Leviathan, oder Die Mediatisierung der Kindheit

durch Pädagogik.

oder
Leviathan bei den Kleinen
 
I. Vom Verschwinden der Kindheit
II. Eltern und Erzieher oder Die pädagogische Mystifikation
III. Man kann nicht nicht-erziehen
IV. Man kann nicht erziehen
V. Eine Alltagskunst
VI. Lernen oder sich-bilden?
VII. Das Wie, das Was und die Were
VIII. Flegeljahre und Kindergesellschaft oder Die wahren Antipädagogen
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I: Verschwindet die Kindheit?



Ein großes deutsches Publikumsmagazin veröffentlichte vor nicht langer Zeit eine umfängliche Titelgeschichte, die in kräftigen, anschaulichen Worten das “Verschwinden der Kindheit” aus unseren Städten, Straßen, Wäldern, Feldern und Fluren beklagte. So sehr man ihr im Land des PISA-Krakeels jede denkbare Resonanz wünschen musste, hatte die Darstellung an einer bemerkenswerten Stelle ein Loch, und das erklärt vielleicht, warum sie so wenig gefunden hat.

Sie verschwieg nämlich den Beitrag der pädagogischen Zunft zu diesem traurigen Ergebnis.

Kindheitsbilder

Das Bild, das sich die Menschen vom Kindesalter gemacht haben, hat sich im Laufe unserer Geschichte immer wieder gewandelt. Aber nicht immer stetig und Schrittchen für Schrittchen. Es gab eine Zäsur. Der Begriff “das Kind” ist eine Schöpfung der Moderne. Vorher gab es nicht einmal das Wort. Im Mittelhochdeutschen bezeichnet daz kint ein Verwandtschaftsverhältnis und hat mit dem Lebensalter gar nichts zu tun. Dann – etwa in Wolfram von Eschenbachs Parzival – heißt kint ein jeder, der jünger ist als der andere, auch wenn er dreißig, vierzig ist.

Aber nicht das Bild des Kindes ist durch die moderne, bürgerliche Gesellschaft zunächst neu entworfen worden. Es ist ein Gegenbild zu dem Erwachsenen. Das ist der arbeitsame, um seinen Erfolg im Leben ernstlich besorgte, eigenverantwortliche Berufsmensch. Kind ist, wer noch nicht erwachsen ist. Zunächst eine negative Bestimmung. Eine positive Bedeutung kommt mit Rousseau und den Romantikern hin- zu: Das Kind ist auch das, was der Erwachsene nicht mehr ist – und vermisst.

Seither wird über Kinder unter doppeltem Vorzeichen gesprochen: Es soll werden, wie die Erwachsenen sind. Und es soll sein können, was es selber ist – den Erwachsenen würde sonst etwas fehlen in ihrem Leben. Der erste Standpunkt ist der von Industrie, Erwerbswelt und Polizei. Der zweiten Meinung neigen die privaten Alltagsmenschen zu, Eltern, Onkel und Tanten und die Nachbarn.

Die pädagogische Erwerbsweise

Eine perfide Mittelstellung nimmt der Pädagogenstand ein, der aus der bürgerlichen Gesellschaft “erwachsen” ist: Das Kind soll sein, wie es ist, damit er es so machen kann, wie die Erwachsenen sind; und dabei seinen Lebensunterhalt verdienen. Je mehr er die Kinder infantilisiert, in seinen Anstalten von der Welt isoliert, behütet und entmächtigt, umso sicherer kann er die steuerzahlenden Erwachsenen von seiner Unverzichtbarkeit überzeugen. Die Erwerbspädagogen haben sich inzwischen selbst den Eltern als ihre Zensoren und Wegweiser aufgedrängt und sich zum Vorbild aufgeworfen: Einen “Führerschein für Eltern” forderte Klaus Hurrelmann – zertifiziert von erwerbsmäßigen Pädagogen, von wem sonst? Dass die Explosion der pädagogischen Berufe in den siebziger Jahren im Zeichen der Antiautorität ihren Anfang nahm, macht die Perfidie sinnfällig. Die Folgen beschreibt der “Stern” in starken Farben.

Doch nichts an dieser Entwicklung war selbstverständlich. So recht begonnen hat sie erst vor 290 Jahren: Da wurde – hier bei uns in Preußen! – zum ersten Mal in einem Land der Erde die allgemeine Schulpflicht eingeführt. Denn der berüchtigte Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. wünschte, dass seine Rekruten ihren Katechismus und das Dienstreglement selber lesen könnten. Es war aber mehr als nur eine Alphabetisierungs-Maßnahme, wenn er es auch nicht ahnte. Ebenfalls zum ersten Mal in der Welt waren nun nämlich Kinder nicht mehr das alleinige Privateigentum von Eltern, Gutsherren und Lehrmeistern, sondern erhielten eine eigene gesellschaftliche Stellung zugewiesen. Noch nicht als Subjekte ihrer Lebensführung, sondern als Objekte der Obrigkeit, aber immerhin.

Es brauchte noch weitere hundert Jahre mehr, dass Pädagogik in den Rang einer Wissenschaft erhoben wurde. Man mag Fragen, ob ihr das am Ende bekommen ist; doch zunächst war es eine gewaltige Aufwertung der Kindheit, als 1806 Johann Friedrich Herbarts “Allgemeine Pädagogik” erschien. Sie gilt als Gründungsakte der Erziehungswissenschaften. Freilich war Herbart zeitlebens ein erklärter Gegner der Schule. Und zwar aus denselben Gründen, die heute noch gelten.

Die Bürokratisierung der Welt…
 
Jedes Kind bräuchte einen Lehrer, der auf seine ganz eigenen Möglichkeiten und Lebensumstände eingeht. Der Unterricht in einem großen Klassenverband wird sich immer an einem Durchschnitt orientieren müssen – und zwangsläufig das Mittelmaß belohnen (der Grund, warum Mädchen schon immer bessere Schüler waren als Jungen). Individuelle Abweichungen werden dis- kriminiert. Zweitens fördert die künstliche massenhafte Zusammenballung vieler Kinder nicht deren gute Eigenschaften, sondern ihre schlechten, die sie bekanntlich auch haben. Folglich ist der Lehrer viel zu sehr von Ordnungs- und Disziplinierungsarbeiten in Anspruch genommen, um sich seiner pädagogischen Aufgabe angemessen zu widmen. Schließlich, aber nicht zuletzt neigen die Institution Schule und der Berufsstand, den sie hervorbringt, dazu, ihre besondern Eigeninteressen zu entwickeln, die den Erziehungszwecken regelmäßig in die Quere kommen.

Dabei hat Herbart nicht ahnen können, welche Explosion die pädagogische Erwerbsweise im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts durchmachen würde. Wenn die Ausdehnung der Öffentlichen Dienste immer tiefer in den Gesellschaftskörper hinein das probate Mittel zum wohlfahrtsstaatlichen Streamlining des Kapitalismus – und also seiner Behauptung gegen die Weltrevolution war, so waren Bildungs- und Erziehungsaufgaben der ausgezeichnete Ort, um die intellektuell regsamsten und sozial dynamischsten Elemente der unteren Klassen – namentlich des untergehenden klassischen Kleinbürgertums – als eine ausgehaltene Intelligentsia zweiter Wahl, als ein prolétariat impérial an Vater Staats Futterkrippe zu binden. Im Prozess der Bürokratisierung der Welt waren die Pädagogiker der Stoßtrupp.

Das allein macht deutlich, warum jede flickschusternde Instandhaltungsrenovierung am bestehenden Bildungssystem Augenwischerei bleiben muss. Das Problem ist überhaupt kein ‘pädagogisches’. Es ist ein sozial-, ja ein ordnungspolitisches. Es ist das Ausufern der verwaltenden (Un)Tätigkeiten in die letzten Winkel des privaten Lebens hinein. “Leviathan bei den Kleinen” müsste eine empirische Beschreibung der heutigen Kindheit, wie der “Stern” sie begonnen hat, überschrieben sein.

… tabu!

Allerdings ist auch heute noch nicht klar, was die Alternative wäre. Schließlich hat ja auch Herbart die Kröte schlucken und die Schule als ein ‘unvermeidliches Übel’ akzeptieren müssen. Aber das ist, nicht wahr, ein ganz anderer Ausgangspunkt, um über das Verschwinden der Kindheit nachzudenken, als das kaninchenmäßige Starren auf die Institution Schule. Freilich hängen da massenhaft Arbeitsplätze dran – aber das ist ja gerade der härteste Kern des Problems! Aber er ist tabu.

