Dienstag, 28. Juli 2015

Ganztagsrisiko.




Aus gegebenem Anlass zitiert die heutige FAZ ein Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2003. Der hatte in einem Grundsatzurteil „zur Haftung bei Schulunfällen“ (VI ZR 34/02) entschieden, zur Erlangung von Schmerzensgeld „bei einem durch schülertypisches Verhalten verursachten Schulunfall“ müsse sich „der Vorsatz insbesondere auch darauf erstreckt haben, dass bei dem geschädigten Mitschüler ernsthafte Verletzungsfolgen eintreten“. Denn „gegenseitige Verletzungshandlungen von Schülern bei Spielereien, Raufereien und übermütigem und bedenkenlosem Handeln während der Abwesenheit von Aufsichtsper- sonen, die ohne den Willen zur Zufügung eines größeren Körperschadens erfolgen, gehören nach wie vor zum Schulalltag“.

Daraus folgt? Dass es in den bestehenden und noch zu befürchtenden Ganztagsschulen wird es keine Ab- schnitte geben wird, in denen die Schüler freie Zeit haben, in der sie ohne Aufsicht sind und tun können, was ihnen eben einfällt: Dem steht die Aufsichtspflicht entgegen. 

Es ist zutiefst verlogen, eine Schule machen zu wollen, die - "wenigstens streckenweise" - keine Schule ist. Das will ja auch keiner im Ernst; sie wollen das Ganztagsschulkind; das Kind, das, sobald es die elterliche Wohnung verlässt, nur noch Schüler ist.


Freitag, 24. Juli 2015

Intelligenz ist doch erblich, oder Die Wohllebenslüge der Pädagogen.

Ich seh, ich seh.
aus Tagesspiegel.de, 12. 1. 2012

Zwillingsstudien
Intelligenz ist erblich
Zahlreiche Studien haben gezeigt: Intelligenz ist erblich. Und je älter Menschen werden, umso größer wird der Einfluss der Gene.

Von Dieter E. Zimmer

Urplötzlich war es da sogar zur offiziellen Parteidoktrin aufgestiegen: Die Gene haben mit der Intelligenz und dem Charakter eines Menschen nichts zu tun, und wer anderer Meinung ist, muss sich Zweifel an seiner Verfassungstreue gefallen lassen.

Wie die Allgemeinheit in dieser heiklen Frage denkt, ist schwer zu sagen. Nach meinen Beobachtungen nimmt sie ganz selbstverständlich an, dass die Menschen in vieler Hinsicht von Natur aus unterschiedlich begabt sind, auch in intellektueller. Aber das politisch-pädagogisch-soziologische Milieu und mit ihm einen Großteil der Medien schaudert jeder Hinweis auf eine Implikation der Gene. Privat: Aber ja doch! Offiziell: „Biologismus!“ (wie das fällige Schimpfwort lautet).

Die offizielle Meinung jedoch irrt. Die Erblichkeit unter anderem des IQ ist kein ideologisches Fantasiegespinst, sondern ein objektiver empirischer Befund. Es ist heute so klar erwiesen, wie etwas wissenschaftlich nur erwiesen sein kann, dass die genetische Ausstattung bei allen unseren körperlichen wie geistigen Gaben ein gewichtiges Wort mitzureden hat, bei der Intelligenz sogar ein besonders gewichtiges. Die Erblichkeit der biometrischen Intelligenz (des IQ) ist fast so hoch wie die der Körpergröße. Sie beträgt 70 bis 85 Prozent.

Was das heißt? Dass die in einer bestimmten Population gemessenen Intelligenzunterschiede zu 70 bis 85 Prozent auf Unterschiede in den zugrunde liegenden Genen zurückgehen. Die Erblichkeit im technischen Sinn ist eine populationsstatistische Aussage, keine individuell-psychologische. Sie besagt nicht, dass der Einzelne die eigene Intelligenz zu drei Vierteln den Genen und einem Viertel allen anderen Einflüssen seines Lebens verdanke, die unter dem Passepartoutwort „Umwelt“ zusammengefasst werden. Sie besagt vielmehr, dass die in der betreffenden Menschengruppe gemessenen IQ-Unterschiede zu soundso viel Prozent genetische Gründe haben.

Klar ist das spätestens seit 1996. Damals setzte ein Taskforce-Gutachten der Amerikanischen Psychologiegesellschaft (APA) den IQ-Kriegen, die seit 40 Jahren in den USA und Großbritannien gewütet hatten, in Deutschland aber weitgehend ignoriert wurden, ein Ende. Seitdem bestreiten nur noch einige Außenseiter den Befund: Die messbaren Intelligenzunterschiede zwischen erwachsenen Menschen gehen überwiegend auf genetische Ursachen zurück.

Alles andere ist eine liebe Lebenslüge.

Die Aussagekraft von IQ-Tests wird regelmäßig in Frage gestellt. Ein Fehler.

Bewehrt – nicht bewährt – hat sich diese Lüge über die Jahrzehnte vor allem mit dem Standardeinwand: Erblich oder nicht, der IQ sei jedenfalls nichtssagend. IQ-Tests: läppische Spielchen, so aussagekräftig wie Kreuzworträtsel. Auch das ist ein Irrtum, wie jenes Taskforce-Gutachten von 1996 ebenfalls feststellte. Das Wort „Intelligenz“ ist nicht patentierbar. Jeder mag darunter verstehen, was ihm beliebt. Auch kann niemand sagen, was Intelligenz ist. Aber man kann beobachten und messen, was sie tut, bei dem einen besser, dem anderen schlechter: schlussfolgern, kombinieren, richtige Worte finden, abstrakte Probleme lösen, Wissen erwerben. IQ-Tests wurden zu Anfang des 20. Jahrhunderts erfunden, um den Erfolg in den Schulen der Industriegesellschaften vorherzusagen. Als Messinstrumente wirken sie heute etwas angestaubt, wie alte Barometer, aber den Schulerfolg sagen sie heute so zuverlässig voraus wie damals. Je nachdem, woran man ihn misst, korrelieren IQ-Tests mit ihm bis über 0.70 (1 ist die perfekte Korrelation, 0 gar keine) – was den IQ mit Abstand zum besten Instrument macht, den Schulerfolg vorherzusagen.

Die Korrelation zwischen IQ und Berufserfolg ist weniger hoch (0.20 bis 0.25), und das ist nicht verwunderlich, denn um in einem Beruf zu reüssieren, braucht es noch ganz andere Fähigkeiten als jene abstrakte Problemlösungsfähigkeit, auf die es in den Schulen ankommt. Aber die relativ niedrige Korrelation täuscht über einen Tatbestand von großer gesellschaftlicher Bedeutung hinweg: den Transistoreffekt des IQ. Menschen mit jedem, auch dem höchsten IQ können Hilfsarbeiter werden, und nicht wenige werden es tatsächlich. Aber niemand mit einem niedrigen IQ wird je Physikprofessor. Der Durchschnitts-IQ von naturwissenschaftlichen Akademikern liegt etwa 30 Punkte über dem Durchschnitts-IQ von Packern. Was das bedeutet? Dass sich die modernen Wissensgesellschaften unter anderem nach dem IQ stratifizieren, und zwar alle, die kapitalistischen wie die sozialistischen. In unseren modernen Gesellschaften setzt qualifizierte Arbeit (und das mit ihr verbundene höhere Einkommen und Sozialprestige) einen ausreichend hohen IQ voraus.

