspitzen ein andrer übernimmt. Zuspitzen heißt in diesem wie in vielen andern Fällen: die nebeneinander liegenden Elemente zu einander ins Verhältnis setzen.

Eingangs sprechen Sie den historischen Zusammenhang zwischen dem deutschen Bildungsbegriff und der Verspätung der deutschen Nationwerdung an. Tatsächlich ist die Entgegensetzung von Bildung und dem Lernen nützlicher Realien für sozialölkonomische Zwecke eine deutsche Erfindung. Sie wurde zur identitätsstiftenden nationalen Leitidee, denn eine solche brauchten wir. Die andern großen Nationen mußten ihre Identität nicht aus der Reflexion konstruieren, sie konnten sie anschauen: in einem lebendigen verbindlichen Menschenbild, in dessen charakteristischen Zügen die Spuren der gemeinsamen Geschichte lesbar sind. Der englische gentleman personi- fiziert die historische Vereinigung von Adel und Großbürgertum zur typisch britischen Oligarchie, im französischen citoyen verbinden sich der plebejische Stolz des Sansculotten mit römischer Staatsvergötzung, der amerikanische pioneer vereinigt den beengten Blick auf den nächstliegenden Vorteil mit einer kontinentalen Weite des Horizonts. Die tausendfach zersplitterten Deutschen haben als Nationaltype lediglich den Michel  hervorgebracht, und schämten sich seiner: Er mußte sich erst einmal bilden!

Das sollte ihm der Deutsche Idealismus besorgen. Dieser Titel verbirgt zwei durchaus entgegengesetzte Richtungen. Historisch wirksam wurde die restaurative Spätform der Schelling und Hegel, eine positive Metaphysik der objektiven Ideen und Begriffe. Die prägte das humanistische Bildungssystem, um das Deutschland im 19. Jahrhundert von seinen Nachbarn beneidet wurde. Doch positive Ideen lassen sich lernen wie eine beliebige Realie, und einer Laufbahn im höheren Staatsdienst konnten sie durchaus nützlich sein. So war denn das typische Produkt dieses Systems zum Ende des Jahrhunderts nicht das eigenverantwortliche Subjekt, sondern der von Nietzsche gegeißelte Bildungsphilister, der sich so gut mit dem preußischen Untertan vertrug.

Die frühe, romantisch-revolutionäre Richtung des Idealismus, die Kritische Philosophie von Kant und Fichte, war in der Restauration untergegangen. Aus ihr hatte aber die Bildungsidee ihr Pathos gewonnen! Das erste Dokument der neuen deutschen Nationalbewegung waren Fichtes Reden an die deutsche Nation – und die handelten nicht vom Aufstand gegen Napoleon, sondern vom ‚Plan einer nationalen Bildungsanstalt’. (Die Landschulheim-Bewegung des 20. Jahrhunderts geht unmittelbar auf Fichtes Reden zurück.) Anfang und Ende der Kritischen Philosophie – und der Bildungs-Idee – ist das sich selbst bestimmende Subjekt. Der Satz, ‚Deutschsein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun’, war keine Tatsachenbehauptung, sondern ein Postulat: So soll es sein – nur wenn die Deutschen freie Menschen werden, können sie sich zur Nation bilden wie andere Völker (ein Gedanke, den Marx auf das Proletariat übertragen hat).

Das Prinzip der selbstbestimmten Persönlickeit ist nicht beiläufig mit der Idee ästhetischer Bildung verbunden, sondern historisch – und logisch. Dreh- und Angelpunkt der Kant’schen Kritik ist das Konstrukt des transzendentalen Subjekts. Doch hat er es nicht, wie etwa Descartes sein cogito, aus der Reflexion gewonnen, sondern aus erlebter Anschauung. Freilich nicht aus seiner eignen. Nachdem er in Shaftesburys Ästhetischer Metaphysik seinen archimedischen Punkt gesucht hatte, war ihm, wie so vielen Zeitgenossen, bei Rousseau das Licht aufgegangen: „Kein materielles Wesen ist durch sich selbst tätig; ich aber bin es. Man kann es mir bestreiten – ich fühle es, und dieses Gefühl, das zu mir spricht, ist stärker als die Vernunft, die es bestreitet“, sagt der Savoyische Vikar in Rousseaus Émile.

Ästhetisch ist dieses Erlebnis, weil es das Gefühl seiner Gewißheit unmittelbar bei sich führt, vor aller Reflexion, und analytischer Rekonstruktion nicht zugänglich. In Fichtes Wissenschaftslehre tritt es in der Figur der ‚Tathandlung’ wieder auf, und die Energie, die als ihr zu Grunde liegend gedacht wird, nennt er ‚produktive Einbildungskraft’. Friedrich Schiller hat die Wissenschaftslehre, als er sie eben druckfrisch in den Händen hielt, fast wörtlich in seine Ästhetische Erziehung des Menschen einbauen können (ab dem 19. Brief).

Die Zeitumstände – der Atheismusstreit – haben Fichte verführt, das Feld, auf dem die Einbildungskraft vorzüglich produktiv ist, als das Ethische zu bestimmen. Doch Stein des Anstoßes war gewesen, daß er den ‚Grund für unsern Glauben an eine göttliche Weltregierung’ in einem Bild ausgemacht haben wollte – in einem sinnbildlichen Ereignis, wo das Wahre, das Gute und das Schöne allerdings in Eins fallen. Sein (abtrünniger) Schüler Joh. Fr. Herbart hat die radikale Konsequenz daraus gezogen. Er nennt das ganze Reich der Praktischen Philosophie schlichtweg Ästhetik, und was wir landläufig Ethik nennen, gilt ihm nur als ein Anwendungsfall derselben. Moralität heißt bei ihm folgerichtig ‚der sittliche Geschmack’.