Und nun stelle man sich vor, die behördliche Erfassung und fachmäßige Verfassung der Kindheit – oder dessen, was davon übrig bleibt – würde nun auch noch auf den ganzen Tag ausgedehnt! Eben hatte man den deutschen Pädagogikern bescheinigt: Eure Schulen taugen nicht viel – und prompt fordern sie (noch) mehr Macht!
 
Aber die Geschichte hat ihre eigenen Ironien. Das totalitäre Wuchern der bürokratischen Lebensweise widerspricht inzwischen nicht nur dem gesunden Menschenverstand und der Nächstenliebe der Alltagsleute. Auch die – computerisierte – Industrie und das Erwerbsleben brau chen heute immer weniger den räson- nierenden, vorsich tig den Vorteil be- rechnenden und ge sellschaftlich kor- rekten Sachbear- beiter, sondern – wieder – den frohen, neugierigen, wagemutigen Eroberer, der zum Unternehmer taugt, weil er als Kind die Freuden des Unternehmens kennen gelernt hat. Nicht die weitere, womöglich ganztägige Verschulung, sondern die Entpädagogisierung der Kindheit ist daher das Gebot der Zeit.

 

II: Eltern und Erzieher, oder Die pädagogische Mystifikation


 
In einer großen Publikumszeitschrift vertrat der Bielfelder Erziehungssoziologe Klaus Hurrelmann seinerzeit die Forderung nach einem „Führerschein für Eltern“: Staatliche Leistungen an Eltern sollten davon abhängig gemacht werden, dass diese sich einer fachlichen Prüfung durch professionelle Pädagogen unterziehen.*
 
Was aber befähigt den Berufspädagogen, die Leistung von Eltern zu beurteilen?
 
Die pädagogische Mystifikation
 
Von den Eltern unterscheidet ihn nur dies: Er hat über Jahrzehnte mit dutzenden und hunderten von Kindern zu tun; jene über einige Jahre mit zwei oder drei, aber heut meistens nur mit einem: Der Pädagoge erlebt mehr. Er hat zu ihnen ein eher sachliches Verhältnis, jene haben ein eher leidenschaftliches. Er hat öfter Gelegenheit zu rein verstandesmäßigen Erwägungen über dies Verhältnis als jene, und er hat Kollegen, die ihn beobachten; jene haben Nachbarn und Verwandte.
 
Das sind alles quantitative Unterschiede und keine qualitativen. Der Berufspädagoge hat kein anderes Wissen über Kinder als die Eltern, sondern allenfalls mehr davon.
 
Dass aber sein Verhältnis ein eher sachliches ist und dass er mehr erlebt, ist eine qualitative Minderung. Die lange Dauer und die Vielzahl seiner Erlebnisse trübt seinen Blick und täuscht objektive Allgemeinheit vor, wo nur subjektive Indifferenz ist. Das Verhältnis von Eltern zu Kindern mag nur fünfzehn oder sechzehn Jahre dauern; aber ihr Verhältnis zu ihren Kindern dauert von der Zeugung bis zum Tod – der einen oder der andern. Das ist kein sachliches Verhältnis, sondern ein existenzielles. Da hat einer den andern zur Welt gebracht. Dieser Sachverhalt ist unvordenklich. An den Berufsumständen des Pädagogen ist gar nichts unvordenklich, alles ist bedingt und aus äußeren Umständen irgendwann geworden – und könnte alles auch ganz anders sein. Das Verhältnis des Pädagogen zu den Kindern ist zufällig, das Verhältnis von Eltern und Kindern ist notwendig.
 
Sind Eltern „Erzieher“?


Die allgemeine Schulpflicht und die Landnahme der staatlichen Wohlfahrts- bürokratie hat diesen Unterschied kunstvoll vertuscht. Es sieht nun so aus, als seien die Pädagogen ihrerseits notwendig und könnten den Eltern irgendwas beibringen – und sie nötigenfalls ersetzen. Diese Anmaßung ist offenbar unsittlich. Sie kann nur reüssieren dank jener Urmystifikation, die der Berufsstand der Pädagogen im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts auf politischen Wegen der öffentlichen Meinung untergeschoben hat: dass nämlich die Aufgabe von Eltern die Erziehung ihrer Kinder sei; ja dass Eltern überhaupt schlechthin eine Aufgabe hätten!


Doch Elternschaft ist ein existenzielles Verhältnis und keine Aufgabe. Nämlich wenn unter Aufgabe etwas verstanden wird, was erledigt werden kann. Zwar ist in einem duftigen, blumigen, pathetischen Sinn Elternschaft natürlich eine „Aufgabe“ – aber so wie „das Leben“ selbst, nämlich eine, die nicht lösbar ist. Unter „Erziehung“ wird indes gerade eine Aufgabe verstanden, die gelöst werden kann – nur, wie man ja sieht, nicht von den Eltern; es sei denn, sie gingen bei den Pädagogen in die Lehre!
 
Das Leben ist eine Aufgabe, die nicht lösbar ist, weil sie nicht bestimmbar ist. Wenn Erziehung eine Aufgabe sein soll, die von den einen – den professionellen Fachleuten – besser gelöst werden kann als von den andern – den elterlichen Amateuren -, dann müßte sie bestimmbar sein. Kann nun die Pädagogik, die akademische oder die praktische, uns einen Begriff von Erziehung bestimmen? Natürlich nicht; da jagt eine Ausflucht die andre. Aber ebenso natürlich gibt es einen herrschenden Begriff von Erziehung; sie können ihn nur nicht aussprechen. Sie würden sich sonst ganz schön blamieren!
 
Standardisierte Arbeitskraft
 
Der Begriff der Erziehung, und übrigens selbst die Vokabel, ist eine Errungen- schaft der bürgerlichen Gesellschaft, alias Marktwirtschaft.
 
Der Markt macht „alle gleich“ und unterwirft sie einem verbindlichen Standard. Rangunterschiede darf es da nicht geben, Informationsvorsprünge besser auch nicht. „Allgemeinbildung“ wird nötig. Doch die große Masse wird durch die industrielle Produktionsweise zu Lohnarbeitern, die keine Waren auszutauschen haben, sondern lediglich ihr Arbeitsvermögen. Die standardi- sierten Arbeitsprozesse der mechanischen Fabrik verlangen von der Arbeits- kraft eine Mindestqualifikation – das, was bei Marx als „durchschnittliche, gesellschaftlich notwendige Arbeit“ vorkommt.
 
Dazu braucht man Erziehung!
 
Eine genuine, existenzielle Aufgabe von Eltern ist das nicht. Sie sind „dazu da“, ihren Kindern die Welt zu „zeigen“, auf die sie sie „gebracht“ haben, sie ihnen zu erklären, damit sie sich zurechtfinden und es ihnen dort einmal gut geht. Aber einen Auftrag, ihre Kinder für die Bedürfnisse der Gesellschaft tauglich zu machen, haben sie als Eltern nicht. Elternschaft ist nur den Kindern verpflichtet, moralisch und leidenschaftlich. Erziehung ist nicht Teil ihres notwendigen Verhältnisses.
 
Und daher musste sich die bürgerliche Gesellschaft einen Berufsstand erwerbsmäßiger Pädagogen heranziehen – aus dem an der Industrialisierung zugrunde gehenden klassischen Kleinbürgertum. In den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts boten dann die pädagogischen Berufe einen bequemen Aufstieg aus einer saturierten Arbeiterschaft in die herrschende Klasse; oder doch immerhin in deren ideologische Repräsentanz. Das ist der Kern aller pädagogischen Mysterien; das heißt, der pädagogischen Mystifikation.
 