Der dritte Grund, warum der IQ nach wie vor nichts Nebensächliches ist, heißt „g“. So nannte Charles Spearman 1904 eine Fähigkeit, die an der Lösung aller irgendwie denkerischen Testaufgaben beteiligt sein muss. Denn alle sind miteinander korreliert: Personen, die bei einem Test gut abschneiden, können in der Regel auch andere Aufgaben gut lösen. Nichts wurde in der Intelligenzforschung jahrzehntelang so verlästert und bekämpft wie dieses g (für general ability, „intellektuelle Grundfähigkeit“). Es hat sich jedoch gut behauptet. Welche Denkaufgaben man auch ersann, sie hörten nicht auf, miteinander zu korrelieren. Ein breit gefächerter IQ-Test stellt höchst unterschiedliche Aufgaben: Man muss rechnen, Bilderfolgen logisch komplettieren, Redensarten erklären, Figuren im Geist drehen, herausfinden, was Katze und Maus gemeinsam haben … Aber alle diese Aufgabenklassen korrelieren. Die biometrische Intelligenz besteht also nicht, wie von vielen erhofft, aus vielen gesonderten, voneinander unabhängigen Spezialkompetenzen, die sich gegenseitig kompensieren könnten. Hinter ihr steht etwas, worauf alle Denkaufgaben angewiesen scheinen, das unheimliche g.

Die Forscher sind dem geheimnisvollen g auf der Spur.

Heute beginnt man gehirnphysiologisch zu verstehen, was dieses ominöse g sein könnte: die Kapazität unseres Arbeitsgedächtnisses, die Fähigkeit, schnell aktuelle Inhalte in diesen „Kurzzeitspeicher“ nachzuladen und überhaupt die Schnelligkeit des Gehirns. Die ganz hohen Erblichkeiten, 80 bis 87 Prozent, ergaben sich, wo man allein diese intellektuelle Hintergrundfähigkeit in Betracht zog.

Die Erblichkeitsberechnung ist keine Geheimwissenschaft. So kompliziert Datenbeschaffung und -berechnung auch sind, den Grundgedanken kann jeder nachvollziehen. Die Grundlage bildet der Vergleich von Verwandtenkorrelationen. Auf die einfachste Methode kam schon 1924 der Berliner Dermatologe H. W. Siemens. Man misst ein Merkmal wie den IQ bei zwei Gruppen von Verwandten: etwa ein- und zweieiigen Zwillingen. Die eineiigen stimmen in ihren Genen zu 100 Prozent überein, die zweieiigen zu durchschnittlich 50. Wäre die Übereinstimmung im IQ bei beiden Gruppen gleich hoch, so hätten offenbar die Gene nichts zu ihrer Ähnlichkeit beigetragen, und die Erblichkeit wäre null. Wenn die eineiigen dagegen genau doppelt so hoch übereinstimmten, wäre die Erblichkeit 100 Prozent. Man berechnet also, wie stark die Ähnlichkeit der eineiigen die der zweieiigen übertrifft. Korrelieren zum Beispiel die eineiigen mit 0.74, die zweieiigen mit 0.39, so lässt das eine Differenz von 0.35. Da auch zweieiige Zwillinge die Hälfte ihrer Gene miteinander teilen, bildet diese Differenz den Effekt der Gene nur zur Hälfte ab. Man muss sie verdoppeln, um zu ihrer vollen Effektstärke zu gelangen. Sie ist die Erblichkeit in ihrem weiten technischen Sinn, 70 Prozent in diesem Beispiel.

Die genauen Zahlen, die bei diesen Untersuchungen für die Erblichkeit der Intelligenz herauskamen, schwankten allerdings. Bis 1975 rechnete man mit bis zu 75 Prozent. Um 1980 schien die Zahl eher zwischen 50 und 60 zu liegen.

Natürlich ist die Erblichkeit der Intelligenz keine Naturkonstante, der man sich durch immer genauere Messungen immer dichter annähern könnte. Sie ist ein empirischer Messwert, der bei jeder einzelnen Studie etwas anders ausfallen wird: Verschieden zusammengesetzte Probandengruppen, verschiedene Messinstrumente, verschiedene Berechnungsmethoden – nie kann bei derlei Untersuchungen genau das Gleiche herauskommen. Aber Unterschiede bis zu 30 Prozent schienen doch ungemütlich hoch und nährten Zweifel an dem ganzen Verfahren.

In den frühen 1990er Jahren aber kamen die Forscher auf den Hauptgrund für die starken Schwankungen. Die meisten IQ-Tests waren Kindern und Jugendlichen gegeben worden, Schülern und Berufsanwärtern. Doch wenn man nur Erwachsene in Betracht zog, ergaben sich andere Zahlen. Zwischen dem siebten und zwanzigsten Lebensjahr nimmt die Erblichkeit erstaunlicherweise zu, und im genau gleichen Maß schrumpfen die Umwelteinflüsse auf die de facto bestehenden IQ-Unterschiede.

Welche Konsequenzen hat das für die Erziehung?

Eigentlich hätte man das Gegenteil erwarten sollen: dass die Umwelteinwirkungen immer folgenreicher werden, je länger sie den Einzelnen zurechtkneten. Aber so ist es eben nicht: Die genetischen Anlagen kommen mit dem Heranwachsen immer deutlicher zum Ausdruck. Heute tut man darum gut daran, die Erblichkeit bei Kindern und Erwachsenen strikt auseinanderzuhalten. Bei achtjährigen Kindern beträgt sie um die 40 Prozent, bei Erwachsenen 60 bis 75. In den neuesten Untersuchungen aus Skandinavien, den Niederlanden und Japan gehen die Schätzwerte sogar bis zu 85 Prozent.

Dass die wichtigste Ursache für die de facto bestehenden intellektuellen Begabungsunterschiede nicht die „Umwelt“ ist (die Schulqualität, die Bildungsnähe oder -ferne der Eltern, die Schichtzugehörigkeit, der Erziehungsstil), sondern die individuelle genetische Ausstattung, heißt indessen nicht, dass die Umwelt gleichgültig wäre. Die Gene fixieren keinen bestimmten IQ. Was sie tatsächlich festlegen, ist eine „Reaktionsspanne“, ein Potenzial. Dieses Potenzial verwirklicht sich – mehr oder weniger – in der Auseinandersetzung mit dem, was die Umwelt für den Einzelnen bereithält. Jede Intelligenz braucht beides zu hundert Prozent: eine genetische Anlage und einen der Intelligenz förderlichen Beitrag der Umwelt.

