aus scinexx
Homo sapiens-Kinder sind „Nesthocker“
Studie: Lange Kindheit im Vergleich zum Neandertaler-Nachwuchs bietet evolutionären Vorteil
Beim
Menschen dauert die Kindheit wesentlich länger als beispielsweise beim
Schimpansen. Ein ähnliches Muster hat ein internationales Forscherteam
jetzt auch beim Vergleich von Menschen- und Neandertaler-Kindern
entdeckt: Moderne Menschen werden, indem sie ihren Reifeprozess
ausdehnen, im Vergleich zu Schimpansen und Neandertalern als Letzte
„flügge“. Dieses beschert ihnen jedoch einen einzigartigen
evolutionären Vorteil, schreiben die Wissenschaftler in der
Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“
(PNAS).
Mithilfe von
Synchrotron-Strahlen, einem präzisen Röntgenverfahren, haben die
Forscher in ihrer neuen Studie das Wachstum von zehn jungen
Neandertaler- und Homo sapiens-Fossilien nachvollzogen und sichtbar
gemacht. Abgesehen von einer Überlappung, die für nahe miteinander
verwandte Arten typisch ist, entdeckten die Forscher auch die
signifikanten Unterschiede in deren Entwicklung. Trennung der
Abstammungslinien vor sechs bis sieben Millionen Jahren Zwischen nahe
verwandten Arten, wie zum Beispiel Mensch und Schimpanse, existieren
zahlreiche Unterschiede. Sie manifestierten sich, als sich die beiden
Abstammungslinien vor sechs bis sieben Millionen Jahren trennten und
beide Arten sich unabhängig voneinander weiter entwickelten. Forscher
wissen jedoch sehr wenig darüber, welche Veränderungen zur Abspaltung
der beiden Linien vom gemeinsamen Vorfahren führten, wie diese
Veränderungen entstanden und wann sie auftraten. Frühe Menschen besaßen
kurze Wachstumsperioden Ähnlich wie Schimpansen wiesen auch frühe
Menschen – Australopithecinen und Vertreter der Gattung Homo – kurze
Wachstumsperioden auf. Warum, wann und in welcher Gruppe früher
Menschen die „modernen“ Voraussetzungen zu einer relativ langen
Kindheit entstanden sind, ist ebenfalls noch nicht bekannt.
Eine der bisher
nur wenig verstandenen Veränderungen ist unsere einzigartige
Lebensgeschichte beziehungsweise die Art, in der wir unser Wachstum,
unsere Entwicklung und Fortpflanzungsbemühungen zeitlich aufeinander
abstimmen. Im Vergleich zum Menschen ist die Lebensgeschichte von
Menschenaffen durch eine kürzere Schwangerschaftsdauer, schnellere
Reiferaten nach der Geburt, ein jüngeres Alter bei der ersten
Fortpflanzung, eine kürzere postreproduktive Periode und eine kürzere
Gesamtlebensspanne gekennzeichnet.
Schimpansen bereits mit 13 geschlechtsreif
So erreichen
Schimpansen einige Jahre früher als Menschen die Geschlechtstreife und
bringen ihren ersten Nachwuchs im Alter von 13 Jahren zur Welt,
Menschen sind durchschnittlich 19 Jahre alt – ermittelt an der
weltweiten Bevölkerung. „Die langsame Entwicklung bei Kindern steht im
direkten Zusammenhang mit dem Entstehen menschlicher, sozialer und
kultureller Komplexität“, sagt Jean-Jacques Hublin vom
Max-Planck-Institut (MPI) für evolutionäre Anthropologie in Leipzig,
der zusammen mit Kollegen der Harvard University und der European Synchrotron Radiation Facility
(ESRF) in Grenoble für die neue Studie verantwortlich war. „Sie
verschafft dem Gehirn eine längere Reifezeit und eine ausgedehnte
Periode des Lernens.“
Zähne als Zeitspeicher
Man könnte
annehmen, dass die dokumentierten fossilen Funde keine
Lebensgeschichten preisgeben. Aber es hat sich herausgestellt, dass
viele Variablen der Lebensgeschichte eines Individuums stark mit der
Entwicklung der Zähne korrelieren. „Zähne sind beeindruckende
Zeitspeicher, die jeden einzelnen Wachstumstag aufzeichnen und ähnlich
wie die Jahresringe bei Bäumen den entsprechenden Fortschritt sichtbar
machen. Noch beeindruckender ist es, dass unsere ersten Backenzähne
eine winzige ‚Geburtsurkunde’ enthalten. Wenn Forscher diese
Geburtslinie finden, können sie exakt berechnen, wie alt ein Kind zum
Zeitpunkt seines Todes war“, erklärt Tanya Smith, die an der Harvard
University und dem MPI in Leipzig forscht.