Am Ende der Industriegesellschaft


Doch die Industriegesellschaft vergeht, die Spatzen brüllen es vom Dach. Aus der medialen Revolution geht das hervor, was Feuilletonisten die Risiko- gesellschaft nennen. Ihre Merkmale sind Individualisierung, Differenzierung, Pluralisierung. Auf dem Arbeitsmarkt wie auf dem Marktplatz der Ideen wird „Entstandardisierung“ zur (negativen) Norm. Die Anforderungen der Arbeitswelt werden immer allgemeiner, und damit unbestimm- ter. Welche die Aufgaben von Er- ziehung wären, ist seither offen. Was die Pädagogen Sinnkrise und Wer teverfall nennen, ist in Wahrheit nur ihr begründeter Zweifel an der eignen Bestimmung. Denn was sie vor den Eltern auszeichnet, ist nicht mehr positiv, sondern nur noch negativ gesetzt – als Weniger. Ihre ganze Fachlichkeit ist, dass sie’s für Geld machen statt um Gottes Lohn. Ihnen stünde Demut zu Gesicht, nicht Prahlerei. Die pädagogische Situation ist nun wieder, was sie früher war – ein persönliches Verhältnis und kein reguläres. Zu rechtfertigen wäre sie immer nur existenziell, aber nicht objektiv. Als Pädagoge muss ich mich selbst verantworten, nicht mein „Fach“, und daran hab ich genug zu tun.
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*) HörZu 25/2001

III: Man kann nicht nicht-erziehen


 
“Brauchen wir überhaupt Erziehung?” fragten die 68er. Sie sind aus der Mode gekommen. Aber ihre Themen beherrschen noch immer die Diskussion. Wenn vielleicht auch nicht mehr in den Hochschulen, so doch immer noch… im Alltag! Welche Eltern wären nicht hin- und her gerissen? Und gerieten mit Nachbarn und Verwandten nicht immer wieder in Wortgefechte!
 
Man kann nicht nicht-erziehen
 
Die Diskussion ist so mühselig und verwirrend, weil ‚erziehen’ ein Wort von bunt schillernder Bedeutung ist. Kein Wunder. Es ist ein Wort der Alltagssprache, dessen ursprünglicher Sinn etwas mit dem Züchten der Pflanzen zu tun hatte: Noch Bertolt Brecht schrieb eine Stalin-Ode unterm Titel Erziehung der Hirse. Seit der Zeit der Aufklärung, das heißt seit der Ausbildung bürgerlicher Verhältnisse, hat dann das Wort seine heutige umgangssprachliche Vieldeutigkeit erhalten.

 
Für die alltägliche Verständigung ist eine solche Bedeutungsvielfalt der Wörter kaum ein Mangel, sondern sogar ein Vorteil. Wie es jeweils gemeint ist, geht stets aus dem Zusammenhang hervor, in dem sie ausgesprochen werden – dem Satz, dem Gesprächsverlauf usw. Und im Gespräch wird nicht jedes Wort auf die Goldwaage gelegt – das wäre kleinlich und gehört sich nicht.
 
Anders wird es, wenn man das Wort schreibt. Das ist dann nicht mehr ganz alltäglich. Man muss ja eine bestimmte Absicht haben, wenn man schreibt. Man muß also etwas Besonderes aussagen wollen, nichts nur Ungefähres. Und zwar deutlich, bitteschön.
 
Da zeigt sich nun, dass unser erziehen nicht bloß in der Umgangssprache zuhause ist, sondern auch in den oberen Etagen des sprachlichen Ausdrucks – in der Wissenschaft. Doch siehe da, hier ist seine Bedeutung nicht ein bisschen weniger schillernd als im alltäglichen Gespräch! Nun kann sich der Wissenschaftler aber nicht darauf verlassen, dass der Sinn seines persönlichen Wortgebrauchs schon irgendwie „aus dem Zusammenhang hervorgeht“. Die Kritiker lauern, er darf sich keine Blöße geben, und also muss er – definieren. Wissenschaftliche Definitionen von erziehen gibt es eben so viele wie Autoren. (Zu viele, sagen spitze Zungen.)
 
Das liegt daran, dass man zwar das Wort in den Adelsstand der wissenschaft- lichen Diskurse erheben kann; dessen ungeachtet bleibt doch immer die Sache, die gemeint ist, eine gutbürgerliche Angelegenheit unseres – Alltags. Der prosaische Umstand nämlich, dass der Mensch, wenn er heranwächst, hinterher nicht mehr ganz derselbe ist wie vorher. Das Erwachsen eines jugendlichen Exemplars von Homo sapiens zu dem, was wir emphatisch einen Menschen nennen, ist nämlich – anders als bei unsern tierischen Verwandten – nicht einfach eine ‚Entfaltung’ von ererbten ‚Anlagen’. Denn der Mensch hat, außer und über seiner ersten, biologischen Natur noch eine zweite, historische, eine selbstgemachte Natur: er ist nicht nur Naturgewächs, sondern Kulturgeschöpf.
 
Das Hineinwachsen in das Wertesystem seiner gesellschaftlichen Umwelt nennt man eben landläufig seine „Erziehung“. Der Mensch ‚wächst’ nicht einfach, sondern er ‚er’-wächst der Kultur. Und da Träger und Reproduzenten jener Kultur dieser allbereits ‚erwachsen’ sind, ist es nicht falsch zu sagen, dass Kinder von Erwachsenen erzogen werden. Johann Gottfried Herders Kernspruch, dass jeder Mensch nur durch Erziehung zum Menschen wird, war die Grundlage der humanistischen Bildung der letzten zwei Jahrhunderte, und nur Banausen werden das bemängeln.
 
Müssen wir also erziehen wollen?
 
Tasten wir uns also ohne Zorn und Eifer an die Sache heran. Was immer der eine oder andere unter erziehen verstehen mag – über eines wird es wohl keinen Streit geben: „Erziehen“ ist auf jeden Fall eine Form von „zwischenmenschli- chem Verhalten“. Und was immer „zwischenmenschliches Verhalten“ sonst auch noch sein mag: Es ist stets (auch) ‚Kommunikation’.

 
Kommunikation ist ihrem Wesen nach keine Einbahn- straße, sondern grundsätzlich und immer Wechselwirkung. Subjekt X sendet eine Botschaft an Subjekt Y. Y empfängt sie und wird in seinem Zustand verändert: in-formiert. Die Art und Weise, wie Y die Information aufnimmt, ist ihrerseits eine Botschaft an X: eine Information über eine Information. Denn selbst, wenn Y auf die Botschft von X „überhaupt nicht reagiert“, ist das noch eine Stellungnahme. Und als solche verändert, in-formiert sie wiederum die Zuständlichkeit von X. Und so weiter und so fort.
 
Daher der Elementarsatz der Kommunikationstheorie: Man kann nicht nicht-kommunizieren.
Ob es bezweckt wird oder nicht: Kommunikation ist auf jeden Fall ‚Einfluss- nahme’. Wer niemanden beeinflussen wollte, dürfte mit niemandem kommunizieren. Aber das kann er nicht.
 
Besteht nun zwischen X und Y eine Art Kompetenzgefälle, mag man die Einflussnahme durch den hier Überlegenen „Erziehung“ nennen. Ein solches Gefälle ist zwischen Erwachsenen und Kindern grundsätzlich gegeben – und sei es nur in Gestalt des gesellschaftlichen Rangunterschieds. Daher gilt der Satz: Man kann nicht nicht-erziehen.
 
Wir befinden uns hier an dem einen Ende der umgangssprachlichen Bedeutungsskala von erziehen.
Die Wissenschaft kann (auf diesem Felde) auch nichts anderes tun, als die Alltagsbedeutung des Worts auf ihre Weise auszudrücken: „Erziehen meint hier nichts anderes als den alltäglichen Umgang.“*
 
Wenn einer in diesem Sinne des Wortes sagen würde: ich erziehe, dann spricht er eine bloße Faktizität aus wie etwa: ich habe Schwerkraft. Und wollte einer sagen: ich will nicht erziehen, dann ist das kaum sinnvoller, als sagte er: ich will nichts wiegen. Allenfalls könnte er noch sagen: ich will weniger wiegen (und das wollen viele), oder auch: so will ich nicht erziehen…
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*) Hans-H. Groothoff im Fischer-Lexikon Pädagogik, Ffm. 1964, S. 228)


 

IV: Man kann nicht erziehen


 
Ganz anders sieht es aber aus, wenn einer sagt: Ich will erziehen.
 
Damit begibt er sich nämlich aufs andere Ende der Bedeutungsskala dieses Wörtleins.
Hier ist kein unvermeidliches Alltagsgeschehen gemeint, das sowieso stattfindet und „ganz von allein“ – egal, ob man es will oder nicht. Sage ich: ich will, dann formuliere ich ein Ziel. Hier ist das andere Ende der Bedeutungsskala: Erziehen heißt jetzt, aus einem Menschen etwas anderes machen als er ist.
 