Die wichtige, aber bislang nicht endgültig beantwortete Frage lautet: Wie groß ist der Spielraum? Wie stark kann eine ungünstige Umwelt die Intelligenzentwicklung zurückhalten, eine günstige sie fördern? Und worin genau bestünden die spezifischen günstigen Umstände?

Auf verschiedenen Wegen sind die Forscher zu dem Ergebnis gekommen, dass der Spielraum zwischen 10 und 20 (von 100) IQ-Punkten liegen dürfte. Weniger klar ist, wie viel sich von einem durch umfassende Fördermaßnahmen in der Kindheit erzielten IQ-Anstieg bis ins Erwachsenenalter hält.

Darum hätte die Anerkennung genetisch bedingter Begabungsunterschiede gar nicht die bösen Folgen, die das juste milieu befürchtet. Ja, sie würde die Gesellschaft von einer Lebenslüge mit illusionären Erwartungen im Gefolge befreien. Das realistische Erziehungsziel aber kann immer nur sein, jedem Begabungspotenzial zu seiner oberen Grenze zu verhelfen.

Dieter E. Zimmer ist Journalist, Autor und Übersetzer. Sein neues Buch „Ist Intelligenz erblich? Eine Klarstellung“ erscheint am Montag im Rowohlt-Verlag (320 Seiten, 19,95 Euro).

Samstag, 18. Juli 2015

Eine kurze Geschichte der Schule.


Das ist der entscheidende Gedanke: Die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben setzt heute eine Menge Wissen voraus, das der Mensch nicht einfach so nebenher und ganz von alleine erwirbt. Das ist weniger selbstverständ- lich, als es klingt. Denn bis vor rund anderthalb Jahrhunderten galt dieser Satz nur für die Angehörigen der herrschenden Klassen. Deren Kinder brauchten immer eine ganz besondere Schule, die sie später zum Herr- schen - und dazu gehört das glaubwürdige Repräsentieren der Herrschaft - befähigte. Und gleich an dieser Stelle fällt auf: Eine Schule musste diese Schule nicht unbedingt sein, denn eine solche taugte wohl für werden- de Klerikernicht aber für künftige Krieger und Regenten. Doch einer besonderen Lehrzeit im Dienst bei einem Fürsten mussten auch die Kinder des Adels sich unterziehen.

Die Kinder der einfachen Leute, und die waren die große Mehrheit, wuchsen in den Haushalt ihrer Familie hinein, und die war in der agrarischen Gesellschaft die eigentliche Produktions- und Wirtschaftsstätte. Zum Bauern wuchs man auf dem eigenen Hof heran. (Die Kinder der Tagelöhner lernten Vieh hüten.) Das zünf- tige Handwerk mit seinem ausgefeilten Lehrlings- und Gesellensystem gehörte schon zu dem privilegierteren Teil der städtischen Gesellschaften. 



Und schließlich die kaufmännischen Patrizier - waren die Gesellschaftsklasse, in der "die Schule" zur Norm geworden ist. Die städtischen Bürgerschulen wurden, nach der Reformation zumal, zum Grundbestand, auf dem unser heutiges Schulwesen aufgebaut ist, auf sie geht das humanistische Gymnasium zurück, das zum Paradigma der Schule wurde. Hier lernte man, was man als Bürger unter Bürgern wissen und können musste, als Berufsmensch, der sich unter seinesgleichen im Marktgeschehen zu orientieren und behaupten weiß. Und als dann das Kapital in die Industrie zu fließen begann, wurden neben den Kaufleuten immer mehr Ingenieure gebraucht. Die Realschulen machten den Gymnasien Konkurrenz, und die spezialisierten sich auf die Vorberei- tung zum Höheren Staatsdienst.

Dagegen war die Volksschule von Anbeginn Restschule. Die bildete nicht zum Bürger, sondern konditionier- te zum Untertan und Tagelöhner. Lesen, Schreiben, das Kleine Einmaleins und der Katechismus, mehr wurde nicht benötigt. Das war der Typ des Proletariers, den die Industrialisierung brauchen konnte.

Die Geschichte der Schule im 20. Jahrhundert ist schließlich die Geschichte, wie das Schulsystem immer mehr zum Schatten und zum Wurmfortsatz der Verwaltungen wurde, der öffentlichen mehr noch als der wirtschaftli- chen. Mit der Explosion des Öffentlichen Dienstes explodierten die Gymnasien, und mit wachsender Masse sanken die Maßstäbe.

Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück: Die Aufgabe einer Schule ist es, Wissen zu vermitteln, das der Mensch nicht einfach so nebenher und ganz von alleine erwirbt. Setzt die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben heute mehr Wissen voraus als früher, so dass eine längere Lernzeit erforderlich würde?

Jein. Einerseits ist die Masse von Wissen, das einer heute braucht, unermesslich, doch andererseits ist es so schnell überholt wie nie zuvor, und man tut gut daran, es sich nicht allzu gut zu merken, damit im Gedächtnis gleich Platz geschaffen werden kann, wenn neue Nachrichten eintreffen; und was man eben nicht grad gewärtig hat, darauf kann man jederzeit im Internet zugreifen.

Es ist nicht wirklich so, dass man heute (noch) mehr wissen muss als gestern; memorieren bis der Kopf raucht ist jedenfalls so unangebracht wie nie. Aber man müsste besser wissen. Was damit gemeint ist? Aber das wissen Sie doch längst selber! Gemeint ist, dass man das, was die (flüchtigen) Daten bedeuten, gründlicher verstehen sollte - denn dann fällt man nicht jedesmal in Verwirrung, wenn man die alten Daten gegen neue auswechseln muss. Der Haken sei der, dass man das Verstehen der Schüler nicht mit einem Test erheben kann? Da haben Sie nun auch wieder Recht.

Und wenn man bei PISA I zuerst noch annahm, mit den 'Kompetenzen zur Welterschließung' sei Verständnis gemeint gewesen, wurde bald klar, dass lediglich die Testmethode des Multiple choice mit dem Brecheisen durch gesetzt werden sollte.

Hinzuzufügen wäre freilich noch, dass es wohl
in der Natur der Schule selber liegt, dass sie mehr zum Memo- rieren neigt als zum verstehen-Lehren.

6. 7. 2015




Donnerstag, 16. Juli 2015

Schule macht kurzsichtig.



Unter der Überschrift Sehen braucht Sonne brachte die FAZ am 7. Juli einen Beitrag von Martina Lenzen-Schulte über den galoppierenden Anstieg der Myopie in aller Welt: In Peking sind vier von fünf Teenagern kurzsichtig, in Südkorea sind es bis 98% der Schulkinder. Bei uns ist es noch nicht ganz so schlimm: Hier sind es nur 35%, aber das ist schon reichlich und wird immer mehr. "Immer mehr Kinder brauchen eine Brille, weil sie drinnen lesen, statt in der Sonne zu spielen."

