Freitag, 29. Mai 2015

Die Idee zu einer Wissenschaft von der Erziehung war eine deutsche; aber eine kritische.


W. Busch

Die Idee, von der Kindererziehung eine Wissenschaft zu machen, war ein spezifisch deutscher Einfall. Er war sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass die ewig zu spät kommenden Deutschen am Ende des Ancien Régime das Gefühl hatten, erst durch Bildung sich zu einer Nation erheben zu können „wie die andern“.   

Aber mehr noch dem Umstand, dass die Idee, durch Kritik die Wissenschaften überhaupt erst auf den Punkt zu bringen, wo man sie von allen andern Arten des Meinens und Dafürhaltens zuverlässig unterscheiden kann, ebenfalls in Deutschland aufgekommen ist. Die Kritik der reinen Vernunft hatte zu allererst den Zweck, die da- mals aktuellste Form der Naturwissenschaften, die Newton’sche Physik, logisch zu rechtfertigen und gegen die Angriffe der dogmatischen Metaphysik abzusichern; die kritische Sichtung des menschlichen Erkenntnisvermö- gens war dafür zunächst nur das Mittel. Bis an sein Lebensende hat Kant daran gearbeitet, einen Übergang von der Kritik zur positiven Naturwissenschaft zu finden. Demgegenüber sind seine Arbeiten an den geisteswissen- schaftlichen Disziplinen beiläufig und unsystematisch geblieben. Seine Vorlesungen Über Pädagogik waren denn auch tatsächlich nichts Eignes, sondern, wie im Lehrplan der Königsberger Universität vorgeschrieben, ledig- lich ein Kommentar zu einem fremden Werk.*

Unter seinen Anhängern bildete sich aus ein radikaler Flügel aus, der „weitergehen“ wollte – weitergehn in der Kritik und im Wissen seinen letzten Grund dingfest machen; und weitergehen und die vorliegenden wissen- schaftlichen Fächer jetzt schon durch Kritik von den dogmatischen Schlacken reinigen und im Leben zu wirken.

Das war das Programm des Philosophischen Journals einer Gesellschaft teutscher Gelehrter, die seit 1795 von dem Philo- sophieprofessor und Theologen Friedrich Immanuel Niethammer in Jena herausgegeben (und in Neustrelitz gedruckt) wurde, deren Herausgeberkreis von Anbeginn Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schiller, Karl Leon- hard Reinhold, Salomon Maimon und Wilhelm von Humboldt angehörten. Bereits im zweiten Heft erschien von Niethammer selbst eine Übersicht der philosophisch-pädagogischen Literatur seit dem Anfang eines Einflusses der kri- tischen Philosophie auf dieselbe (S. 175-192), die im folgenden Heft fortgesetzt wurde und eine regelmäßige Beschäf- tigung des Philosophischen Journals mit dem Problem einer pädagogischen Wissenschaft einleitete.

Hier ein Zitat:

„Wenn also die Theorie der Erziehungskunst auf den Rang einer Wissenschaft Anspruch haben soll, deren Evidenz der Evidenz anderer philosophischer Wissenschaften gleich wäre, so müßten sich die pädagogischen Maximen aus der ursprünglichen Einrichtung der Gemütsvermögen herleiten lassen. Ob dies möglich sei oder nicht, läßt sich vor der Untersuchung weder beweisen noch widerlegen. Es erhellt aber daraus, daß eine solche Untersuchung möglich sei, welche der Theorie als Propädeutik vorangehen muß, und der erste Schritt wäre, welche die Theorie tun muß, um zu eigentlich wissen- schaftlicher Würde zu gelangen.

Wer sich nur ein wenig mit der Literatur der Pädagogik beschäftigt hat, wird uns zugestehen müssen, 1) daß die Frage, ob und wie die Pädagogik als Wissenschaft möglich sei, noch niemals bestimmt auf- geworfen worden, und daß demnach auch sogar der erste Schritt zu wissenschaftlicher Bearbeitung derselben noch zu tun sei; und 2) daß die unternommenen Versuche, mehrere pädagogische Maximen nebeneinander zu ordnen, die Theorie der Erziehungskunst deswegen nicht zur Wissenschaft erheben konnten, weil sie die Zulässigkeit und Richtigkeit dieser Maximen auf etwas anderes gründeten als auf die Einrichtung unserer Gemütsvermögen.“  Philosophisches Journal, I. Bd., 2. Heft , Neustrelitz 1795; S. 178

Niethammer selbst ist der Nachwelt nicht als Philosoph und Theologe, sondern vor allem als Theoretiker der Pädagogik bekannt geblieben, namentlich als Verfasser der Streitschrift Der Streit des Philanthropinismus und der Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts (1808; neu: Weinheim 1968) und als Begründer des sog. Neu- humanismus, der dann das deutsche Gymnasium beherrschte; da hatte er sich von der kritischen Philosophie aber schon abgewandt.

Und auch Johann Friedrich Herbart kommt von dort. Er war 1794 als einer der ersten Studenten zu Fichte nach Jena geeilt und galt lange als dessen Musterschüler. Viel schneller und viel radikaler als Niethammer hat er dann mit der kritischen Philosophie gebrochen, aber dem Prinzip, dass eine Wissenschaft als ein System aus einem Grunde heraus zu entwickeln sei, ist er treu geblieben. Und durchaus in kritischem Geist hat er seine All- gemeine Pädagogik (1806) 'praktisch' aus dem Zweck der Erziehung abgeleitetund nicht 'theoretisch' - wie Nietham- mer empfohlen hatte - aus der Einrichtung unserer Gemütsvermögen. 

Ob er ansonsten seinen systematisch wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht geworden ist, ist sehr fraglich, aber gewiss nicht hat der lebenslange Feind der Schule verdient, von den selbsterklärten Herbartianern am Ende seines Jahrhunderts zum Begründer des Pauk- und Memoriersystems der preußischen Volksschule verkehrt zu werden. Seit aber Friedrich Daniel Verschleiermacher mit der Beschwörungsformel "Praxis!" schamlos das Standesinteresse der Berufserzieher zum unvorgreiflichen Rechtsgrund der pädagogischen Tätigkeiten ver- dunkelt hat, war insbesondere in deutschen Landen an einen wissenschaftlich kritischen Blick auf das, was in Schulen, Heimen und sonstigen Anstalten geschah, ohnehin nicht mehr zu denken. "Wissenschaft von der Erziehung" war von da an ein Arkanum, das dem dienstbar ist, der am Hebel sitzt.