Man kann nicht erziehen
 
Beginnen wir bei der wissenschaftlichen Formulierung dieses Gedankens: „Erziehen = Von einem Menschen s1 auf einen Menschen s2 gerichtetes absichtsvolles und geplantes Zuführen von Impulsen mit dem Ziel, dass s2 diese Impulse als Reize oder Informationen so verarbeitet, dass s2 Verhaltensbereitschaften bewahrt oder erwirbt oder so verändert, das s2 (in einer festgelegten Zeit) Verhalten realisiert, das den Soll-Zuständen von s1 entspricht.“*
 
Befreien wir diesen Satz von seiner unfreiwilligen Komik und übersetzen wir ihn in simpleres Deutsch, dann hört er sich etwa so an: X wirkt auf Y ein, um Y aus einem unerwünschten Zustand a in einen erwünschten Zustand a’ zu versetzen.


Wohlverstanden: Wenn damit gemeint wäre, dass X die Auffassung vertritt, ein jeder müsse sich seine Schnürsenkel selber zubinden können, und daran Anstoß nimmt, dass Y das eben nicht kann, und auf ihn einwirkt, dass er es nun lernt – dann wird wohl keiner was dagegen sagen wollen. X wird sich also einen Plan zurechtlegen, wie er Y in absehbarer Zeit dahin bringt, wo er ihn haben will. Er wird das ganze Programm in einzelne, auf einander aufbauende Lernschritte zerlegen – „operationalisieren“ – und immer dicht am Ziel bleiben.Allerdings würde der Volksmund hier schwerlich von erziehen reden. Er würde sagen: Herr Lehmann bringt seinem Jungen bei, wie man sich die Schuhe zubindet. Und die Wissenschaft würde sekundieren: Der Junge lernt.


Wenn man im emphatischen Sinn von erziehen redet, von einem Erziehen, das man wollen kann, dann ist nicht dieses oder jenes Beibringen gemeint, sondern ‚der ganze Mensch’. Gemeint ist das, was Herder sagen wollte: dass der Mensch nur durch Erziehung zum Menschen werde. Hier geht es nicht mehr um bestimmte, definier- bzw. abgrenzbare Lernziele, sondern um ein ‚System von Werten’. Um das, was man landläufig ein „Menschenbild“ nennt. Die Vorstellung, man könne einen Menschen planmäßig nach einem gegebenen Bild „formen“, ist nun aber – je nach Reflexionsebene – auf dreifache Weise falsch: In diesem emphatischen Sinn kann man nicht ‚erziehen’.
 
„Werte“
 
Erste Ebene: So bunt und vielgestaltig die Menschenbilder, die sich auf dem pädagogischen Markte tummeln, auch scheinen mögen – wenn man mal von den semantischen Feinheiten absieht, bezeichnen die Menschenbilder, die in unserm jüdisch-christlichen Kulturkreis entworfen werden können, im Grund alle dasselbe; nicht einmal – und schon gar nicht – Margot Honeckers „sozialistische Persönlichkeit“ macht da eine Ausnahme: sie ist vielmehr eine besonders spießige Variante von ein und demselben. (Selbst Nietzsches Übermensch bestätigt als Kontrastprogramm noch die Regel.)
 
Das bedeutet nur dies: Was hier beschrieben wird, sind gar keine Eigenschaften, Fertigkeiten oder Verhaltensweisen, die man fest umreißen und dingfest machen könnte, sondern eben – Werte. Das sind gar keine ‚Stellen’, im Raum oder in der Zeit, die man irgendwann man ‚erreicht’ haben könnte, sondern bloße Gebote, die ständig zu befolgen; Maßstäbe, die immer anzulegen sein werden. Kurz, es geht hier gar nicht um ‚Verhalten’, das man einüben, abrufen und überprüfen könnte, sondern um Haltungen zum Leben und Einstellungen zur Welt.
 
Man kann sie nicht in Stücke zerlegen und – Schritt für Schritt – „lehren“. Denn Moral besteht ja nicht darin, stets das Richtige zu tun (das kann der Lakai auch), sondern darin, selber das Richtige zu wollen. Und das Selber-Wollen lehren wollen ist eine Absurdität; bzw. der Urtyp dessen, was die Kommunikationstheorie eine Beziehungsfalle nennt: Es kann nicht klappen. „Du sollst wollen“ ist ein Widersinn. Und Werte lassen sich nicht vermitteln; sie gelten unvermittelt ganz und gar – oder eben nicht. Man kann sie höchstens bezeugen.
 
Der ‚ganze Mensch’
 
Zweite Ebene: Selbst wenn man Werte in Teilchen zerlegen und portionsweise weiterreichen könnte – sie beträfen dann immer noch den ‚ganzen Menschen’, und nicht einzelne Verhaltensweisen. Kann man den ‚ganzen Menschen’ nun aber gezielt beeinflussen? Nein. Denn nur im Labor des Verhaltensforschers ‚reagieren’ die Menschen auf ‚Reize’. Im wirklichen Leben orientieren sie sich in Situationen. Die Situation ist stets komplex. Sie ist, in der Sprache der Physik ausgedrückt, ein ‚Feld’, in dem sich mannigfaltige ‚Kraftlinien’ schneiden, die von unbestimmbar vielen ‚Energiequellen’ ausgehen. Der Erzieher ist immer nur eine von diesen Energiequellen. Die andern kann er nicht einmal zählen, geschweige denn „beherrschen“.
 
Er kann, wenn er gut Acht gibt, genau bestimmen, welche Informationen er aussendet. Darauf, was aus der Information geworden sein wird, wenn sie beim Adressaten ankommt, hat er schon kaum noch Einfluss: Er kann es nicht einmal wissen, sondern höchstens erraten aus der Rückmeldung, die er erhält. Nur in der Theorie ist Kommunikation eine Wechselwirkung zwischen nur-Zweien. Im Leben ist sie immer ein wechselseitiger mannigfaltiger Prozess zwischen Vielen. Das bringt eine Unwägbarkeit in die menschlichen Verhältnisse, die für die Illusion einer zielgerichteten Einflussnahme (außerhalb des Labors) wenig Platz lässt. Der Erzieher kann immer wieder nur probieren – und sich gegebenenfalls trösten, dass er getan hat, was er tun konnte.Dass ein Teil des Informationsgehalts auf dem Weg der Übermittlung stets verloren geht, ist zwar ein absolutes Hindernis für jede ‚gezielte Beeinflussung’; allerdings nur ein technisches. In der Laborsituation kann es reduziert werden.
 
Ursachen und Vorstellungen
 
Ein grundsätzliches Hindernis finden wir auf einer dritten Ebene. Es ist der Umstand, dass die Menschen im wirklichen Leben nicht auf einzelne Signale ‚reagieren’, sondern sich in Situationen – orientieren. Sie ‚verhalten’ sich nicht kausal, sondern handeln final: Sie suchen einen Weg, der sie durch die Situationen führt. Die Situation ist nicht einfach Anlass, sondern immer auch Aufgabe. Allgemein gesprochen: Nicht die Realität „wirkt“ auf den und durch den menschlichen Organismus, sondern – die Vorstellung, die er sich von ihr macht.
 
Was er die Wirklichkeit nennt, ist immer nur ein Bild. Das Bild „stimmt“, wenn es erlaubt, sich in seiner Welt zurecht zu finden – in die Richtung, die er selber wählen muss. Wahn und Wirklichkeit unterscheiden sich nur als jenes Bild, auf das sich die vielen Lebenstüchtigen untereinander verständigt haben, und die Bilder, die sich die wenigen Irrläufer jeweils ganz für sich alleine machen. (Alles Neue erscheint darum immer als Irrung.) Also der Grund unseres Handelns sind nicht die Anlässe, sondern unsere Vorstellungen. Die Vorstellung ist aber – man erlaube mir das starke Wort – das Reich der Freiheit selbst, und scheidet uns von den Graugänsen. Man kann den ‚ganzen Menschen’ darum nicht zielgerichtet beeinflussen, weil man schlechterdings keine Macht über seine Vorstellung hat. Die produktive Einbildungskraft ist, psychologisch gesprochen, der irreduzible Kern der Ichheit. Man kann sie unter Umständen zerstören, aber abrichten kann man sie nicht.
 
Wenn also erziehen in dem beiläufigen Sinne von „man kann nicht nicht-erziehen“ so gut wie gar nichts sagt und wenn erziehen in dem emphatischen Sinn von ‚den ganzen Menschen formen’ eine Unmöglichkeit ist – warum klammern sich dann so viele an das Wort?
 