"Soeben wurde in Plos One eine Arbeit veröffentlicht, wonach bei Rhesusaffen natürliches Licht ein entscheidender Faktor ist, um die Entwicklung einer Kurzsichtigkeit abzumildern oder zu verhindern, wenn man die Versuchstiere für drei Stunden in einer kritischen frühen Phase der Kindheit natürlichem Licht aussetzte, statt sie in rein künstlicher Beleuchtung zu halten - und zwar selbst unter Bedingungen, die ansonsten Kurzsichtigkeit fördern (doi: 10.10.1371/journal.pone. 0127863). ...

Die Größenordnung, von der man hier spricht, sind ein bis zwei Stunden mehr am Tag, rausgehen sollten diejenigen Kinder, bei denen sich die Kurzsichtigkeit erstmals zeigt - meist sind das Schüler. „Wir können aus neunzehn Studien mit mehr als 20 000 Teilnehmern ableiten, dass es das Risiko einer Kurzsichtigkeit um ein ganzes Drittel senkt, wenn Kinder mehr als zwei Stunden statt weniger als eine Stunde im Freien verbringen“, fasst Wolf A. Lagrèze das derzeit verfügbare Wissen zusammen. Lagrèze leitet an der Universitätsaugenklinik in Freiburg die Sektion für Neuroophthalmologie, Kinderophthalmologie und Schielbehandlung ...

Ein weiterer Risikofaktor ist... eindeutig die Naharbeit. Muss sich das Auge auf Gegenstände in der Nähe konzentrieren und geschieht dies womöglich noch bei schlechter Beleuchtung, ist das für die Sehzentren im Gehirn ein umso größerer Anreiz, den Augapfel zum Längenwachstum anzuregen. Kurzsichtigkeit ist nämlich letztlich darauf zurückzuführen, dass der Augapfel, gemessen an der Brechkraft des Auges, zu lang ist. So schaffen es die gekrümmten Oberflächen von Hornhaut und Linse nicht mehr, die Lichtstrahlen eines Bildes exakt auf die Ebene der Netzhaut am hinteren Teil des Augapfels zu bündeln. 

Lesen ist ein Paradebeispiel für Naharbeit, weshalb sich die Kurzsichtigkeit auch meist in den ersten Schuljahren manifestiert: Nachdem der Augapfel im Alter von etwa vier Jahren fast ausgewachsen ist, stellt in westlichen Ländern vor allem das Lesen den Hauptanreiz für ein weiteres Längenwachstum des Augapfels dar. Das begünstigt daher speziell auch in asiatischen Ländern die Myopie-Epidemie. Der Wunsch nach Aufstieg durch Bildung ist dort derart ausgeprägt und verbreitet, dass die Kinder bereits von der ersten Schulklasse an so gut wie nur drinnen lernen und damit meist hinter Büchern hocken."

Wissen Sie, Lieber Leser, was mir dazu einfällt?

Ja, Sie wissen es selber, da bin ich sicher.


Sonntag, 12. Juli 2015

Es gibt doch noch Widerstand gegen die Ganztagsschule.


Ganz zaghaft erlaubt sich neuerdings die Frankfurter Allgemeine ein paar skeptische Worte zur schleichenden Verstaatlichung der Kindheit im westlichen Deutschland (im östlichen wars immer so)

"Viele Krippen und Ganztagsschulen werden neu eröffnet. Viele wollen mehr – doch jede zweite Familie hat genug. Der Ausbau geht weiter, und Eltern fürchten, dass Angebote schleichend zur Pflicht werden", schreibt Jan Grossarth unter der Überschrift Kindheit nach Stundenplan in der heutigen Ausgabe; freilich nicht im Feuilleton, sondern im Wirtschaftsteil. 

Im Wirtschaftsteil? Da gehört es hin, denn da kommt es her:  "CDU, FDP und die Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände sehen den wirtschaftlichen Nutzen der 'Vereinbarkeit', SPD, Grüne und Linke emanzipatorische Aspekte. Arbeitnehmern und Kindern aber auch mehr Freizeit zu ermöglichen, diese alte Idee spielt in der großen Koalition keine große Rolle. In dieser Woche sagte die Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) sogar, sie wolle nun den Ausbau von 24-Stunden-Krippen forcieren. Dorthin könnten Arbeiter in der Nachtschicht oder spät arbeitende Kassiererinnen ihre Kleinkinder bringen. Die Wirtschaftsverbände sind sehr dafür." Keine politische Partei wagt noch, sich gegen den weiteren Ausbau der Ganztagsschulen zu stellen - obwohl es ein großer Teil der Eltern tut!

"Manche Erwachsene sagen, die schönsten Momente ihrer Kindheit seien die Stunden und Tage gewesen, an denen sie in Ruhe gelassen wurden. Wo sie zum Beispiel mit Freunden spielten, auf dem Bolzplatz und auf der Straße, oder einfach so herumsaßen, in die Luft guckten und sich selbst etwas einfallen lassen mussten." So sieht es auch  Tamara Neckermann, Leiterin einer Grundschule im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen. "Sie sagt, sie bedauere, dass man heute kaum noch Kinder auf der Straße spielen sehe. Vielleicht liegt es an ängstlichen Eltern, oder am engen Terminkorsett der Kinder. 'Von romantischen Vorstellungen der Kindheit müssen wir uns aber heute wohl verabschieden', sagt Frau Neckermann." Doch nach den Großen Ferien wird auch ihre Schule zur Ganztagseinrichtung und wirkt auch sie "daran mit, dass die Kinder von der Straße verschwinden".


Aber es gibt auch Eltern, denen der Ausbau nun genügt. "Wie eine Studie von Allensbach für das Bundesfamilienministerium in dieser Woche zeigte, sind die Eltern gespalten. Wurde gefragt, ob das Betreuungsangebot für Kleinkinder oder das Angebot an Nachmittagsschulen ausreiche, antwortete rund die Hälfte der Familien mit nein, die andere aber mit ja. In den Zeitungen fand meist das Nein Widerhall: Familien wünschen sich mehr Teilzeit, mehr Gleichberechtigung in der Erziehung, mehr staatliche Kinderbetreuung. Aber es gibt auch die andere Hälfte. Eben nur die eine Hälfte findet, 'die Politik sollte Eltern unterstützen, die beide gleich viel arbeiten und sich die Kinderbetreuung gleichermaßen aufteilen.' 50 Prozent sehen das anders."