Herbart war der Begründer der wissenschaftlichen Allgemeinen Pädadogik. Aber geprägt hat er sie erst, nachdem ihn die selbsternannten ‘Herbartianer’ auf den Kopf gestellt hatten! Er selbst hatte „die Hauptaufgabe der Pädagogik“ als „die ästhetische Darstellung der Welt“ bestimmt, doch bei den Herbartianern hieß die Hauptaufgabe der Pädagogik: büffeln. Als die Jugendbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts zum Sturm auf die Lernschule blies – die Landschulheim-Bewegung vorneweg -, machte sie bizarrerweise gerade Herbart zu ihrem Buhmann.

Die deutsche Bildungsidee, auf die wir uns so lange so viel zugute gehalten haben, hat nicht erst mit Georg Picht und Theodor Litt vor dem Nutzen kapituliert, sondern schon mit der Restauration und dem Biedermeier. Solange ihr die industrielle Revolution und der Triumph des Fabriksystems noch bevorstanden, konnte sie sich nicht behaupten. Sie mußte utilitär versanden. Es galten Verwertbarkeit und Planung. Doch heut am Ende der industriellen Zivilisation, am Anfang der „Mediengesellschaft“, wo produktive Einbildungskraft und Wagemut selbst im Krämersinn nützlich werden, erhält sie unverhofft ihre zweite Chance. Aber sicher nicht in ihrer metaphysisch-objektivistischen Verfallsform, sondern als das kritisch-romantische Original; als ästhetische Bildung.

Das heißt nicht bloß: mehr Kunst- und Musikstunden. Die inhaltliche Neubestimmung, die Sie fordern, muß eine Neubegründung der gesamten Pädagogik werden – auf der Einsicht, daß allein das Ästhetische das Feld ist, welches die Reflexion zu bestellen hat. Das ist kein Sowohl-als-auch, sondern ein Um-zu.

In der „entstandardisierten“ Risikogesellschaft wird Identität ein akuteres Problem denn je. Persönlichkeit, Charakter, Selbstheit ist keine dem individuellen Leben vorausgesetzte Entelechie. Identität muß sich bilden – in der Angerührtheit vom Erlebnis der Andersheit des Andern. Und das ist der ästhetische Elementarakt! Stoff und Medium persönlicher Bildung ist der, die, das Fremde – insofern ich ihn, sie, es von mir unterscheide. Das geschieht in der Anschauung, nicht erst in der Reflexion – denn es ist das, worauf alle Reflexion sich bezieht.

Pädagoge ist nicht schon der Didaktiker, der die Information X aus dem Speicher a in den Speicher b überführt. Ein Pädagoge ist ein Seelenfänger, und Seelen fängt man nicht, wenn man sie jagt, sondern indem man sie verführt: zum Erleben der Selbstheit in der Befremdung durch den Andern. Er verwickelt seinen Zögling in einen Roman, den der selber zu Ende bringen muß, und das ist nicht die Erfüllung eines Programms, sondern ein Sprung ins Ungewisse. Was passiert im Roman? Ein Bild ‚zeichnet sich ab’. Das Bild einer Welt, darin das Bild eines Ich. Wie sie in einander fließen und sich gegen einander absetzen, das macht die Handlung aus. Eigentlich ist jeder Roman ein „Bildungs“-Roman, nur eben nicht immer ein gelungener. Und weil doch Bildung immer ein Roman ist, spricht man besser von einer romantischen Idee als von einer humanistischen.

Sich ein Bild machen, das heißt nicht nur: anschauen, sondern auch: es als bleibend festhalten – bestimmen als dieses und kein anderes. Das ist die Arbeit der Reflexion, der kognitiven Vermögen. Ästhetische Bildung ist darum nicht Konkurrent der Verstandesbildung, sondern, im Gegenteil, ihre Begründung. Identität beginnt als erlebte Gewißheit der Selbsttätigkeit. Aber sie bewährt sich als Bewußtsein.

Daß die Deutschen mit ihrer schon immer und nach Auschwitz erst recht gefährdeten nationalen Identität besondere Mühe haben, das Fremde in ihrer Mitte zu ‚integrieren’, wen kann es wundern? Doch integrieren heißt nicht angleichen, nicht vermengen bis zur Unun- terscheidbarkeit, wo alles gleich-gilt. Vielmehr ist ja die Andersheit des Andern die Gewähr meiner Identität. Doch nur unter dieser Prämisse: dem normativen Rang der Person. Das ist das spezifisch abendländische Axiom, das wir mit unsern Nachbarn teilen. Es macht unsere gemeinsame Kultur zwar einerseits universalistisch, aber scheidet sie zugleich von allen anderen. Wir haben sie noch ein bißchen nötiger als die Nachbarn, und so liegt die Hoffnung der Deutschen auf eine nationale Identität darin, daß wir noch ein bißchen „westlicher“ werden als jene. Die Voraussetzung dafür hieße Bildung.

Sehr geehrter Herr Professor Nida-Rümelin, ich hoffe, Sie werden sich weiterhin nicht nur als Philosoph, sondern auch als Staatsminister für die Kultur in die bildungspolitischen Debatten einmischen!

Mit besten Grüßen,
Ihr Jochen Ebmeier,
Freunde des Landschulheims Fürstlich Drehna e. V.

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