Ganz einfach. Die erwerbsmäßigen Kinderkümmerer brauchen es, um ihr monatliches Gehalt zu rechtfertigen, und der Steuerzahler ist’s zufrieden.
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*) Lutz Michael Alisch & Roessner, Lutz, Erziehungswissenschaft und Erziehungspraxis, Mchn. 1981, S. 38 – Diese Definition trifft einen jeden, der in der Fußgängerzone Fleckenwasser feilhält, ebenso wie jeden Wahlredner.



V: Eine Alltagskunst




Nüchtern betrachtet, ist erziehen eine Alltagsverrichtung wie kochen oder Auto fahren. Im Prinzip kann das jeder, aber manch einer besser als manch anderer. Wohl kann man aus diesem eine Kunst, aus jenem einen Hochleistungssport machen. Dann wird man es mit Eifer (lat. studium) erlernen müssen. Für den Alltagsgebrauch reicht learning by doing, doch eine gewisse Vorübung ist nötig, um Katastrophen zu vermeiden.
 
Eine Alltagskunst
 
Bei aller Alltäglichkeit sind beide Tätigkeiten aber noch so spezifisch, daß ich sie von all meinen andern Verrichtungen im Tageslauf unterscheiden kann. Ich weiß, wann ich damit anfange und wann ich wieder aufhöre, und wenn ich’s mir nicht vornehme, findet’s nicht statt. Wenn aber, sagen wir, ein Vater mit seinen Kindern in den Zoo geht,wirkt er zweifellos erziehend. Aber deshalb tut er’s nicht, sondern weil es Freude macht. Nur darum wirkt es übrigens ‚erziehend’. Ginge er dagegen mit erzieherischem Vorsatz in den Zoo, hat er alle Chancen, dass er weder sich noch den Kindern damit Freude macht – und verfehlt die Absicht.
 
Wann ‚erziehen’ Eltern? Die Frage taugt als Vorlage für ein Schmunzelbuch. Zweifellos doch, wenn sie belohnen oder strafen: denn das tun sie ja wohl vorsätzlich. Was lernen ihre Kinder dabei? Nutzen und Schaden abwägen. Das würden sie aber auch ohne dies lernen – vielleicht langsamer, vielleicht schneller. Gerade dafür ist Erziehen also nicht ‚notwendig’. Tatsächlich geschieht das, was ein unbeteiligter Betrachter Belohnung oder Strafe nennt, im täglichen familiären Kuddelmuddel nicht vorsätzlich, sondern nebenher, ohne Kalkül. Das ist die Regel, die von Ausnahmen bestätigt wird – welche ihrerseits nur deshalb wirken, weil sie Ausnahmen sind. Mit andern Worten, Erziehung geschieht in der Regel beiläufig, unabsichtlich, unspezifisch, und immer, wenn es eigentlich um irgendwas anderes geht: Erziehung ist medial, sie braucht ein Drittes. Erziehung ist nicht Einwirkung von A auf B, Erziehung „ergibt sich“, wenn sich A und B an C zu schaffen machen.
 
Die pädagogische Situation
 
Einen allgemeinen Begriff von Pädagogik – oder einen Begriff von Allgemeiner Pädagogik – kann es nicht geben. Was es gibt, ist ein allgemeines Bild von der pädagogischen Situation. Nämlich: Einer, der in der Welt schon zuhause ist, begegnet einem, der dort neu ist, und ist er ein anständiger Kerl, dann zeigt er sie ihm. Darin liegt keinerlei Notwendigkeit, die in Begriffen, Gesetzen oder Formeln darstellbar wäre. Es ist nur eben tatsächlich so. Die Menschen neigen dazu – weil der Neue in diesem Bild typischerweise ein Kind ist. Wer mehr von der Welt kennt, kann wohl auch mehr zeigen. Wie gut er sich aber aufs Zeigen versteht, ist eine andre Sache. Es gelingt immer dann am besten, wenn dabei der Eine versuchsweise durch die Augen des Andern schaut. 


Denn dann erscheinen die Dinge beiden immer wieder ein bisschen neu und zeigen ‚Seiten’, die in den Selbstverständlichkeiten des Alltags verborgen blieben: weil dann nämlich ‚unsere’ Welt immer in den Farben ‚meiner’ Welt scheint.


Das hat einen eigenen Reiz und punktiert den Alltag mit kleinen sonntäglichen Momenten. Es ist die ästhetische Seite der Sache, es lockt und verführt und ist das, was das Wesen der Kunst ausmacht. Für beide ein erhebendes Erlebnis, das mit dem vagen Wort vom pädagogischem Eros umschrieben wurde. Im Alltag gelingt es umso eher, je näher Menschen einander stehen. Darum sind Eltern in der Regel die besseren Pädagogen. Normalisieren können sie nicht so gut, aber was ihrer Welt an schulischer Breite fehlt, überbieten sie an anschaulicher Tiefe. Sie sind Alltagskünstler (wenn auch vielleicht nicht alle.)
 
Performing artist
  
Man kann immer noch einen Beruf daraus machen. Aber weil Normalität kein berechtigter Erziehungszweck mehr ist, ist das Labor nicht mehr der bevorzugte Ort. Erziehung findet in Situationen statt, und die sind immer konkret. Erziehen ist eine Sache des Alltags. Pädagogik ist, wo sie theoretisch ist, Kunstlehre. 

Und der – gute – Erzieher ist ein Künstler.

Aber ein Aktionskünstler: er schafft keine ‚Werke’, sondern eben nur – Situationen. Seine Sache ist es, die Situationen so zu arrangieren, dass sie den andern verlocken, (sich) heraus zu finden; nie vergessend, dass er selber mitspielt und dass vieles auch auf seinen Auftritt ankommt. Was es ist und wieviel es ist, wird er wissen, wenn er es probiert. Er ist kein Ingenieur, sondern ein Performer.




VI: Lernen oder sich-bilden?




Die Schule ist seit PISA im Gerede wie seit den frühen Siebzigern nicht. Doch während damals ein jeder es noch ein bisschen besser wusste als alle andern, erklingt heut nur lautes Kopfkratzen. „Schule muss sich ändern!“ Aber wie? Hört man genauer hin, dann klingt Anders verdächtig nach Mehr desselben. Dabei hat der kluge Schüler heute längst gelernt, dass er am besten das, was er eben für die Klassenarbeit gebüffelt hat, am nächsten Tag wieder vergisst, um Platz für das nächste Dreitagewissen zu schaffen. Die positiven Kenntnisse von heute verfallen oft schneller, als sie abgefragt werden könn. Weniger davon wäre heute mehr.
 
Und immer lauter wird der Ruf, die Schule solle „wieder Werte vermitteln“! Die seit den Sechzigern schleichende Sozialpädagogisierung der Schule – „lernen, wie wir miteinander umgehen“ – ist gottlob gescheitert. Jetzt soll sie den Kindern wieder Moral beibringen, als ein weiteres Fach, das man „können“ muss.
 
Wie ist das alles zu bewältigen? „Ganztags“? Wenn das mal reicht! Die Lernschule platzt buchstäblich aus ihren Nähten.


„Lernen“…
 
Dabei liegt ihr scheinbar endgültiger Sieg noch gar nicht so lange zurück. Es war die demokratische Schulreform der sechziger Jahre, die an die Stelle des ideologieverdächtigen „Bildungs“-Prinzip den pragmatischen Begriff des Lernens setzte. In Verruf war Bildung schon seit Nietzsches tödlichem Wort vom Bildungsphilister, der Güter und Werte aneinanderreiht wie Sammeltassen im Vertiko. Doch in einem ebenso pluralistischen wie individualistischen Gemeinwesen, das keine Instanz mehr kennt, die oberste Werte und ein gültiges Menschenbild festlegt, wurde sie vollends anachronistisch.


War aber der Aufstieg von lernen zum pädagogischen Schlüsselwort das Ergebnis einer freien Wahl? Etwa so, dass sich die versammelte Erziehungswissenschaft nach sorgfältiger Prüfung der Gründe auf diesen Schluss verständigt hätte? Mitnichten. Das Wort hat sich aus der Umgangssprache in den pädagogischen Diskurs begriffslos eingeschlichen und ist dank seiner Schlüpfrigkeit überall durchgesickert. Wir haben es nicht gewählt, sondern haben es uns zugezogen. Seine Karriere verdankt es dem Umstand, dass es so nahtlos in jenes Menschenbild passte, das sich – nachdem die Ideologien zur Vordertür hinausgetrieben waren – unbemerkt durch die Hintertür hereingeschlichen hatte: der Spezialist, der Sach-Bearbeiter!