Darunter werden auch mansche "Helikoptereltern" sein, die ihre Kinder ganz für sich allein wollen. "Es gibt aber auch Eltern, denen es um Freiräume für Kinder geht. Zum Beispiel wäre da Silke Herbrandt, die mit vier Kindern und Mann im Stuttgarter Stadtteil Sillenbuch lebt. Sie arbeitete früher als Betriebswirtin und Dozentin an der Hochschule. Nach den ersten zwei Kindern sollte ein letztes drittes folgen, doch dies waren Zwillinge. Jetzt fand sie, dass sie als Arbeitnehmerin nicht mehr zumutbar war: Immer war ein Kind krank. Sie blieb erstmal Hausfrau. 'Der Beruf der Hausfrau ist ja eine Tätigkeit, die auch ihre Berechtigung hat', sagt sie.

Sie möchte ihn nun gut machen und den Kindern, solange sie klein sind, bei den Hausaufgaben helfen, mit ihnen Mittag essen, von ihnen erfahren, was in der Schule los ist. 'Wir wünschen uns eine Halbtagsschule, weil wir eine andere Vorstellung vom Kinderhaben und Familie haben', sagt sie, 'wir haben uns das lange und gut überlegt.' Ein Schultag von 8 bis 17 Uhr gehört nicht zu dieser Vorstellung. 'Dann sind die Kinder platt und erzählen nichts mehr, so einen langen Arbeitstag hat nicht mal jeder Erwachsene', meint Silke Herbrandt. 

Doch in diesem Herbst wird auch die Schule ihrer Kinder auf Ganztagsbetrieb umstellen, "so wie sehr viele in Baden-Württemberg. Als sie davon hörte, dachte die Mutter: 'Wäre es nicht absurd, wenn ich von morgens bis um 17 Uhr zu Hause säße, weil ich Hausfrau sein möchte, und dürfte meine Kinder gar nicht sehen, auch wenn ich und sie das wollten?'

Dazu kann es leicht kommen. Meistens müssen Kinder die Grundschule in ihrem Bezirk besuchen. Nur in Ausnahmefällen werden Anträge genehmigt, die Schule zu wechseln. Dass Eltern gern eine Halbtagsschule hätten, ist kein anerkannter Grund. Gibt es eine gebundene Ganztagsschule, also mit verpflichtendem Nachmittagsprogramm, muss das Kind da hin. Davon gibt es aber relativ wenige: 1200 Grundschulen in ganz Deutschland waren 2013 gebundene Ganztagsschulen, fast 7000 offene. Aber der Anteil nimmt zu. 155000 Grundschüler besuchten eine gebundene Ganztagsgrundschule, im Jahr 2009 waren es erst 117000. Besonders hoch ist der Anteil in Hamburg, Bremen, Sachsen; in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen gibt es fast nur freiwillige Nachmittagsschulen.

Silke Herbrandt tat sich mit anderen Eltern zusammen und kämpfte für Freiräume. Sie hatten Erfolg. Die Grundschule in Sillenbuch wird zur offenen Ganztagsschule. 'Bei uns in Stuttgart ist es so', meint Silke Herbrandt, 'dass es nur noch deshalb Halbtagsschulen gibt, weil Eltern Druck machen'. Eine Umfrage unter Eltern ergab dabei auch dort ein geteiltes Bild: die Hälfte war für Halb-, die andere Hälfte für Ganztagsbetreuung. Und in Hessen ergab eine Studie, dass 29 Prozent der Eltern eine verpflichtende Ganztagsschule wünschen, 30 Prozent die Ganztagsschule ablehnen und die anderen für Wahlmöglichkeiten sind."

Ganz groß in Mode kamen die Ganztagsschulen erst nach dem "PISA-Schock" von 2001 - wider Sinn und Verstand, denn in den Erhebungen von PISA fand sich nichts (nichts!), was für oder gegen diese oder jene Schulform gesprochen hätte. Aber die Interessenten - s. o. - standen in den Startlöchern (und bei Grünen und Sozialdemokraten geht es wohl auch nicht so sehr um Emanzipation, sondern um die Standesinteressen der pädagogischen Berufe, die zu ihrer Klientel gehören).  

"Vor sechs Jahren waren noch 48 Prozent aller deutschen Schulen Ganztagsschulen, 5 Jahre später schon 59 Prozent oder 16198, die Hälfte davon Grundschulen. Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Hessen sind derzeit besonders engagiert im Ausbau. Wenn es die Betreuungsangebote erst mal gibt und sie ein Großteil der Eltern annimmt, ist eine neue Normalität geschaffen. So dreht sich die Spirale, die von der Bullerbü-Kindheit in eine weitgehend von Pädagogen betreute Kindheit führt" -  "die auch sehr schön sein kann", fügt der Autor hinzu, wenig überzeugend und wohl auch wenig überzeugt, doch das war er vielleicht seinen KollegInnen schuldig..

Aber lobenswert ist immerhin, dass "in den Zeitungen" nun erstmals auch die andern 50 Prozent "Widerhall finden" und die Kinder doch nicht sang- und klanglos Leviathan zum Fraß überlassen werden.

Mittwoch, 8. Juli 2015

Die Schule muss das lehren, was man nicht von alleine lernt.

aus Die Presse, Wien, 8. 7. 2015

Bildungsforscher: 
„Gymnasium ist die Paradeinstitution“
Bildungswissenschaftler Alfred Schirlbauer hält die Vermittlung von Kompetenzen für „eine Infektionskrankheit der Pädagogik“ und die Begabtenförderung für ein „Paradiesgärtchen“.

Von Rosa Schmidt-Vierthaler

Die Presse: Sie begleiten die Bildungsdebatten seit Jahrzehnten. Nach und nach sind statt des Wissens die Kompetenzen in den Mittelpunkt gerückt. Zu Recht?

Alfred Schirlbauer: Ich halte das geradezu für eine Infektionskrankheit der Pädagogik. Die OECD hat mit diesem Bazillus die Bildungssysteme angesteckt. Alles, was gelernt werden kann oder soll, wird als Kompetenz umformuliert. Da es keine verbindende Idee gibt, kann man der Kompetenzen gar nicht genug kriegen.


Sie sehen die Kompetenzen als Feigenblatt?

Ja. Man weiß nicht mehr, was die einzelnen Schulfächer leisten sollen und fängt an, Kompetenzen aufzulisten. Dabei verliert man sich in wüsten Aufzählungen. Früher wurden Kompetenzen ganz selbstverständlich mitgemeint: Wenn im Lehrplan der Pythagoräische Lehrsatz stand, sollten die Schüler den natürlich verstehen und nicht nur aufsagen können.

Und die Rolle des Lehrers?

Kompetenzen muss man antrainieren. Das spießt sich mit der reformpädagogischen Idee – von der ich auch nichts halte –, dass das Wissen in den Kindern wachsen und reifen soll und eigentlich schon angelegt ist.

Für viele ist der „ideale Lehrer“ heute ein Moderator.