Mit andern Worten, das Programm des Philosophischen Journals ist heute noch so taufrisch wie vor hundertzwan- zig Jahren. Wobei sich der Zwiespalt, ob man die Pädagogik theoretisch aus der Beschaffenheit unserer Ge- mütsvermögen oder praktisch aus wohlerwogenen Zwecken ableiten soll, heute womöglich dialektisch auflösen lässt.



*) Der Text wurde 1803 wenige Monate vor seinem Tod von Freunden herausgegeben, er selbst konnte schon nicht mehr daran mitwirken. Tatsächlich handelt es sich um Manuskripte zu einer Vorlesungsreihe, die Kant über Jahrzehnte immer wieder gehalten hat – notgedrungen: Preußens König brauchte Pastoren, die das Volk Ehrfurcht vor Thron und Altar lehrten, und so waren alle ordentlichen Professoren gehalten, reihum über Päd- agogik zu lesen, was für ihre Studenten ebenso verbindlich war wie für die Lehrer. Vorschrift war auch, sich da- bei an bewährte Lehrbücher zu halten. Kant wich in seinem Vortrag gelegentlich von den fremden Kompendi- en ab und bereicherte sie durch Einschübe aus seinen beliebten Anthropologie-Vorlesungen; z. B.: Rousseau sagt: Ihr werdet niemals einen tüchtigen Mann bilden, wenn ihr nicht vorher einen Gassenjungen habt!

Dienstag, 19. Mai 2015

Schulangst in Deutschland.

aus beta.nzz.ch, 19. 5. 2015, 14.25 Uhr

Schulangst in Deutschland
Kinderseelen in Panik
Ein Gymnasiast bricht das Schuljahr ab, eine Realschülerin bricht während einer Französischprüfung zusammen – Schüler mit Schulangst gibt es immer häufiger. Liegen die Ursachen im Bildungssystem?

von Akiko Lachenmann, Stuttgart

Irgendwann ist Tim einfach nicht mehr zum Unterricht erschienen. Keiner kann sich das recht erklären, weder die Lehrer noch die Klassenkameraden. Er gehört zu der Sorte Schüler, die in allen Fächern glänzt und dazu noch nett und umgänglich ist. Er spielt mehrere Instrumente, engagiert sich in Vereinen, ist beliebt. Dass Tim tief im Inneren gegen Panikgefühle kämpfte, merkte man ihm nicht an. Irgendwann fehlte ihm die Kraft dafür, so zu tun, als wäre alles normal. Selbst dass er in der letzten Klausur die Bestnote erreichte, hatte für ihn keine Relevanz mehr. Tim leidet unter Schulangst.

Boom der Fernschulen

Nun, da seine Klassenkameraden sich auf das Abitur vorbereiten, verbringt er den Tag in seinem Zimmer. Was er durchgemacht hat, will er lieber seine Mutter erzählen lassen. «Morgens kam er nicht aus dem Bett», beginnt sie. Sie habe auf ihn eingeredet, bald gebettelt, bald gedroht, ihm die Kleider zurechtgelegt, das Frühstück gemacht. Aber Tim weinte und tobte, kam oft erst in der letzten Minute aus dem Zimmer. Irgendwann half aber kein Betteln und Flehen mehr. Tim, 17 Jahre alt, weigerte sich, das Haus zu verlassen.

Kinder und Jugendliche mit Schulangst gibt es seit je [?], das Phänomen ist vermutlich so alt wie die Schule selbst [ah!]. Wie viele Kinder heute in Deutschland darunter leiden, ist statistisch nicht erfasst. Doch die Experten sind sich einig, dass die Zahl der Betroffenen wächst. Die schulpsychologische Beratungsstelle in Stuttgart beispielsweise verzeichnet «eine deutlich gewachsene Zahl von Anfragen von Eltern mit emotional belasteten Kindern». Der Berufsverband für Kinder- und Jugendärzte schätzt, dass mittlerweile jedes fünfte Kind unter einer ausgeprägten Form von Schulangst leidet.

Das zeigt sich beispielsweise in dem Angebot von Fernschulen wie der Web-Schule in Bochum, die Jugendliche per Internet unterrichtet. Die Schule, die vor zwölf Jahren gegründet wurde, richtete sich ursprünglich an junge Künstler oder Sportler, die viel unterwegs sind. «Mittlerweile ist jedes dritte Kind, das wir unterrichten, wegen psychischer Probleme bei uns», sagt die Schulleiterin Anne Gebbers-Fritsche. Ihr Anfrageordner quillt über. Eben hat sie zwei neue Lehrer eingestellt.

Dass der Bedarf nach Hilfsangeboten wächst, erlebt derzeit auch eine Einrichtung in der Stadt Göppingen. Vor zweieinhalb Jahren gründete die Oberbergschule der Bruderhaus-Diakonie das «Beratungs- und Förderzentrum für emotionale und soziale Entwicklung». Hinter dem sperrigen Namen verbirgt sich eine von wenigen Schulen in Deutschland, die sich auf Jugendliche mit Schulangst spezialisiert hat. Die Einrichtung zog in das Parterre eines Wohnhauses mitten im Stadtzentrum. Sie gleicht eher einer gemütlichen Studenten-WG denn einer Schule: drei geräumige Zimmer mit Plakaten und Bildern der Schüler und eine Küche, wo sich mit Vornamen versehene Teedosen und Cornflakes-Packungen türmen. «Wir haben mit zwei Jugendlichen angefangen», sagt der Leiter Michael Schubert. Inzwischen klingeln morgens vierzehn Schüler an der Wohnungstür. «Wir müssen leider mit Wartelisten arbeiten», sagt der Schulleiter Schubert.


Der Unterricht sieht hier anders aus. Schubert schildert ihn am Beispiel von Theo, einem seiner ersten Schüler. Am Anfang unterrichtete der Pädagoge ihn allein: «Wir haben nur miteinander geplaudert, über Fussball, Belangloses.» Als er das Gefühl hatte, dass Theo gern zu ihm kam, fragte er ihn, welches Fach er am liebsten mag. Mathe, war die Antwort, und so begann Schubert mit einfachen Rechenaufgaben, zunächst zwei Stunden an zwei Wochentagen. Später nahm er Deutsch hinzu. Dann bekam Theo einen Mitschüler an seine Seite, dann einen zweiten Lehrer. Die Stunden nahmen zu, die Aufgaben wurden schwieriger, die Hausaufgaben umfangreicher. Am Anfang des neuen Schuljahrs gelang Theo schliesslich die Rückkehr an die Regelschule. «Nicht alle schaffen das», betont Schubert. «Einige machen ihren Abschluss bei uns.»