Es kommt nicht aus der Pädagogik, sondern aus dem Arbeitsmarkt, welchem zu dienen sich jene seit den sechziger Jahren weise beschied. Der Spezialist ist einer, der „sein Fach beherrscht“. Wie? Durch das geordnete Anhäufen von Informationen, Schritt für Schritt, immer schön der Reihe nach die Wissenslücken kompensierend: durch „lernen“. Doch alle Fächer beherrschen, das soll keiner wollen: dafür ist die Welt zu komplex. Und wozu hätten wir sonst auch all die spezialisierten „Vermittler“ in unsern öffentlichen und gewerblichen Verwaltungen? Und, nicht zu vergessen: in unseren Schulen!

Das Gesellschaftsmodell, das dem Lern-Theoretiker vorschwebt, ist die Technokratie. Das ist ein Denken in Linien und Fächern – vorab konstruiert, abgezirkelt und hernach zu einander gefügt von einem Fachmann fürs Lenken und Vermitteln. Die Elite entwirft, die Spezialisten führen aus. Doch die Spatzen pfeifen es von den Dächern: die industrielle Zivilisation stirbt ab und mit ihr die Technokratie.


Die ausführenden Tätigkeiten erledigt zusehends die intelligente Maschine. Im Zeitalter der Cyberworld heißt das Paradigma nicht länger: zerlegen, messen und anwenden, sondern: entwerfen und vorzeigen – und zusehen, ob’s sich behauptet. Nicht einmal das Vermitteln ist noch ein besonderes Fach, jeder muss es selbst besorgen – und kann es: online. Der Arbeitsmarkt kann Leute, die lediglich was gelernt haben, immer weniger brauchen, denn „lernen“ kann der Computer selber! Zwei Jahrhunderte Industriekultur erweisen sich heute als europäischer Standortnachteil: Ein Inder steht dem Computer unbefangener gegenüber als ein Deutscher und nimmt demnächst seinen Platz ein – weil seine Lehrer ihn nicht auf „lernen“ spezialisiert haben.


…oder sich-bilden?
 
Es war von Anfang an der Wurm drin. Denn unter lernen war zwanglos immer auch gelehrtwerden zu verstehen, und wenn es gleich in pädagogischen Seminaren anders „gelernt“ wird, ist es regelmäßig dieser Sinn, der im Schulalltag durchschlägt. Lernen war das Passwort der pädagogischen Landnahme nach ‘68. Bildung kommt dagegen immer von ‚ich bilde mich’, denn bei ‚ich werde gebildet’ sträuben sich Herzfalten und Hirnwindungen gleichermaßen.
 
Die ideologiekritische Austreibung der Bildung Ende der Sechziger erweist sich heute als voreilig. Auf die Bürgschaft einer obersten Instanz ist sie nämlich gar nicht angewiesen, ganz im Gegenteil. Der Mensch ist ein Kulturwesen. Neben seiner ersten, physiologischen, hat er eine zweite, historische und selbstgemachte Natur. Oder richtiger: Da er Kulturwesen ist, hat er auch seine erste Natur nur als Kulturgeschöpf. Kultur (von lat. colere: sammeln) ist die Akkumulation von Werten aller Art. Eine Ansammlung von Reichtümern, die vererbt, das heißt aufgehäuft und von jeder Generation vermehrt, aber auch neu gesichtet werden.
 
Die Auslese und Ansammlung der gelten-sollenden Werte macht sich indes nicht von allein.


Den Reichtum auslesen


Es sind immer Personen, die da auslesen und anhäufen. Sie sind selber eine Auslese, eine Elite, die den Reichtum repräsentiert und in kultureller Hinsicht ‚vorherrscht’. Solche Bildung ist nicht persönlich, sondern kollektiv. Sie ist exklusiv und nicht liberal; es ist Kasten- bildung. So war es immer und überall – bis im Abend- land, und nur da, die Moderne an- brach. In der bürgerlichen Gesellschaft stehen Eliten miteinander in Konkurrenz, sie „zirkulieren“, und der Sinn demokratischer Verfassung ist es, die Zirkulation in Fluss zu halten.
 
Worin kultureller Reichtum besteht, wird nun aber ebenso strittig wie die Frage, wer ihn repräsentieren und also „vorherrschen“ darf. Selbstverständlichkeit kennzeichnet jedenfalls nicht den Reichtum abendländischer Kultur, sondern die Fülle ihrer Werte.


Sie müssen auch nicht von oben verbürgt sein, nur gelten müssen sie können, wenn auch problematisch – das heißt konkurrierend mit anderen. Die reichste Kultur ist eine solche, wo die Anordnung, die Umordnung der Werte prozessierend immer wieder neu geschieht – im Meinungskampf der Öffentlichkeit. Es ist die Problematizität ihrer konkurrierenden Werte, die dieser Kultur ihre Spannung verleiht und dem Einzelnen die eigne Wahl, nämlich eine persönliche Bildung zumutet. Das gibt es nur im Abendland, und darum ist die öffentliche Schule eine abendländische Errungenschaft. Ihre Sache ist es, das kulturelle Erbe an die nachwachsende Generation weiterzureichen und die Schüler zur Wahl zu ermächtigen. Nur als Bildungsstatt rechtfertigt die Schule ihre öffentliche und verpflichtende Stellung.

 

VII: Das Wie, das Was und die Were



Alle zeitgenössischen Diskussionen über Schulreform klingen – nach wie vor PISA -, als ginge es darum, den Knoten ein für alle Mal zu lösen. Die idiotensichere Methode, die lückenlose Theorie, die endgültig bestgeeignete Struktur: damit ein für alle Mal sicher gestellt sei, dass die Lehrer alles nur noch richtig machen können, dass die Lehrerausbildung nix versäumt, dass ein jedes Kind glatt und reibungslos die nunmehr optimierte Schule “durchlaufen” kann. Sie alle wetteifern um die ultimative Nummer sicher - und der Perfektionismus der Technokraten dient als Alibi für den alltäglichen Pfusch.

Dabei ist Pädagogik ohne Risiko gar nicht zu haben. Knaben müssten gewagt werden, meinte Joh. Fr. Herbart, der Begründet der wissenschaftlichen Pädagogik. Und wer alle Risiken vorher “kalkulieren” will, der will keine – und das ist unter den Risiken der Pädagogik das größte; da darf er sich dann nicht beklagen, wenn er’s in diesem Beruf schwer hat. Pädagogik ist eben keine ‚Methode’, die man nur noch anwenden muss – das ist das ganze Problem. Das war schon immer das Problem. Allerdings hat es sich heute zugespitzt wie nie, und das liegt an den Veränderungen der Arbeitswelt.

Nicht so sehr die Veränderungen bei der industriellen Fertigung sind der Grund. Denn Leitbild der Volksschulpädagogik war im 20. Jahrhundert gar nicht der Industriearbeiter. Das war er im Neunzehnten, und der damalige Fabrikarbeiter war typischerweise ungelernt. Entsprechend ‚elementar’ konnte seine Bildung sein: ABC, 1×1 und 10 Gebote. Im 20. Jahrhundert wurde mit dem Überwuchern der eigentlichen Produktion durch die Verwaltung der Angestellte auch in der Industrie immer mehr zum Leitbild. Nicht der Geist der Industrie ist es, der seither Alles durchdringt, sondern der Geist der Bürokratie. Und für die Volksschule hieß das: Schema F.

Das humanistische Gymnasium war auf den höheren Staatsdienst zugeschnitten. Die Realschulen bedienten ‚die Wirtschaft’. Als dort an die Stelle des Unternehmers als Maßstab der Leitende Angestellte trat, wurden die Realien dem (enthumanisierten) Gymnasium zugeschlagen, und so konnte es während der demokratischen Bildungsreform der 70er Jahre zur allgemeinen Norm überdehnt werden – auf die “Restschule” gehn die Zurückgebliebenen.