Der Lehrer ist dazu da, Wissen zu vermitteln. Wenn die Schüler das alles selbst erarbeiten könnten, dann könnten sie ja nach Hause gehen. Die Aufgabe der Schule ist es, das zu lehren, was man sich in der Regel nicht selbst beibringt.

Sie treten für den klassischen Bildungskanon ein?

Ja. Es ist unsere Unwissenheit in Bezug auf die Grundlagen unserer Kultur, die uns dazu verführt, einerseits auf selbst gesteuerte Lernprozesse der Schüler zu setzen und andererseits auf die von der Wirtschaft geforderten Kompetenzen.

Die deutsche Bildungsministerin erwägt ein Fach namens Alltagswissen. Was halten Sie davon?

Ich halte das für eine Dummheit.

Es gibt aber auch immer Schüler, die so etwas fordern.

Schüler sollten das nicht entscheiden. Man lernt nie genau das, was man später braucht, weil man ja nicht weiß, was man braucht. Die Diskrepanz zwischen Schule und Leben scheint mir unvermeidbar. Schule kann höchstens indirekt auf das Leben vorbereiten, indem sie Denkfähigkeit vermittelt.

Sie sprechen nun aber über die Gymnasien. Oder?

Nein. Aber für mich ist das Gymnasium nach wie vor die Paradeinstitution des Bildungswesens.

Gleichen sich die verschiedenen Schultypen nicht einander an?

Ja, leider. Es hat vor 20, 30 Jahren begonnen, dass in der AHS mehr berufsbildende Elemente eingebaut wurden. Dazu gehört auch die Hyperspezialisierung, die manche Gymnasien betreiben. Spezialisierte Allgemeinbildung ist eine widerspruchsvolle Angelegenheit.

Die meisten Bildungswissenschaftler fordern eine Gesamtschule, Sie nicht. Weshalb?

Die Erziehungswissenschaft hat sich in den vergangenen 30 Jahren auf eine beschreibende Beobachterposition zurückgezogen. Das einzig Wertende bei den wertfreien Erziehungswissenschaftlern ist die Gesamtschule, das ist sozusagen der wunde Punkt. Da katapultieren sie sich flugs vom Status der Wertfreiheit in den einer überschießenden Normativität hinein.

Wie sehen Sie es?

Es ist nun einmal so, dass Kinder in einem Elternhaus, in dem gelesen wird, in dem es eine gepflegte Sprache gibt, einen schulisch relevanten Vorsprung haben. Diese Vorteile kann man ihnen aber schwer wegnehmen. Dieses Bildungserbe sollte man nicht durch die Gesamtschule zu besteuern beginnen. Wenn schon Reichensteuer, dann bei den Finanzvermögen.

Liegt der Fokus zu sehr auf den schwächeren Schülern?

Jein. Begabtenförderung ist ein Paradiesgärtchen in unserer Bildungslandschaft, darum hat sich auch kaum jemand gekümmert, weil es irgendwie eine anrüchige Sache ist, Begabte zu fördern.

Weil die es eh nicht brauchen?

Das ist die alte Ideologie: Der Begabte setzt sich von selbst durch. Diesen Spruch hat schon Friedrich Nietzsche gegeißelt.

Sie scheinen auch mit den Lehrern nicht sonderlich zufrieden zu sein.

Die Lehrer möchte ich in Schutz nehmen, die sind hier weitgehend Opfer. Sie sind im Zangengriff von Politik und Gesellschaft. Sie sollen nicht zu viele „Nicht Genügend“ verteilen, und die Eltern mischen sich in alles ein. Gleichzeitig aber werden sie etwa durch die Zentralmatura abgeprüft.

Und die Schüler?

Hier gibt es eine große Diskrepanz: Die Eltern entmündigen ihre Kinder zusehends – Stichwort Helikoptereltern –, und die Lehrer müssen aufgrund einer bestimmten pädagogischen Ideologie dauernd die Vorstellung pflegen, die Kinder wären schon mündig und könnten ihre Lerninhalte selbst wählen und sie sich selbst erarbeiten.

Ihre nächste Vorlesung wird den Titel „Politik und Bildung“ haben. Was wollen Sie vermitteln?

Wissen. Bei Diogenes von Sinope heißt es einmal so schön: Wir müssen uns um das Wissen kümmern oder uns einen Strick besorgen. Es geht um nichts anderes als Wissen.

ZUR PERSON 
Alfred Schirlbauer ist Erziehungswissenschaftler im Ruhestand. Bevor er seine wissenschaftliche Laufbahn an der Uni Wien begann und Professor für Pädagogik wurde, war er Lehrer. Im Verlag Sonderzahl erschien u.a. „Die Moralpredigt. Destruktive Beiträge zur Pädagogik und Bildungspolitik“ (2005). 


Nota. - Das ist der entscheidende Gedanke: Die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben setzt heute eine Menge Wissen voraus, das der Mensch nicht einfach so nebenher und ganz von alleine erwirbt. Das ist weniger selbstverständlich, als es klingt. Denn bis vor rund anderthalb Jahrhunderten galt dieser Satz nur für die Angehörigen der herrschenden Klassen. Deren Kinder brauchten immer eine ganz besondere Schule, die sie später zum Herrschen - und dazu gehört das glaubwürdige Repräsentieren der Herrschaft - befähigte. Und gleich an dieser Stelle fällt auf: Eine Schule musste diese Schule nicht unbedingt sein, denn eine solche taugte wohl für werdende Kleriker, nicht aber für künftige Krieger und Regenten. Doch einer besonderen Lehrzeit im Dienst bei einem Fürsten mussten auch die Kinder des Adels sich unterziehen.

Die Kinder der einfachen Leute, und die waren die große Mehrheit, wuchsen in den Haushalt ihrer Familie hinein, und die war in der agrarischen Gesellschaft die eigentliche Produktions- und Wirtschaftsstätte. Zum Bauern wuchs man auf dem eigenen Hof heran. (Die Kinder der Tagelöhner lernten Vieh hüten.) Das zünf- tige Handwerk mit seinem ausgefeilten Lehrlings- und Gesellensystem gehörte schon zu dem privilegierte- ren Teil der städtischen Gesellschaften. 

Und schließlich die kaufmännischen Patrizier - waren die Gesellschaftsklasse, in der "die Schule" zur Norm geworden ist. Die städtischen Bürgerschulen wurden, nach der Reformation zumal, zum Grundbestand, auf dem unser heutiges Schulwesen aufgebaut ist, auf sie geht das humanistische Gymnasium zurück, das zum Paradigma der Schule wurde. Hier lernte man, was man als Bürger unter Bürgern wissen und können musste, als Berufsmensch, der sich unter seinesgleichen im Marktgeschehen zu orientieren und behaupten wusste. Und als dann das Kapital in die Industrie zu fließen begann, wurden neben den Kaufleuten immer mehr Ingenieure gebraucht. Die Realschulen machten den Gymnasien Konkurrenz, und die spezialisierten sich auf die Vorbereitung zum Höheren Staatsdienst. 