Entstanden ist das Zentrum, weil die Klinikschule der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Klinikum Christophsbad Göppingen nicht wusste, wohin mit all jenen Schülern, die nach dem Klinikaufenthalt noch nicht reif für die Regelschule sind. Angesichts des steigenden Bedarfs würden bald weitere Klinikschulen in Deutschland dem Göppinger Beispiel folgen, erzählt Schubert.

Bildung als Lebensaufgabe

Was hinter der Zunahme von Schulangst steckt, ist schwer auszumachen. Sie kann unterschiedliche Ursachen haben und kommt in verschiedensten Symptomen zum Ausdruck. Das Familienhandbuch des Münchner Staatsinstituts für Frühpädagogik zählt zehn Formen der Schulangst auf, von der Prüfungsangst bis hin zur Angst vor der Trennung vom Elternhaus. Häufige Ursachen sind Mobbing, Leistungsdruck oder Sozialphobien. Typische Symptome reichen von Kopf- und Bauchschmerzen bis hin zu Essstörungen.

Auch für Tims Mutter ist die Frage nach Gründen keine einfache. Ratlos blickt sie zurück auf seine Kindheit. «Er war immer gut drauf, neugierig, lernwillig, oft Klassenbester», so erinnert sie sich. Vielleicht war der plötzliche Tod eines Verwandten der Wendepunkt. Tim wurde damals einige Tage vom Unterricht befreit. Als er wieder zurück in der Schule war, lief es nicht mehr ganz so glatt. Das Lernen fiel ihm schwerer. Er litt darunter, es eigentlich besser zu können. «Da hat er vielleicht das erste Mal gespürt, nicht alles unter Kontrolle haben zu können», sagt die Mutter. Von da an wuchs seine Angst vor Prüfungen. Irgendwann sah er sich nicht mehr in der Lage, zu Klausuren zu erscheinen. Bald schob er eine Bugwelle von Nachschreibeterminen vor sich her. Tim entschied, die Klasse freiwillig zu wiederholen. Gegen Ende der Sommerferien räumte er sein Zimmer auf, hochmotiviert nahm er einen zweiten Anlauf. Zwei Monate hielt er durch.

Schulpflicht, Schulangst und Schulschwänzer

In Deutschland gibt es die gesetzliche Schulpflicht, wonach jedes Kind neun Jahre die Schule besuchen muss. Kinder mit Schulangst können nur davon befreit werden, wenn ihnen ein Arzt bescheinigt, dass sie schulunfähig sind. Allerdings gilt das unter Experten als letztes Mittel. Zunächst müsse man versuchen, die Angst dort, wo sie entstanden sei, wieder abzubauen, rät der Berufsverband für Psychiatrie. Das gelinge vor allem durch eine gezielte Zusammenarbeit von Eltern, Lehrern, Schulpsychologen und Sozialpädagogen.

Zu unterscheiden sind Kinder mit Schulangst von sogenannten Schulverweigerern, die zwar zur Schule gehen können, aber keine Lust dazu haben. Auch ihre Zahl steigt laut einer Untersuchung von der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege in Berlin. Schätzungsweise fallen ein bis zwei Prozent der Schüler oder etwa 100 000 bis 200 000 Kinder in diese Kategorie.

In der Regel hat jede Schule einen Beratungslehrer, an den sich betroffene Eltern wenden können. Beratungslehrer werden in speziellen Weiterbildungen darauf vorbereitet, Schülern und Eltern zu helfen, wenn Probleme bei der Bewältigung des Schulalltags auftauchen. In vielen Bundesländern bieten zudem schulpsychologische Beratungsstellen Hilfe an. Sie unterstützen Lehrer, bieten aber Ratsuchenden auch direkt Hilfe an.

Auf einem Kongress des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte machten die Mediziner vor allem schulische Überforderung für die Zunahme psychischer Probleme ihrer Patienten verantwortlich. «Wir sind nicht der Reparaturbetrieb einer verfehlten Schulpolitik», monierte der Kinderarzt Uwe Büsching, der den Kongress leitete. Eltern und Pädagogen würden zunehmend Druck auf die Pädiater ausüben, Medikamente zu verordnen. Dass die Heilmittel auffangen könnten, was die Schule aufbürde, sei jedoch trügerisch, sagt Büsching. Neben der immer wieder kritisierten verkürzten Gymnasialzeit (G 8) und der Benotungskultur sehen Soziologen aber auch hausgemachten Druck als Gefahrenquelle.

Die vom Familienministerium und von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Auftrag gegebene Studie «Eltern-Lehrer-Schulerfolg» fand heraus, dass sich immer mehr Eltern für den Schulerfolg ihrer Kinder verantwortlich fühlen – und diese unter Druck setzen. 75 Prozent der befragten Eltern geben an, dass Schule ein Reizthema sei, das das Familienklima vergifte. «Ich habe mit Müttern gesprochen, die ihren Beruf an den Nagel hängen, um mit ihrem Kind lernen zu können», sagt Katja Wippermann, eine Autorin der Studie. Der Soziologe Heinz Bude führt diesen Druck auch auf eine neue Statuspanik in der gesellschaftlichen Mitte zurück: Während die Elterngeneration selbst noch die Hausaufgaben allein verrichtet habe und auf die nächstgelegene Schule geschickt worden sei, werde das Kind über handverlesene Schulen notfalls zum Abitur getragen, um einen sozialen Abstieg zu verhindern, schreibt Bude in seinem Buch «Bildungsdruck». Kinder lernten in einem Klima der Angst.

Die Gründe liegen tiefer

Dass Prüfungsängste oft nur ein Symptom sind und die wahren Ursachen woanders liegen, zeigt der Fall von Corinna. Auch sie litt unter Prüfungsängsten, bevor sie in der zehnten Klasse eine stationäre Therapie in einer Klinik begann. Diese Zeit liegt lang zurück. Sie kann heute darüber reden und kommt ohne ihre Eltern zum Gespräch – ein blondes Mädchen mit Nasenring und eigenwilligem Outfit. Reflektiert erzählt sie ihre Leidensgeschichte, die zunächst nichts mit Leistungs-, sondern eher mit Anpassungsdruck zu tun hat.

In der fünften Klasse einer Realschule wird sie ausgegrenzt wegen ihrer gepunkteten Strumpfhosen und ihrer gestreiften Röcke. Sie bemüht sich, nicht mehr aufzufallen, misst sich immer mehr daran, was andere von ihr halten. Ihre Schulleistungen sind mässig. Sie glaubt, dass die Lehrer sie nicht mögen, fühlt sich abgelehnt. Hinzu kommen Probleme mit der alleinerziehenden Mutter, die keine Zeit hat, ihre Not zu erkennen.

