Der folgende Text stammt aus dem Herbst 1989, ist also süber dreißig Jahre alt, und erschien erstmals in unsere Jugend 6/1990, S. 229f. als Anhang zu „Vergeßt ´68!“. Man erkennt darin, wie es die Beschäftigung mit la folie, dem Irrsinn war, aus der nicht nur meine Vorstellungen von ‚normaler’ Pädagogik, sondern auch meine Auffassungen vom ‚Ich’ und von der ‚Welt’ stammen. Wolle man das Normale verstehen, sagt Kierkegaard irgendwo, müsse man nach einer spezifischen Ausnahme schauen…
1. Der Grundsatz, von dem auszugehen ist: Das Kind will ‚in der Welt’ sein.
2. Es will seinen ‚Platz’ in der Welt.
3. Das Kind sucht seinen Platz in der Welt.
4. Das Kind wird seinen Platz in der Welt finden.
5. Es wird ihn finden, nachdem es manchesmal geirrt hat.
Es wird sich irren über die Beschaffenheit der Welt.
Es wird sich irren über sein eigenes Vermögen.
Es wird sich also irren über sein ‚Bestimmung’ in der Welt: wo es seinen Platz suchen soll.
6. Es wird ihn dennoch finden – weil es in der Welt immer wieder auf andere Menschen trifft, die es schon – in Wort und Tat – auf seine Irrtümer aufmerksam machen werden.
7. Das ist die Regel.
8. Und dann kommen die ‚irregulären’ Sonderfälle. Nämlich wenn das Kind eine besonders schweren Irrtum begeht: über die ‚Beschaffenheit’ der Welt; über sein eigenes Vermögen; und ergo über seine ‚Bestimmung’.
Der Irrtum kann – in beiderlei Hinsicht – so groß sein, daß es meint, keine ‚Bestimmung’ in der Welt zu haben; daß es also glaubt, der Welt nicht angehören zu sollen: Es ‚ist der Welt abhanden gekommen’. Es denkt: „Die ganze Welt ist nicht für mich.“
Der seitenverkehrte Große Irrtum wäre: „Die ganze Welt ist nur für mich.“
Und das heißt in beiden Fällen: ‚Ich bin für die Welt nicht da’ – im einen Fall trotzig-resigniert, im andern anmaßend-begehrlich.
9. Beides ist Irrsinn: nämlich der totale Irrtum über ‚meine’ Bestimmung in der Welt.
10. Aber ist dieser ‚an sich’ erwiesene Irrtum darum auch schon „krankhaft“? ‚Aber offenkundig’, wird jedermann sagen – wo es nämlich über den resignierenden Rückzie- her geht: den Psychotiker, den ‚Autisten’.
Doch merkwürdig. Über sein alles vereinnahmendes Spiegelbild wird man eher sagen: Das Kind hat das Zeug zu einer glänzenden Karriere; es muß nur noch lernen, seinen Vorteil exakter zu… kalkulieren.
Also welche Sorte Irrsinn ‚krank’ ist und welche nicht, entscheidet offenbar ‚die Gesellschaft’ – und zwar danach, ob und inwieweit der Irrsinn mit ihren spezifischen Formen der des allgemeinen Verkehrs funktionell vereinbar ist.
Der Alles-gehört-mir-Typ ist in einer Gesellschaft, deren Verkehrsweise die Konkurrenz am Markt ist, ein ganz und gar ‚gesunder’. Wenn auch einer, mit dem privat keiner gern zu tun hat, so doch einer, den sie öffentlich alle hofieren.
Er ist nicht ‚krank’, sondern der ins Extrem verzerrte Prototyp der gesellschaftlichen Normalität.
Krank ist nur der, der sich dem Marktgeschehen versagt.
Aber irre sind sie beide, denn sie sind ‚der Welt abhanden gekommen’.
11. Die pädagogische Praxis hat ihren Ort im Kontinuum zwischen der Regel und dem totalen Irrtum.
Und daher ist der Erzieher auch kein verkappter Psychiater. Umgekehrt. Der („Kinder“-) Psychiater ist ein irrender Erzieher.
12. Denn die Aufgabe ist immer nur die: das Kind auf seinen Irrtum aufmerksam machen.
Wenn es sich aber um einen schweren Irrtum handelt, ist die Aufgabe offenbar schwieriger (aber auch deutlicher), als wenn es sich um einen ‚gewöhnlichen’ handelt.
Und nachdem der Irrtum schon begangen wurde, stellt sich die Aufgabe anders, als während er gerade erst begangen wird.
Die ‚Kinderpsychiatrie’ ist also der Grenzfall der ‚normalen’ Pädagogik: dem Kind beim Heranwachsen an, beim Hereinwachsen in die Welt ‚unter die Arme zu greifen’.
13. „Die Erziehung muß sich bescheiden, mehr negativ zu sein als positiv; mehr Wechselwirkung mit dem Zögling als Einwirkung auf ihn.“ (J.G. Fichte) ‚Erziehen’ heißt darum: nur die ‚innere Kraft’ des Kindes entwickeln helfen, und nicht: ihr eine Richtung anweisen. Heißt: Bedingungen schaffen, durch die die wachsenden ‚innere Kraft’ heraus gefordert wird und nicht verödet oder verschlissen.
Heißt den jungen Menschen bestätigen in seinem Wunsch, seine Bestimmung selber zu suchen, und in dem Zutrauen, sie auch selber zu finden.
14. Das ist die anständige Auffassung von der Erziehung.
15. Daraus folgt unmittelbar, daß das entscheidende Medium der ‚Wechselwirkung’ zwischen Kindern und Erwachsenen nicht das Reden, sondern das Handeln ist. Im Gebrauch der Wörter ist der Erwachsene grundsätzlich – und sei’s nur wegen der geringeren Übung – haushoch überlegen: Hier begegnet er ihm auf einem Terrain, wo es sich nicht behaupten kann. Solange der Erwachsene nur redet, ist die „Wechselwirkung“ für das Kind nur ein betrügerischer Schein. In Wahrheit wird es vergewaltigt – aber kann es nicht sagen.
16. Reden kann man „unter vier Augen – und notfalls auch allein.
Aber Handeln findet immer, wenn es kein Theater ist, in der Welt der Vielen statt: Als Handelnde sind die Menschen nie ‚allein’, oder auch nur ‚zu zweit’; sondern immer in der Welt der Andern.
17. Handeln ist realer als reden.
18. Es findet in Situationen statt, und die sind immer konkret.
19. Darum gibt es auch keine ‚Theorie’, an die der Erzieher sich ‚halten’ könnte.
20. Pädagogik ist keine Wissenschaft; jedenfalls keine „theoretische: sie lehrt nicht, was ‚wahr’ ist; sondern allenfalls eine „praktische“ : die sagt, was als gut und richtig gelten soll.
Erziehen ist eine Sache des Alltags.
21. Pädagogik ist, wo sie theoretisch wird, Kunstlehre.*
22. Und der – gute – Erzieher ist ein Künstler. Aber ein Aktionskünstler: er schafft keine ‚Werke’, sondern eben nur – Situationen
23. Zum Erzieher qualifizieren ihn zwei Eigenschaften: Sinn für Humor und Sinn für Proportionen. Beide ‚Eigenschaften’ kann man lernen – wenn auch nicht gerade auf der Schulbank.
24. Aber man müßte sie lernen wollen.
im Oktober 1989
*) Herbart war mir damals noch kein Begriff.
Sept. 2013
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