Dagegen war die Volksschule von Anbeginn Restschule. Die bildete nicht zum Bürger, sondern konditio- nierte zum Untertan und Tagelöhner. Lesen, schreiben, das Kleine Einmaleins und der Katechismus, mehr wurde nicht benötigt. Das war der Typ des Proletariers, den die Industrialisierung brauchen konnte.

Die Geschichte der Schule im 20. Jahrhundert ist schließlich die Geschichte, wie das Schulsystem immer mehr zum Schatten und zum Wurmfortsatz der Verwaltungen wurde, der öffentlichen mehr noch als der wirtschaftlichen. Mit der Explosion des Öffentlichen Dienstes explodierten die Gymnasien, und mit wach- sender Masse sanken die Maßstäbe. 

Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück: Die Aufgabe einer Schule ist es, Wissen zu vermitteln, das der Mensch nicht einfach so nebenher und ganz von alleine erwirbt. Setzt die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben heute mehr Wissen voraus als früher, so dass eine längere Lernzeit erforderlich würde? 

Jein. Einerseits ist die Masse von Wissen, das einer heute braucht, unermesslich, doch andererseits ist es so schnell überholt wie nie zuvor, und man tut gut daran, es sich nicht allzu gut zu merken, damit im Gedächt- nis gleich Platz geschaffen werden kann, wenn neue Nachrichten eintreffen; und was man grad eben nicht gewärtig hat, darauf kann man jederzeit im Internet zugreifen. 

Es ist nicht wirklich so, dass man heute (noch) mehr wissen muss als gestern; memorieren bis der Kopf raucht ist jedenfalls so unangebracht wie nie. Aber man müsste besser wissen. Was damit gemeint ist? Aber das wissen Sie doch längst selber! Gemeint ist, dass man das, was die (flüchtigen) Daten bedeu- ten, gründlicher verstehen sollte - denn dann fällt man nicht jedesmal in Verwirrung, wenn man die alten Daten gegen neue auswechseln muss. Der Haken sei der, dass man das Verstehen der Schüler nicht mit einem Test erheben kann? Da haben Sie nun auch wieder Recht.

Und wenn man bei PISA I zuerst noch annahm, mit den 'Kompetenzen zur Welterschließung' sei Verständ- nis gemeint gewesen, wurde bald klar, dass lediglich die Testmethode des Multiple choice mit dem Brech- eisen durch gesetzt werden sollte.

Dieses hinzugefügt habend, kann ich mich den Ausführungen von Prof. Schirlbauer weitgehend anschlie- ßen; doch nicht ohne anzumerken, dass es wohl in der Natur der Schule selber liegt, dass sie mehr zum Memorieren neigt als zum verstehen-Lehren.
JE

Dienstag, 7. Juli 2015

Zur Autonomisierung verurteilt.


Lothar Sauer
aus Der Standard, Wien, 4.5.2015

Zukunftsforscher: 
"Es gibt noch zu viele sehr schlechte Lehrer"