In der zehnten Klasse setzen die Bauchkrämpfe ein, immer vor der Schule. Sie kommt zu spät zum Unterricht. Die Schmerzen werden schlimmer – auch aus Angst, nicht pünktlich zu sein. Ihre Noten werden immer schlechter. Erst verliert sie den Anschluss im Französisch. In den Klausuren hat sie Panikattacken, Schwindel und Brechreiz. Eines Morgens bricht sie vor dem Unterricht zusammen. Sie landet in der Klinik. Depressionen fesseln sie ans Bett.

Corinna weiss heute, dass nicht der Leistungsdruck der Grund ihrer Probleme war. Sie konnte ihm nicht standhalten, weil ihr Selbstvertrauen beschädigt wurde, durch Mobbing und ein schulisches Umfeld, das ihr nicht zu helfen wusste. Von der fünften bis zur zehnten Klasse habe sie kein einziger Lehrer gefragt, ob etwas nicht stimme, sagt Corinna. «Sie hatten von mir das Bild einer Schülerin, die sich halt drücken will.» Dass das Kultusministerium mittlerweile etliche Lehrerfortbildungen und umfangreiche Präventionsprogramme zu dem Thema anbietet, half in ihrem Fall nicht weiter.

Nach ihrem Klinikaufenthalt besuchte Corinna eine Freie Aktive Schule – eine Alternativschule in privater Trägerschaft, in der die Schüler selbst entscheiden, wann sie was und wie viel lernen. Dort durfte sie zu spät kommen und wurde immer pünktlicher. Sie machte den Realschulabschluss mit einem Notendurchschnitt von 2,6. Heute besucht sie ein sozialwissenschaftliches Gymnasium, um später Psychologie studieren zu können. «Die Ängste sind noch nicht besiegt», sagt sie. «Aber ich kann sie in Schach halten.»

Tim ist inzwischen 18 Jahre alt, aber noch nicht so weit. «Er braucht Zeit», sagt seine Mutter. Dabei wird sie ständig gefragt, wie es mit ihm weitergehe. Wie wär's mit einem Praktikum? Wofür interessiert er sich? Doch sie versuche derzeit, sich und ihrem Sohn solche Fragen nicht mehr zu stellen. «Jeder Erwartungsdruck ist in dieser Phase kontraproduktiv», sagt sie. Am Ende des Gesprächs zeigt Tims Mutter eine Seite aus dem Vokabelheft ihres Sohnes, aus der achten Klasse: eine weiche, ruhige Handschrift, dazwischen kleine Buntstiftzeichnungen von Comicfiguren. «Die hat er damals aus dem Arbeitsbuch abgemalt», sagt sie. «Da hat ihm Schule noch Spass gemacht.»



Nota. - Wo ist das Problem? Wenn täglich sechs Stunden nicht reichen, schicken wir sie eben neun Stunden lang in die Schule und setzen ihnen in betreuter Freizeit ein paar Sozialpädagogen in den Pelz, die sind für ihre Leistungskraft sprichwörtlich. Wenn dasselbe nicht reicht, darf es ruhig auch mal ein bisschen mehr davon sein.
JE

Wissenschaft vom Erziehen? (Aus einem Brief).


Berlin, den 19. 10. 2000 
Lieber Herr Professor P.,

während unseres Gesprächs über die Wissenschaftlichkeit der Pädagogik habe ich mich dazu hinreißen lassen, das Verhältnis der Erziehungswissenschaft zur Erziehungskunst zu vergleichen mit dem Verhältnis der Musik- wissenschaft zur Tonkunst. Das muss ich nach längerem Nachdenken revidieren!

Der Vergleich stammt übrigens von Herbart, der selber komponiert hat und also wusste, wovon er sprach. Unter seinen Prämissen stimmt der Vergleich auch. Aber die Prämissen sind falsch!

Musik und Musikwissenschaft verfügen [sic] über ein physikalisches Substrat, den Ton. Es gibt ein Fachgebiet namens Psychoakustik; da wird experimentell nachgewiesen, welche Signale wie übers Ohr ins Gehirn gelangen und dort als 'Musik' wahrgenommen werden.... Am Ende kann man sagen: Wenn du mit den Tönen 'dieses und jenes' anstellst, dann bekommst du eine Violinsonate (denn beachte: die Musik verfügt [sic] über Instrumente - die sich noch nach Hunderten von Jahren exakt kopieren lassen; wenn auch nicht ihr ästhetischer 'Effekt'). 

Und wenn man keine Violinsonate will, dann darf man 'dieses und jenes' eben nicht anstellen. Übrigens: Was eine Violinsonate ist, unterliegt einer historisch-kulturellen („geschmacklichen“) Setzung. Kann man bis Reger noch von „Sonatenform“ reden? Ab Webern schon nicht mehr? Usw. Aber das macht nichts: Es bleibt ja alles immanent! Es kommt aus der Musik und bleibt in der Musik. Wer Musik nicht hören will, darf getrost drauf pfeifen.

Die Pädagogik verfügt über kein physikalisches (oder sonst irgend objektivierbares) Substrat. Sie hat keine 'Instrumente' (sondern Institutionen, und die sind nicht kopierbar*! Und sagen Sie nicht, der Rohrstock sei ein Instrument: Der ist völlig unspezifisch, eine vorbestimmte Wirkung erzielt er höchstens zufällig.) Man kann also nicht sagen: Nimm das und das, mach damit dieses und jenes, und dann erhältst du Dings und Bums (alias Erziehungsziel, Menschenbild, „Werte“; für evtl. Nebenwirkungen beachten Sie die Packungsbeilage). Dings und Bums, inkl. Nebenwirkungen, sind immer genau so historisch-kulturell gesetzt wie die Sonatenform. Aber wie man sie „erhält“, und ob überhaupt, steht buchstäblich in den Sternen. Allerdings – „immanent“ ist das Ganze nicht! Man kann nicht sagen: Da hör ich gar nicht hin und darauf pfeif ich; denn dieser Krake hat seine Fangarme und Saugnäpfe (die vor allem) überall. 

(Bei Herbart gibt es ein solches Substrat, weil er sich nämlich die Psychologie als Physik vorstellt: sogenannte 'Vorstellungsmassen' (die man absichtsvoll 'erzeugen' könne) 'überwiegen' andere 'Vorstellungsmassen', und so 'entsteht' ein 'Wille'. Und was die 'Zwecke' anlangt: Er hat zwar vorne herum die „Wertlehre“ ausgetrieben, da ist er [recte] sogar kantischer als Kant; aber hintenrum hat er sie dann wieder eingeschmuggelt... Übrigens ist seine Ethik nur in der Durchführung (auf die's freilich ankommt) bizarr; in der Grundidee ist sie das Beste am ganzen Herbart: dass nämlich das Ethische nur ein Sonderfall des Ästhetischen sei.)