Supermikroskop im Einsatz
Mithilfe eines
„Supermikroskops“ können die Forscher diese forensische
Herangehensweise nun auch beim Blick in die Vergangenheit anwenden: Am ESRF,
einer der größten Synchrotron-Anlagen der Welt, werden die dazu
notwendigen extrem starken Röntgenstrahlen produziert. „An der ESRF
können wir in unschätzbar wertvolle Fossilien hineinsehen, ohne sie zu
beschädigen, indem wir die speziellen Eigenschaften energiereicher
Synchrotron-Röntgenstrahlen nutzen“, sagt Paul Tafforeau: „Wir können
Fossilien in verschieden großen Maßstäben und in drei Dimensionen
untersuchen, von ihrer Gesamtform in 3D bis hin zu den mikroskopisch
kleinen Tages-Wachstumslinien. Die ESRF ist zurzeit die einzige
Einrichtung, wo diese Untersuchungen an fossilen Menschen möglich
sind.“
Wuchsen Neandertaler anders?
Wissenschaftler
waren sich jahrzehntelang uneins, ob Neandertaler anders wuchsen als
moderne Menschen. Die neue Studie von Smith, Tafforeau und anderen
Experten schließt nun einige der berühmtesten Neandertaler-Kinder mit
ein, darunter auch das allererste Fossil der menschlichen Familie, das
jemals gefunden wurde. Man nahm an, dass dieses Neandertalerkind aus
Belgien, das im Winter 1829/30 entdeckt wurde, vier bis fünf Jahre alt
war, als es starb. Mithilfe der Synchrotron-Röntgenstrahlen und
modernster Computersoftware konnten die Forscher das tatsächliche Alter
des Kindes zum Todeszeitpunkt jedoch auf drei Jahre datieren. Eine
bedeutende Erkenntnis aus der aktuellen 5-Jahres-Studie ist den
Wissenschaftlern zufolge, dass die Zähne bei Neandertalern wesentlich
schneller wachsen als bei Vertretern unserer eigenen Art, einige der
ältesten Gruppen moderner Menschen mit eingeschlossen, die Afrika vor
90.000 bis 100.000 Jahren verließen. Das Wachstumsmuster bei
Neandertalern liegt zwischen frühen Vertretern unserer Gattung – zum
Beispiel Homo erectus – und heute lebenden Menschen, so die Forscher.
Langsames Wachstum und lange Kindheit
Das für unsere Art
so charakteristische langsame Wachstum und die lange Kindheit scheinen
sich also erst kürzlich und ausschließlich in unserer eigenen Art
durchgesetzt zu haben. Diese verlängerte Reifeperiode kann nach Angaben
der Wissenschaftler zusätzliches Lernen erleichtern, eine komplexe
Kognition fördern und verschaffte dem frühen Homo sapiens
möglicherweise einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem Neandertaler.
Die neuen Studien
gesellen sich zu der wachsenden Zahl an Beweisen, die besagen, dass es
tatsächlich subtile Entwicklungsunterschiede zwischen uns und unserem
Cousin, dem Neandertaler, gibt. In der Fachzeitschrift Current Biology
berichteten Philipp Gunz und Kollegen des Max-Planck-Instituts für
evolutionäre Anthropologie erst vor Kurzem, dass auch die Entwicklung
des Gehirns bei Neandertalern anders verläuft als beim modernen
Menschen.
Sequenzierung des Neandertalergenoms
Darüber hinaus hat
die Sequenzierung des Neandertalergenoms durch Molekularbiologen um
Svante Pääbo spannende genetische Hinweise gefunden, die auf
Unterschiede bei der Entwicklung des Gehirns und des Skelettes bei
Neandertalern im Vergleich zum modernen Menschen hindeuten. Diese neuen
Methoden ermöglichen es den Forschern, die Ursprünge einer
grundlegenden menschlichen Eigenschaft zu beleuchten: den kostspieligen
aber vorteilhaften Übergang von der ursprünglichen Strategie „Lebe
schnell und stirb jung“ zur fortgeschritteneren Strategie „Lebe langsam
und werde alt“, die uns zu einer der erfolgreichsten Organismen auf
diesem Planeten gemacht hat.
(MPG, 17.11.2010 – DLO)
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