Ein Standard für alle – der Traum jeder Verwaltung! Das Bildungssystem ‚normalisierte’ sich zu einer großen Administration – mit dem Gymnasium als ihrem ‚höheren Dienst’. Daran wird die Grundschule seither gemessen. Die Neigung unserer Schulen zum Zergliedern der Welt in ‚Fächer’ und des Lebens in ‚Schritte’ stammt nicht, wie man meinen mag, aus der Arbeitsteilung in der Fabrik, sondern aus den ‚Vorgängen’ der bürokratischen Apparate. Das Wie ist dort Substanz, das Was nur Akzidenz, und der Routinier ist König.

Dass aber die Verwaltung neben der Zivilgesellschaft steht (d.h. wie ein Mühlstein an ihrem Hals hängt), war mittelbar durchaus ein Resultat der industriellen Arbeitsteilung. Je weiter die Produktion in Fächer und Abteilungen aufgesplittert wurde, umso mehr Spezialisten fürs Koordinieren wurden gebraucht, um die Einzelteile schließlich zueinander zu fügen: Das Vermitteln wurde selbst zu einem ‚Fach’! Mit dem Niedergang der Industriegesellschaft geht auch die Zeit der Fachleute-für-Vermittlung zu Ende. Lean management ist angesagt. Das Vermitteln wird in der medialen Zivilisation (daher der Name) wieder zum genuinen Bestandteil der Schaffensprozesse selbst; online.

Wozu also optimieren, was schon jetzt ein Anachronismus ist? Die Arbeitswelt der Zukunft wird immer weniger von Leitenden Angestellten geprägt sein und immer mehr von selbst-entwerfenden und selbst-realisierenden ‚Unternehmern’. Wozu hätte sich ein heutiger Abiturient durch einem Notendurchschnitt von 1,0 denn ‚qualifiziert’? Für eine eigne Performance in den globalen Netzen ja nicht gerade. Eher doch für eine leitende Stelle im höheren Staatsdienst. Nur – eine sehr realistische Berufswahl ist das bald nicht mehr.

Wie oder was

Es geht gar nicht mehr darum, wie man sich das ‚Lernen’ vorstellt, sondern darum, was man unter ‚Wissen’ versteht. Die hergebrachte Lernschule stellt sich das Wissen als ein gut sortiertes Regal von eingeweckten Wahrheiten (‚Informationen’) vor, auf die “zuzugreifen” nur noch geübt werden müsste. Das entspricht keiner indu- striellen, sondern einer bürokratischen Welt- sicht. Ein „Offener Unterricht“, der darauf beruht, ist allerdings ein Paradox, und die Schüler boykottieren in zu Recht.

Wer glaubt, dass die Welt schon entdeckt ist, dem werden die Kinder nicht abnehmen, dass es für sie da was zu entdecken gäbe. Er versäumt nicht etwa, sie zu “motivieren”, sondern er bricht geradezu ihr ureigenes originäres Motiv. Bei ihm sind sie immer zu spät gekommen. Aber das ist nicht wahr, das sind sie nicht. Die Welt ist nicht entdeckt, es entwirft ein jeder ‚seine’ Welt.

Dass es darüber hinaus eine ‚objektive’ Welt gibt, zu welcher die Einzelnen ihre Privatwelten ‚ins Verhältnis setzen’, liegt daran, dass sie in ihrem Alltag miteinander auskommen müssen. Unsere gemeinsamen Ansichten von der Welt stammen aus gemeinsamen Absichten in der Welt – die nämlich zu gemeinsamen Hinsichten auf die Welt veranlassen. Und da wir nicht alle unsere Absichten mit andern teilen, teilen wir auch nicht alle unsere Ansichten. Ob oder ob nicht, das weiß man nicht im Voraus, man muss es drauf ankommen lassen. Darum kann man die Risiken der Pädagogik nicht “kalkulieren”!

Über die ‚wahren’ Ansichten entscheiden also die Hinsichten und die Absichten. Es ist eine Sinn-Frage, und sie ist keine theoretische, die sich durch ‚Lernen’ beantworten ließe, sondern eine praktische, die “aus Freiheit” zu entscheiden ist; nämlich jedes Mal aufs Neue. Aufs Urteilsvermögen kommt es an. Das bedeutet, dass der Grund der Schule – das, worauf sie aufbaut – nicht Wissensbevorratung und Methodenturnen ist, sondern die Unterhaltung (!) der Einbildungskraft und das Wagen des eigenen Urteils. Die Daseinsberechtigung der Grund-Schule ist Bildung. Um es ganz genau zu sagen: Geschmacks-Bildung.

Und wer!

Der Lehrer muss selber gesehen haben, was er den Kindern zeigen will. Das ist nicht die Frage, wie er’s macht, sondern wer er ist; nämlich was er aus sich gemacht hat. Das macht gerade den Unterschied aus zwischen dem Pädagogen und den Vielen, die ihren Beruf verfehlt haben. Pädagogik ist eine Kunst. Sie besteht darin, dass ein Alter in die Welt mit den Augen der Neuen sehen kann und trotzdem nicht vergisst, was er alles vorher selber schon gesehen hat – und es den Neuen zeigt. Das muss man können. Und wer es nicht kann, dem wird auch die beste “Methode” nix helfen. Kunst kommt ja von Können. Denn käm’s von Wollen, hat Max Liebermann gesagt, dann hieße es Wulst. Das gilt für unsere Kunst noch mehr als für die andern

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*) mhd. der wer: Mensch, Mann (vgl. Werwolf); mhd. diu werelt (vgl. engl. world): Gegend, wo diu were leben

VIII: Kindergesellschaft und Flegeljahre, oder: Die wahren Antipädagogen
 

 
Der größte Skandal der Pädagogik war und ist das Flegelalter. Es ist ein Alter, in dem man nicht betreut und schon gar nicht „maßgenommen“ sein will. Denn es ist die größte Krise im Leben eines jeden, es ist der Abschied von der Kindheit. Auch in physiologischer Hinsicht, als Pubertät, aber nicht nur, nicht einmal vor allem. Es ist eine Krise des ganzen Menschen. Bis dahin verstand sich die Welt von selbst. Alles, was war, war so und nicht anders. Und plötzlich steht alles in Frage. Ist alles so, oder sieht es nur so aus? Flegeljahre„Der entscheidende Grundzug des Pubertätsalters besteht darin, dass es fast jeden Menschen zum Dichter macht“, indem er „die ganze Welt der Erscheinungen“ nicht für bare Münze, sondern bloß „symbolisch nimmt“ (Egon Friedell). Die Selbstverständlichkeiten sind dahin und alles gerät in Zweifel, nicht nur alles Andere, sondern auch das Selbst. Es ist der kritische Zustand par excellence, eine „zweite Geburt“ (Erik Erikson).

Nach außen gibt es sich durch Frechheit, Spottsucht und Mutwillen zu erkennen, und wurde vormals 
als Flegeljahre geschmäht und als Lausbubenalter oder Robinsonzeit verklärt. In unseren auf korrekten und sparsamen Umgang bedachten Zeiten sieht man sie als Vorstufe zur Jugend- kriminalität an und will ihnen mit Verhütungsmitteln begegnen. Dabei sind es wie eh die produktivsten Jahre, von deren Ertrag man ein Leben lang zehrt.

Welches ihr Ertrag ist, hängt davon ab, wie die Krise überstanden wurde. Die wichtigste, weil nächstliegende ‚äußere’’ Ressource eines Jeden bei Bewältigung der Lebensaufgaben sind seine alltäglichen Zusammenhänge mit Anderen. Die sind eng oder weit, viele oder wenige, tief oder flach; aber nicht gut oder schlecht.

Unter gewissen Umständen wirken sie freilich – auf andere – eher konstruktiv, unter anderen eher destruktiv. Aufgabe der Jugendhilfe ist es, die Bedingungen so zu arrangieren, dass die lebensweltlich gegebenen Zusammenhänge zwischen jungen Menschen eher die Chance haben, konstruktiv zu wirken, als destruktiv. Dass Kinderbanden S-Bahnzüge demolieren, kommt vor. Wenn es aber in ihrer Lebenswelt Besseres zu erleben gibt als das, ist es weniger wahrscheinlich…

Kindergesellschaft

In diesem Alter verfügen wir im Wesentlichen über drei ‚äußere Ressourcen’, drei Typen von Zusammenhängen mit Andern: Die eigne Familie daheim, die Schule hinter ihren Mauern, und die Kindergesellschaft – kid society – draußen auf Straßen und Plätzen. In der Familie sind die Zusammenhänge natürlich und heimlich, in der Schule sind sie künstlich institutionalisiert und verregelt. Und statt eines unerschöpflichen Kraftquells sind beide heut öfter Sturmzonen und Minenfelder. Die Kindergesellschaft dagegen ist ebenso natürlicher wie öffentlicher Zusammenhang. Im bestimmten Gegensatz, doch insofern immer in Wechselbeziehung zur privaten Häuslichkeit und der öffentlichen Institution, ist sie auf dieser Lebensstufe vorrangige Sozialisationsinstanz. Sie ist selber eine lebensweltliche, nicht-professionelle Form der ‚Jugendhilfe’ und Einrichtung der Generalprävention, die der Steuerzahler gratis kriegt.