Eine ('vergleichende') pädagogische Wissenschaft, wie Sie sie beschrieben haben, könnte (wenn sie eben mehr sein wollte als ein Zweig der Humanethologie) nur die Meinungen sammeln, die andere Leute über ein X geäußert haben, das sie „Erziehung“ nennen; und sie logisch-kritisch aufbereiten. Darüber hinaus kann sie in literarischer Sprache erzählen, was dieselben Leute - soweit man es sehen kann - dabei getan haben. In einer irgend exakten Weise beobachten kann sie es aber nicht, denn dazu bräuchte sie Begriffe - und woher nehmen, wenn nicht stehlen? 

Und in ganz besonders farbigen Worten kann sie uns ausmalen, was dabei „herausgekommen“ zu sein scheint - im Guten wie im Bösen. Das meine ich wörtlich: Es ist am Ende eine Frage von gut und böse. Das taugt nicht für Wissenschaft, sondern für den Roman. Viel was anderes macht die Dilthey-Schule übrigens nicht; nur lesen sich deren Romane nicht sehr unterhaltend, weil sie in so wichtigem Deutsch verfasst sind. In nüchterne Worte gebracht, zerfiele diese Forschungsrichtung in 1) Doxologie, und 2) historische Institutionssoziologie. Aber wie die beiden zusammenhängen (folgt die Meinung aus den Institutionen? oder die Institution aus den Meinun- gen? Oder was heißt hier „Wechselwirkung“?) - das bleibt immer Sache eines hermeneutischen Kunststücks.

Notabene, ob und in welchem Sinn die Ausbildung der pädagogischen Professionellen wissenschaftlich zu sein hat, ist eine ganz andere Frage.
...

*) Die empirische Sozialforschung kann - in Längs- und in Querschnitten - herausfinden, welche Institutionen in der Geschichte ursächlich “irgendwie“ mit der Verbreitung einzelner kultureller Kompetenzen in einem Gemeinwesen zusammenhängen. Aber die Summe dieser Kompetenzen insgesamt begrifflich unter „Erziehung“ zu fassen, ist genau so ein definitorischer Gewaltakt wie 'Intelligenz ist das, was der IQ-Test misst'. Darauf können sich Forscher in heuristischer Absicht einstweilen verständigen. Aber ansonsten ist es rein nominal und Schall und Rauch.
  
Mit den besten Grüßen
J.E.


Montag, 18. Mai 2015

Die Odenwaldschule, der ungebrochene Geist der Reformpädagogik und die Geißel des Gemeinschaftskults.


Bevor ich Ihnen wie angekündigt meine frühen Überlegungen über Pädagogik und Wissenschaft ans Herz lege, will ich doch noch des absehbaren und unrühmlichen Endes der Odenwaldschule gedenken. Wem schon immer der nicht totzukriegende Geist der Reformpädagogik ein Stachel im Fleische war, wird sich still ins Fäustchen lachen. Aber wir andern müssen nicht betreten schweigen. Da ich mich selber seinerzeit in diesen Dingen ins Zeug gelegt habe, darf ich es nicht einmal. Ich wiederhole, was ich seinerzeit in meinem damaligen Blog geschrieben habe. Ich muss überhaupt nichts daran ändern.


aus NZZ, 9. 11. 2011

Erzieherischer Eros und sexuelle Gewalt
Jürgen Oelkers über die dunklen Anfänge der Reformpädagogik

Von Urs Hafner · Die Odenwaldschule galt bis vor kurzem als die reformpädagogische Vorzeigeinstitution schlechthin. Das Internat in Hessen wollte es besser machen als die staatliche Schule: Die Schülerinnen und Schüler sollten fürs Leben lernen und ihre Persönlichkeit selbstbestimmt entfalten können, die Lehrer mit den Kindern statt gegen sie arbeiten. Doch seit publik geworden ist, dass sich Lehrkräfte während Jahrzehnten sexuell an ihren Zöglingen vergangen haben, steht das Internat im Zwielicht da. Mit ihm ist die gesamte Reformpädagogik in Verruf geraten. Freilich wird oft pauschal angeklagt, zuweilen auch aus purer medialer Skandalisierungslust.

Die Ursünde

Jürgen Oelkers nimmt in «Eros und Herrschaft» die schlimmen Vorfälle an der Odenwaldschule zum Anlass, «die dunklen Seiten der Reformpädagogik» - so der Untertitel seines neuen Buchs - aufzudecken. Der in Zürich lehrende Erziehungswissenschafter möchte das in seinen Augen beschönigende Selbstbild der Reformpädagogik und der Institutionen, welche sie im Programm führen, entlarven. Er formuliert für ein breites Publikum, wendet sich aber mit der Absicht, quasi ein dogmengeschichtliches Tabu der Pädagogik zu brechen, vor allem an pädagogische Kreise.


Oelkers hat zahlreiche, bereits edierte Belege aus den Anfängen der vier bekannten Landerziehungsheime Ilsenburg, Haubinda, Wickersdorf und Odenwald zusammengetragen. Das in sechs Kapiteln (nicht immer einleuchtend) geordnete Material aus der Zeit zwischen 1889 und 1933 liest sich wie eine einzige grosse Schauergeschichte: Da gibt es unter den Schulgründern - allesamt Theologen mit grossem Hang zur Egomanie - Intrigen und Sezessionen; da wird auch von Lehrern nationalistisches, antisemitisches und nationalsozialistisches Gedankengut gepflegt (seltener sozialistisches und pazifistisches); da werden Knaben und Kinder eingeschüchtert, geschlagen und sexuell missbraucht. Die Zöglinge kamen mehrheitlich aus begüterten Schichten, die sich die hohen Kosten für ihre oftmals renitenten, in der staatlichen Schule durchgefallenen Sprösslinge leisten konnten.

Die von Oelkers abstossend geschilderte Szenerie wird von den tonangebenden Protagonisten, allen voran Gustav Wyneken und Paul Geheeb, die sich für Meisterpädagogen hielten (und gemäss dem Autor von manchen Pädagogen noch immer für solche gehalten werden), ideologisch zweifach verbrämt: zum einen durch das Konzept der Lebensreform. Es propagiert eine Leib und Seele stärkende Körperkultur, die Abstinenz von allen weltlichen Genüssen, Rohkost, naturgerechte Kleidung, Luftbäder und das natürliche Landleben, das im Gegensatz zum Leben in der sündigen Stadt keinem verderblichen Einfluss ausgesetzt ist. Die zweite Verbrämung leistet das Konzept des pädagogischen Eros. Laut Oelkers verbirgt dieses hinter einer hochtrabend philosophischen Programmatik, die eine persönlich-platonische Beziehung zwischen Lehrer und Schüler postuliert, ein meist pädophil motiviertes sexuelles Herrschaftsverhältnis.

Dieses Herrschaftsverhältnis ist ideell in der 1889 erfolgten Gründung der englischen New School of Abbotsholme angelegt, die den deutschen Landerziehungsheimen Pate stand. Die Gründer des Knabeninternats, das den «ganzen Menschen» bilden sollte, propagierten «the love of comrades», die Kameradenliebe - «eine Bezeichnung», so Oelkers, «die der homosexuelle Dichter Walt Whitman an verschiedenen Stellen» in einer Liedersammlung verwendet hat. Auf Whitmans Anschauungen hat sich der homosexuelle Edward Carpenter berufen, ein Verfechter der Knabenliebe, der mit dem homosexuellen Cecil Reddie befreundet gewesen ist. Reddie wiederum war der Gründer des Abbotsholme-Internats. Was Oelkers suggeriert, aber argumentativ nicht deutlich genug ausführt: Eine zentrale Ursache der sexuellen Übergriffe an den Reformschulen findet sich in dem homosexuell und päderastisch imprägnierten Gründungszirkel der ersten der neuen Schulen.

Wenig Zwischentöne

Jürgen Oelkers ist Erziehungswissenschafter, nicht Historiker. Sein Buch läuft auf ein Plädoyer für die heutige staatliche Schule und ihre pädagogischen Reformanstrengungen hinaus. Es würdigt deren Verdienste um einen für alle Schichten erschwinglichen und kindergerechten Unterricht - für Oelkers war die staatliche Schule, wenn man so will, schon immer reformpädagogisch und im Hinblick auf die Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler erst noch erfolgreicher als die Landerziehungsheime. Wie es gewesen ist, interessiert ihn nur insofern, als die Vergangenheit seine These stützt, dass das Versagen der Odenwaldschule in ihren Anfängen angelegt ist.

Das Buch vermag daher als erziehungswissenschaftlicher Beitrag zur Diskussion um die Reformpädagogik, nicht aber als eine Geschichtsschreibung der reformpädagogischen Anfänge zu überzeugen. Zu wenig beachtet der Autor die Historizität, und schnell fällt er sein Urteil, das wenig Zwischentöne zulässt.


Nota. - Es war abzusehen, dass die Kostgänger der deutschen Schulroutine den Skandal an der Odenwaldschule zum Anlass nehmen würden, sich unter Adenauers Parole Keine Experimente! die Zumutungen der Reformpäd- agogik ein für alle Mal vom Hals zu schaffen. Ein bisschen feilen hier, ein bisschen schrauben dort, und ein bisschen Tünche überall – das ist die Reform, die unsrer Schule frommt und ihren treuen durchschnittlichen uncharismatischen Dienstleuten. Nüchtern, prosaisch und ohne Aura.

Dabei sind es nicht die Künstlerpersönlichkeiten unter den Pädagogen, die die Landschulheime zu Brutstätten des „pädagogischen Eros“ machen. Konfessionelle Internate sind, habt ihr das schon vergessen, nicht minder anfällig. Und vor Charismatikern wimmeln sie nicht.

Etwa die Frage, ob ein Päderast ein ordentlicher Pädagoge sein kann, und die andere Frage, ob ein Pädagoge ein ordentlicher Liebhaber sein kann. Zum ersten: Im Prinzip schon, wenn er nicht sonst gravierende Fehler hat; unter Umständen bringt er gar etwas mit, was andere nicht haben. Zum zweiten: Ganz gewiss nein, denn anders als bei den Griechen findet Pädagogik bei uns in öffentlichen Institutionen statt (und wenn sie nicht öffentlich sind, sondern weltanschaulich gebunden und privat, gilt folgendes erst recht:) – und da ist der Pädagoge Repräsentant der Welt und ihres Räderwerks gegenüber dem Schüler. Das ist ein gewaltiges Verhältnis, aber Liebe ist ein intimes Verhältnis, und wird beides miteinander verschnitten, wird schnell ein Gewaltver- hältnis daraus. Das hat mit der griechischen Knabenliebe, die einen kultische aristokratische Einrichtung war, gar nichts zu tun. Ein Pädagoge, der sich heute in unsern Breiten darauf beruft, ist ein Heuchler.

Es ist ganz etwas anderes, das die Landerziehungsheime anfällig macht für allerlei Arten des Missbrauchs – etwas, das sie mit den konfessionellen Internaten gemein haben. Es ist der Kult der verschworenen Gemeinschaft mit ihrer omertà, dem mafiösen Gesetz des Schweigens. Die Wurzeln der Reformpädagogik liegen in der deut- schen Jugendbewegung (aber ganz genau genommen lagen die Wurzeln des Wandervogels in der Reformpädago- gik). Die 'Gemeinschaft' als politisches Ideal war ein Gegenentwurf zum bürokratisch maschinellen preußi- schen Reich, und das Führerprinzip war ihr Korrelat – eine Antwort auf die parlamentarische Klientelwirtschaft. Ich sage nichts Neues, wenn ich daran erinnere, dass viele der Ingredienzien, aus denen der Nationalsozialis- mus sein ideologische Gebräu zusammengekocht hat, aus dem Vermächtnis der Jugendbewegung herkommt. Und dass die Bünde schließlich verboten wurden – selbst Blühers Neuwandervogel – lag nur daran, dass sie ihre Selbständigkeit nicht preisgeben wollten. Mental standen sie der HJ, von der sie vereinnahmt wurden, gar nicht fern.

Als ich vor Jahren selber bemüht war, ein Landerziehungsheim zu gründen, habe ich sorgfältig darauf geachtet, der Gemeinschaft keinen Eingang ins pädagogische Konzept zu gewähren. Von Geselligkeit ist dort die Rede, und das ist nicht Gemeinschaft-light, sondern der spezifische Gegensatz zur Gemeinschaft. Zu einander gesellen können sich nur Personen, ihr Verhältnis zu einander ist Wechselwirkung und nicht Alle an einem Strang. Und besondern Wert habe ich bei der Wahl des Standorts darauf gelegt, dass die Schüler jedes Wochenende mit öffentlichen Verkehrsmitteln  selbständig nach Hause fahren können. Nichts ist schädlicher für eine freie Geselligkeit als das Schmoren im eignen Saft.