„Die Sozialisierung des Kindes wird im Wesentlichen in der Kindergruppe vollzogen. Es gibt eine Kinderkultur, die unter Umgehung der Erwachsenen von den älteren auf die jüngeren Kinder übertragen wird.In der Kindergruppe wächst das Kind in die Gemeinschaft, und es erlebt durch den Erwerb von sozialem und technischem Geschick eine Art von sozialem Aufstieg, der sich mit dem Ansteigen seiner Rangposition verbindet. Die Älteren dominieren in freundlicher Weise über die Jüngeren. In der Kindergruppe können die Kinder ihren Spielpartner wählen. Sie können sich mit Gleichgeschlechtlichen zusammenfinden, Andersgeschlechtliche aufsuchen oder exklusive Freundeszirkel bilden. Schließlich kann das Kind auch alleine spielen, wenn ihm danach zumute ist.“ (Irenäus Eibl-Eibesfeld)

Das traf auch auf unsern Kulturbereich zu und änderte sich „erst mit der Ausbildung der anonymen Massengesellschaft und mit der im technischen Zeitalter fortschreitenden Zerstörung der Siedlungen durch den Verkehr. Kinder können sich nicht mehr so frei sozial und im Raume entfalten wie einst.“

Wagenburg!

Nicht zu vergessen der Einbruch des Pädagogenstandes! Die berufsmäßigen Sozialisationstechniker sehen in den eigenen Gesellungsformen der Kinder ihren natürlichen Feind und beteiligen sich, neben dem Straßenverkehr und der fortschreitenden Verwertung von Räumen und Zeit, an ihrer Brachlegung.

In Kindergärten und Horten wird der urwüchsige Zusammenhang der Altersgruppen in Jahrgangsklassen aufgesplittert. „Mit dem Wegfallen der älteren, vorpubertären Kinder verlieren die Kleinen ihre anregendsten Spiel- und Sozialisationspartner außerhalb der Kleinfamilie. Außerdem geht darüber auch dieKinderkultur zugrunde, denn diese wird nicht von Erwachsenen tradiert.“ Um ihr Erbe wetteifern Schule und Kommerz, und eine entscheidende Bildungsinstanz geht verloren.

Wo sie nicht schon zum Erliegen kam, ist die Kindergesellschaft bis heute eine der wichtigsten Ressourcen für das Heranwachsen in den Städten. In Amerika hat die kid society in der empirischen Sozialforschung wie in der Umgangssprache Anerkennung gefunden. Hingegen deutet der in Deutschland gebräuchliche Begriff ‚soziale Kinderwelt’ (Lothar Krappmann) zwar auf die relative Autonomie und Geschlossenheit dieser Sozialbildung hin; aber nicht auf das Medium, das vorrangig seinen Zusammenhang stiftet. Es handelt sich um eine Gesellschaft nicht nur in dem Sinn, dass sie ein ‚Netzwerk von Netzwerken’ darstellt, sondern mit der spezifischen Bedeutung, dass ihr eine Öffentlichkeit zu Grunde liegt.

Es ist eine rudimentäre, parzellierte Öffentlichkeit, in der Sensationen und Legenden leichter kursieren
als Tatsachenmeldungen. Das liegt am großen Anteil, den die Phantasie an ihrem Zustandekommen hat. Die vorrangige Rolle, die in der Ausbildung der Kindergesellschaft der Einbildungskraft zukommt, markiert den Unterschied zur erwachsenen ‚wirklichen Welt’ von Vorteil und Wettbewerb, von deren Wertordnung sie noch kaum affiziert ist. Das macht aber nicht ihre Schwäche, sondern ihre Stärke aus. Keiner wird bezweifeln, dass die Wertordnung der Kindergesellschaft, wenn sie sich frei entfalten könnte, große Ähnlichkeit mit den ritterlichen Tugenden von Parzival und der Tafelrunde hätte. „Treu sind sie und verlässlich, wie zu keiner Zeit ihres späteren Lebens wieder. Kein Feigling zu sein, ist ihr höchstes Ziel. Denn jeder will etwas gelten, gerade weil die Erwachsenen sie nicht für voll nehmen.“ (H. H. Muchow

Raum und Zeit

Doch die öffentlichen Zusammenhänge brauchen, um sich zu finden, Platz. Den haben sie nicht mehr. Lausbubenalter und Flegeljahre sind in unsern Stadtlandschaften zusehends in zwielichtige Ecken abgedrängt, zerfasert, beengt, verkrüppelt. Die eigne Sozialität der Kinder kann ihre Energien nicht länger konstruktiv im ‚Abenteuer’ freisetzen. Sie findet keine Spiel-Räume mehr und muss sich destruktiv Bahnen brechen: Was einst nur Dummejungenstreiche waren, wird heut schon als „Gewaltbereitschaft“ beschrieen; und früher oder später erfüllen die Prophezeiungen dann sich selbst.

Nämlich immer dort, wo es sich um die verstümmelten Rudimente der Kindergesellschaft in jenen Vierteln handelt, in denen sie überdurchschnittlichen Belastungen ausgesetzt ist. Dazu gehören inzwischen auch ethnische und sprachliche Grenzen, doch auch in den sozial noch stabilen Stadtvierteln geht der Kinder- gesellschaft, angesichts zusehends von Erwachsenen verwerteter Räume und Zeit, ihr Regulationsmedium verloren: Öffentlichkeit; denn die braucht Plätze, wo man sich trifft.

In der erwachsnen, ‚richtigen’ Gesellschaft – das zwanzigste Jahrhundert hat es hinreichend bewiesen – ist der zuverlässigste Regulator, um dissoziale Kräfte zu neutralisieren, Öffentlichkeit. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass dies für die Kindergesellschaft weniger gälte. Bevor die Sozialpädagogik sich en détail den ‚Einzelfällen’ zuwendet, hat sie eine kulturpolitische Aufgabe en gros: der Kindergesellschaft Raum lassen. Sie ist präventiv in einem eminenten Sinn.

Die Pädagogisierung des Kindes war eine Seitenansicht der Bürokratisierung der Welt, die Max Weber für die unvermeidliche Folge der Rationalisierung moderner Gesellschaften hielt, und vor drei, vier Jahren galt allenthalben die ‚Entpädagogisierung der Kindheit’ als eine vordringliche Kulturaufgabe. Seit PISA heißt es: Kehrt, Marsch! Eine Frenesie der Verschulung geht durchs Land, wobei gerade PISA dafür keinerlei Anhaltspunkt gab, sondern eher fürs Gegenteil.


Bildung besteht nicht aus Informationen, die auf Dateien fix und fertig gespeichert und in Ordnern wohlsortiert für den Abruf bereitliegen. Bildung ist ein lebendiges Vermögen. Sein Ursprung ist die Einbildungskraft. Seine gestalterische Energie ist die Fähigkeit zum wertenden Urteil. Einbildungskraft kann man niemandem „beibringen“. Allenfalls kann man sie „hervorrufen“ und herauslocken, wo sie brachgelegen hat. Urteilskraft dagegen kann man üben, indem man sie ausübt – am mannigfaltigen Material, das unsere Kultur bereithält. Der Stoff der Bildung ist kein Pensum, das abzuarbeiten ist, sondern ein Reichtum, der danach schreit, genommen zu werden; nicht mit Fleiß, sondern in Muße. 

Die Schulbeamten, die das nicht begreifen, sind unsere wahren Anti- Pädagogen!

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Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, München 1947, Bd. I
Hans Heinrich Muchow, Flegeljahre,Ravensburg 1963
Irenäus Eibl-Eibesfeld, Die Biologie des menschlichen Verhaltens, München 1995,
Lothar Krappmann, „Sozialisation in der Gruppe der Gleichaltrigen“ in: Ulrich/Hurrelmann (Hg.): Neues Handbuch der Sozialforschung, Weinheim 1991

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