Und kein besseres Mittel gegen das Gesetz des Schweigens, als freie Geselligkeit.
JE



Sonntag, 17. Mai 2015

Was kann die Philosophie zur Pädagogik beitragen?


Rembrandt, Der Philosoph 

Ich war vierzehn Tage vom Netz. Da hatte ich Muße und blieb mir nichts übrig, als meine Festplatte durchzu- sehen. Dabei bin ich auf ein paar frühe Reflexionen über den präsumtiv wissenschaftlichen Charakter der neu- eren Pädagogik gestoßen. 

Ich werde sie in den nächsten Tagen hier wiedergeben; nicht als Neuheiten, denn ich habe sie seither in etlichen andern Texten ausgeführt. Sondern um nachzuweisen, dass ich in meinen eigenen pädagogischen Reflexionen an keiner Stelle und zu keiner Zeit von vorgefassten Begriffen und vorersonnen Theorien ausgegangen bin.

Ich bin zu meinem pädagogischen Erwerbsberuf als reiner Praktiker gekommen – unbefangen und lediglich mit dem gesunden Menschenverstand als Leitfaden.

Das heißt nicht vorurteilslos: Der gesunde Menschenverstand beruht auf den abertausenden Selbstverständ- lichkeiten des täglichen Lebens. Aber frei von theoretischen Vorurteilen, sofern sie sich als Begriffe darbieten. Die Selbstverständlichkeiten des Alltags treten nicht schon begrifflich auf, sondern als landläufiges Meinen. Solange man seine Meinungen nur für sich behält, mögen sie als solche durchgehen. Aber ab 2000 verfolgte ich das Projekt eines Landschulheims musisch-ästhetischer Prägung, da musste ich meine Meinungen Andern vortragen. Begriffliche Verallgemeinerungen wurden nötig. Da kam es mir zustatten, dass ich mich seit Jahren wieder der Philosophie zugewandt hatte.

*

Ich bin ja ein kritischer Kopf im weitesten Sinn. Ich mag nichts für wahr nehmen, was ich nicht verstanden habe. Die Gründe der Dinge erkennen wollen ist aber naiv und unkritisch. Mit den Dingen selbst habe ich ja nicht zu tun, sondern immer nur mit meinen Vorstellungen von ihnen. Eine Vorstellung Y beruht auf einer Vorstellung X, die ich mir zuvor schon gemacht habe, und sei es, ohne es recht zu merken. Eine gegebene Vorstellung zurückführen auf die Vorstellungen, die ihr zu Grunde liegen, ist das Verfahren der Transzenden- talphilosophie (und bewährt sich an allen Themen, so praktisch sie auch sein mögen).

Ernsthaft habe ich mich mit der Transzendentalphilosophie zuerst 1981 beschäftigt, als ich schon lange päda- gogisch berufstätig war. Nicht dass ich mich vorher mit ihr unernsthaft oder gar nicht beschäftigt hätte. Doch bei Kant hatte ich, trotz Universitätsstudium, gar nicht recht verstanden, worum es überhaupt geht. Das kam erst, als ich mich der radikalisierten Version Fichtes zuwandte. Freilich habe ich dort nicht unmittelbar nach Antworten auf pädagogische Fragen gesucht. Ich habe mein Fichte-Studium ganz unabhängig von meinem Beruf aufgenommen. Abstand und Muße waren dafür unverzichtbar, und die hatte mir ein biographischer Zufall verschafft.

Transzendentalphilosophie ist das Zurückführen alles Gesetzten auf sein Vorausgesetztes. Als letzten Grund findet sie das vorstellende Ich. Wie aber kommt das Ich zum Vorstellen? Es könnte doch untätig bleiben und auf-sich-selbst-beruhen, d. h. ein Ich gar nicht erst werden -?!

Wir sind aber alle Iche geworden und haben Dieses und Jenes in unserem Bewusstsein. Und damit allein hat die Transzendentalphilosophie ja zu tun. Alles andere geht sie nichts an. Da aber ein X sich zum Vorstellen aufgerafft hat und somit zu einem Ich geworden ist, müssen wir wohl annehmen, dass es das gekonnt hat. Die Transzendentalphilosophie fügt der Erkenntnis materialiter nichts hinzu. Sie mustert im Gegenteil nicht hin- reichend begründete Erkenntnis aus dem Wissensfundus aus. In diesem Sinn ist die Transzendentalphilosophie rein kritisch. Sie ist das allgemeine Schema (gr. [Sinn-] Bild), an dem das positive Wissen sich messen lassen muss. Was sich nicht genetisch aus ihrem Vorgang herleiten lässt, verfällt – bestenfalls als private Schrulle, schlimm- stenfalls als interessierte Lüge.

Das Positive der Transzendentalphilosophie ist das, was die Kritik am positiven Wissen bestehen lässt. Für sich hat die Transzendentalphilosophie gar keinen Bestand, sondern allein in ihrem Verhältnis zum wirklichen Wissen; und jenes hat keinen Bestand außer in seinem Verhältnis zur Kritik alias Transzendentalphilosophie.

*

Pädagogik ist gar kein positives Wissen. Sie ist, wo sie als gedankliches Gebäude auftritt, ein krudes Sammelsu- rium aus überkommenen Begriffen und privaten Meinungen. Und sie ist von vornherein verdächtig: weil sie immer im Dienst eines eigensüchtigen Berufsstands steht; anders kommt sie überhaupt nicht vor. Mehr als jeder andere Wissensbereich hat sie die strenge Kur der Kritik nötig. Ob sie dadurch zu positivem Wissen, gar zu einer Wissenschaft werden kann, steht noch auf einem andern Blatt. Aber selbst Einzelerkenntnisse kritisch verifizieren wäre hier schon ein Fortschritt.

Welchen Beitrag kann also die Kritik der Transzendentalphilosophie zur pädagogischen Einsicht leisten?

Ihr erstes Fundstück und Ausgangspunkt all ihrer genetischen Herleitungen ist das 'Ich, das sich selber setzt, indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt'. Sie findet es zuerst als Faktum: So war es, so ist der Mensch zum Vorstellen gekommen, so ist ihm eine Welt erstanden.

Doch dass es so ist, muss den Pädagogen noch nicht beeindrucken. Seine Frage ist ja, ob es so sein soll; oder nicht doch besser etwas Anderes?

Bevor überhaupt etwas „da war“, muss man annehmen, dass es dynamei dagewesen ist als Möglichkeit, als „Ver- mögen“. Trieb nennt es J. G. Fichte, und bestimmt es näher als Wollen.* Die Vorstellungstätigkeit ist nur zu begreifen, wenn der Mensch vor allen (!) andern Bestimmungen als wollend angenommen wird. Doch während der Philosoph sagt: So entsteht Vorstellung, sagt der Pädagogen: Vorstellung soll geschehen, eine Welt soll ent- stehen. Er muss seinen Zögling nicht nur – theoretisch – als wollendes Subjekt auffassen, sondern auch – prak- tisch – durch sein alltägliches Tun und Lassen bestätigen.

Das ist nun denkbar allgemein, aber nichtssagend ist es keineswegs, weil damit eine ganze Menge (sic) anderer möglicher pädagogischer Grundoptionen ausgeschlossen werden.

Doch positiv ist es auch: Irgendein Bauchgefühl ist noch kein Wollen. Es muss sich als begründete Vorstellung rechtfertigen können, um in unserer Welt Geltung zu beanspruchen. (Privat für mich selbst, in meiner Welt, mag ich ohnehin meinen, mögen und begehren, wonach mir das Herz steht.)

Es ist wahr, die tägliche pädagogische Praxis ableiten kann man daraus nicht. Das ist ohnehin unmöglich und auch gar nicht nötig. Denn Handlungen, die der Außenstehende als pädagogisch taxieren mag, geschehen sowieso, gewollt oder ungewollt, institutionell induziert oder ganz von allein. Die kann man nicht und muss man nicht „ableiten“. Prüfen und gegebenenfalls neu einrichten muss man sie, und dafür braucht man einen Maßstab; ein regulatives Prinzip nennt es die philosophische Schulsprache.

Das ist es, was die Philosophie – die Transzendentalphilosophie – für die Pädagogik sein kann: ein regulatives Prinzip. Wozu immer du deinen Zögling bestimmen willst, bedenke stets: Ein Ich ist er nur als wollendes Wesen, ein Ich 'setzt sich, indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt'. Aber wozu in specie du deinen Zögling bestimmen wollen sollst, und ob überhaupt, das kann dich keine theoretische Philosophie lehren. In den Philo- sophien aller Länder und aller Epochen findest du viele anregende Gedanken; aber was du davon zu deiner Handlungsmaxime machen willst, das musst du schon ganz alleine wissen.

*) vgl. 'Intentionalität' bei Husserl; auch das Marx’sche Bedürfnis hat diesen intentionell-thetischen Charakter.












Montag, 4. Mai 2015

Wider das stundenlange Stillsitzen.

Robert Doisneau
aus scinexx

Zwei Minuten Gehen bringt schon was
Lebenserwartung steigt bereits bei zwei Minuten Umhergehen pro Stunde

Bloß nicht sitzen bleiben: Wer von jeder Stunde im Sitzen nur zwei Minuten für leichte Aktivität wie langsames Gehen abzweigt, tut bereits enorm viel für seine Gesundheit. Das Risiko für einen verfrühten Tod sinkt dadurch schon um gut ein Drittel. Diesen Effekt haben US-Mediziner in einer groß angelegten Studie nachgewiesen. Das Ergebnis sei ein weiterer Grund, langes Sitzen durch mehr Bewegung zu ersetzen, plädieren die Forscher.


Ständiges Stillsitzen schadet der Gesundheit – und das liegt nicht nur daran, dass typische "Schreibtischtäter" sich zu wenig bewegen. Selbst wenn wir zum Ausgleich Sport treiben, wirkt sich lange Arbeitszeit im Sitzen noch schädlich aus. US-amerikanische Richtlinien empfehlen mindestens zweieinhalb Stunden einer mittelmäßig anstrengenden Beschäftigung pro Woche. Dazu gehören etwa langsames Radfahren, Tanzen, oder zügiges Spazierengehen, aber auch Haushaltstätigkeiten wie Gartenarbeit. Wer anstrengenderen Sport wie Fußball, Schwimmen, Joggen oder Kampfsport bevorzugt, dem reicht auch schon die Hälfte der empfohlenen Zeit als Ausgleich.


Schon lockeres Gehen reicht aus


Wenig erforscht ist hingegen bislang, ob auch Bewegungen, die uns nicht anstrengen wie langsames Gehen oder Stehen, einen positiven Effekt auf die Gesundheit haben. Mediziner um Srinivasan Beddhu von der University of Utah haben darum Daten von über 3.500 Studienteilnehmern über einen Zeitraum von fast drei Jahren auf diesen Aspekt hin ausgewertet. Zu den Teilnehmern zählten sowohl gesunde Menschen als auch Patienten mit chronischem Nierenversagen. "Wir wollten wissen, ob eine kürzere Zeit von sitzender Tätigkeit bei höherer Zeit von kaum oder nur leicht anstrengenden Aktivitäten mit einer höheren Lebenserwartung zusammenhängt", erklärt Beddhu.



Die Daten zeigten, dass schon leichte Anstrengungen, wie etwa beim lockeren Gehen, einen beachtlichen Effekt zeigen: Bei den gesunden Studienteilnehmern sank das Todesrisiko im Beobachtungszeitraum im Schnitt um 33 Prozent, wenn sie zwei Minuten pro Stunde mit solchen Tätigkeiten verbrachten, anstatt zu Sitzen. Bei den Nierenpatienten waren es sogar 41 Prozent. Schwach anstrengende Aktivität wie bloßes Stehen anstelle von Sitzen hatten dagegen keine Auswirkungen auf die Gesundheit.

Langes Sitzen erhöht die Todesrate

Der Effekt zeigt sich wahrscheinlich so deutlich, weil die Studienteilnehmer vorwiegend im Sitzen arbeiten: Den Forschern zufolge verbrachten sie im Schnitt mehr als die Hälfte ihrer Zeit sitzend. Dies war bei den Patienten mit Nierenversagen stärker ausgeprägt. Bei dieser Untergruppe nehmen sitzende Tätigkeiten sogar zwei Drittel der Zeit ein.


Beddhu und Kollegen treffen jedoch kein Urteil darüber, ob das Sitzen das Risiko zur Nierenkrankheit erhöht, oder ob Nierenpatienten eher zum Stillsitzen neigen. In einem Punkt sind sie sich aber sicher: "Eine lange Zeit zu sitzen erhöht die Todesrate", sagt Beddhu. "Unsere Ergebniss deuten darauf hin, dass ein Austausch von sitzender Tätigkeit gegen leichte Aktivitäten die Lebenswerwartung erhöht." (Clinical Journal of the American Society of Nephrology, 2015; doi: 10.2215/CJN.08410814)

(American Society of Nephrology, 04.05.2015 - AKR)


Nota. - Was für die Lebenserwartung schlecht ist, kann für den Kopf nicht gut sein
JE