INTERVIEW: Lisa Nimmervoll,


STANDARD: Sie sind Experte dafür, was noch nicht ist, aber worauf wir uns sicherheitshalber lieber vorbereiten sollten. Sie sind Zukunftsforscher. Welche Zukunft erwartet uns denn im Bildungsbereich?
Popp: Das Bildungssystem wäre ein sehr zukunftsbezogenes Praxisfeld. Aber rund 70 Prozent der Bevölkerung halten vor allem das Schulwesen nicht für zukunftsfähig. Die wichtigsten interessenspolitischen Institutionen und die Bildungswissenschaft haben gut begründete Zukunftskonzepte vorgelegt. Für die Bildungspolitik müsste also alles klar sein, ist es aber leider nicht.
STANDARD: Was etwa ist klar?
Popp: Klar ist, dass wir gerade im Bereich der Persönlichkeitsbildung und beim sozialen Zusammenhalt viel tun müssten oder dass es eben nicht nur um die Wissensvermittlung geht. Manche Lehrer vertreten leider immer noch die Vorstellung von Trichterpädagogik, also den Schülern Lehrbuchwissen ins Hirn zu pressen und diese Inhalte dann abzuprüfen. Dabei wäre das Phänomen der Vergessenskurve seit Jahrzehnten bekannt. Denn unser Gehirn ist keine Festplatte, und nach etwa sechs Wochen ist nicht angewendetes Wissen zu 80 Prozent weg. Mit den immer leistungsfähigeren Computern haben wir Maschinen, die punktgenau für die Erfüllung der überkommenen Ziele der Trichterpädagogik programmiert sind, nämlich für das Eintrichtern von Inhalten. Im Sinne einer zukünftig unverzichtbaren Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine muss einerseits der sinnvolle Umgang mit diesen wissensspeichernden Geräten trainiert werden und andererseits das gefördert werden, was der Mensch besser kann als der beste Computer: kritisch denken, mit anderen zusammen Veränderungen in Gang setzen et cetera.
STANDARD: Was heißt das konkret?
Popp: Zukünftig muss die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Problemen im Vordergrund stehen. Die historisch gewachsene Abbildung der universitären Disziplinen in den Unterrichtsfächern muss möglichst bald am Abstellgleis der Bildungsgeschichte landen. Ein viel zu selten diskutiertes Problem ist die Schularchitektur. Die meisten Bildungsimmobilien ähneln eher Unterrichtsvollzugsanstalten als zukunftsweisenden Lernwerkstätten.
STANDARD: Was müsste denn im Bildungsbereich in Österreich konkret getan werden, um ihn, wie es gern in Politikerreden heißt, "zukunftsfit" zu machen?
Popp: Natürlich muss man lesen, schreiben und rechnen können und Fremdsprachen beherrschen, aber das müsste viel stärker mit persönlichkeitsbildenden Elementen verknüpft werden. Da sind wir dann bei Begriffen wie Autonomie, Eigenverantwortung, Kreativität, Resilienz und soziale Empathie. Denn zukünftig nehmen Komplexität und Vielfalt in allen Lebensbereichen zu, also im Berufs-, Freizeit-, Konsum- und Geldleben, in Beziehungs- und Erziehungsfragen sowie im weiten Spektrum der medialen Angebote. Die Entscheidungsfrage lautet: Was ist meins in dieser Menge an Möglichkeiten?
STANDARD: In welcher Form kann die Schule dafür vorbereiten?
Popp: Mit klassischem Frontalunterricht kann diese Frage nicht beantwortet werden, schon gar nicht in 50-Minuten-Häppchen. Das ginge nur mit projektorientierten Zugängen, ausgehend von wichtigen Fragen aus der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen. An Österreichs Schulen gibt es immer mehr gute Lehrer, die sich um zukunftsweisende Didaktik bemühen, aber leider auch noch zu viele sehr schlechte Lehrer. Bei der Entwicklung der Lehrerbildung stimmt die Richtung, aber nicht die Geschwindigkeit.
STANDARD: Eine Ihrer Thesen zur Zukunft der Bildung dreht sich um ein verändertes Rollenverständnis in der Multioptionsgesellschaft. Was heißt das für die Schule?
Popp: In früheren Gesellschaftsformationen waren viele Dinge für die Menschen einfacher. Es war relativ klar, was man religiös zu glauben, welchen Beruf man zu wählen, wie man Beziehungen zu schließen und wie man sich richtig zu verhalten hatte. Dazu passte der Shakespeare-Spruch "Die ganze Welt ist Bühne". Denn die Rollen für das Spiel des Lebens waren klar verteilt. Zukünftig müsste dieser Spruch etwas modifiziert werden: "Die ganze Welt ist ein Workshop." Denn zumindest in unseren Breiten haben sich die Freiheitsgrade deutlich erhöht, sodass jeder nach seiner Façon selig werden kann, wie dies der preußische König Friedrich II. schon vor langer Zeit ausgedrückt hat. Aber wer die Wahl hat, hat auch die Qual der Entscheidung.
STANDARD: Das ist quasi die Rückseite der Autonomie, die Sie besonders betonen. Wie kann Autonomie im Schulbereich aussehen?
Popp: Autonomie müsste – in enger Verknüpfung mit sozialer Kompetenz – ein Generalthema der Pädagogik werden. Diese Aussage begründe ich mit plausiblen Prognosen der Zukunftsforschung, wie der einzelne Mensch – gemeinsam mit seinen Bezugspersonen – die in der Zukunft zu erwartenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und persönlichen Chancen nutzen und Gefahren vermeiden kann. Letztlich wird es wohl auch in der Schule der Zukunft darum gehen, junge Menschen zu ermutigen; übrigens auch im Hinblick auf die Lust am Lernen als Motivation für die zukünftig unverzichtbaren lebensbegleitenden Bildungsprozesse.
STANDARD: Welche Rolle soll Autonomie im Kindergarten spielen?
Popp: Der Kindergarten ist noch immer ein sehr stark unterschätzter Lernort – auch im Hinblick auf das Bildungsziel der Autonomie. Ich möchte das am Beispiel der "Trotzphase" präzisieren. Diese Phase des Infragestellens von Bestehendem und der Suche nach Neuem, die sich ja in etwas anderer Form in der Pubertät wiederholt, ist letztlich eine Zukunftsinszenierung in Richtung Autonomie und Selbstbestimmung. Das Kind sagt erstmals: Nein, ich will das jetzt anders machen, als Mama oder Papa es wollen. Diese Sehnsucht nach Innovation lässt sich auch im Kindergarten fördern, wenn die Autonomiebestrebungen eines Kindes gestärkt und nicht mit allen möglichen und unmöglichen pädagogischen Tricks gebrochen werden. Das funktioniert aber nur mit einer erziehungswissenschaftlich fundierten pädagogischen Ausbildung.
STANDARD: Und die ist umstritten, denn selbst der Dachverband der Kindergartenpädagoginnen möchte eine universitäre Ausbildung. Nur die Politik verweigert das.
Popp: Ich halte die heutige Form der Ausbildung für anachronistisch. Das sieht übrigens auch die OECD so. Elementarpädagogik gehört wie die Lehrerbildung an die pädagogischen Hochschulen beziehungsweise an die Universitäten. Eine pädagogische Ausbildung sollte nicht im Alter von 15 beginnen. Salopp gefragt: Soll eine 15-, 16-, 17-jährige Schülerin, die daheim noch mit der spätpubertären Ablösung von der Herkunftsfamilie beschäftigt ist und der die Mama noch die Wäsche wäscht, im Kindergarten die ersten Schritte zu einer autonomen Persönlichkeit professionell begleiten? Aus pädagogischen Gründen spricht alles für eine Hochschulausbildung. Aber aus der Sicht der für die Finanzierung der Kindergärten zuständigen Gemeinde- und Landespolitik sprechen ökonomische Gründe für den Status quo. Maturanten sind billiger als Hochschulabsolventen. Das ist freilich zynisch, wenn man an die zukunftsweisende Bedeutung der Bildungsarbeit in Kindergärten denkt. 
Reinhold Popp (66) hat ein Lehramtsstudium absolviert sowie eine Ausbildung in Psychotherapie und klinischer Psychologie, danach hat er in Politik- beziehungsweise Bildungswissenschaft promoviert. Er war unter anderem wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Zukunftsstudien Salzburg und Gründungsmitglied des Masterstudiengangs für Zukunftsforschung am Institut Futur der Freien Universität Berlin. Er referierte beim diesjährigen, mittlerweile 6. Teacher's Award der Industriellenvereinigung über "Die Zukunft von Schule und Kindergarten. Bildung im gesellschaftlichen Spannungsfeld".
Link
Nota. - Wenn eine pädagogische Ausbildung wissenschaftlich sein soll - das gilt für Kindergartenpädagogik sowohl wie für jede andere Pädagogik -, dann kann sie nur kritisch und negativ sein: lehren, was man tunlichst unterlassen soll. - Und andernfalls wäre die Akademisierung der Ausbildung zur Kindergärtnerin nur ein weiterer Schritt der feudalen Landnahme der pädagogischen Zunft und ein weiteres Hindernis auf dem Weg zu fachlicher Qualifizierung.
JE

Mittwoch, 1. Juli 2015

Nicht ganz von dieser Welt.


aus Der Standard, Wien, 30. Juni 2015

Pubertät:
Hyperaktiver Totalumbau im Gehirn

von Walter Müller, 

"Jetzt räum endlich deine Sachen weg, es müffelt ja schon in deinem Zimmer. Und außerdem: Solange du nicht Mathe lernst, kannst du dir die Party am Wochenende abschminken." Die Appelle der Eltern sind deutlich – verfehlen aber das Ziel. Sie gehen beim einen Ohr hinein und, ohne irgendwo dazwischen in der grauen Masse hängenzubleiben, beim anderen wieder hinaus. Nach einigen Minuten der Stille meldet sich der sechszehnjährige Sprössling: "Was habt ihr gesagt?" Er war nicht da, irgendwo, aber nicht im Hier und Jetzt der Eltern.

Umbauarbeiten im Gehirn
Eine weitere Eskalationsstufe sollten sich Eltern in solch pädagogisch haarigen Situationen aber doch überlegen. Die Heranwachsenden machen es nicht absichtlich, sie stehen wirklich daneben und checken die Hälfte nicht. In den Gehirnen Pubertierender finden einige weitreichende Umbauarbeiten statt, neue Schaltungen werden aufgebaut, alte lahmgelegt. "Neben den hormonellen Veränderungen, die mit der Geschlechtsreife zu tun haben, gibt es auch in diesem Entwicklungsfenster messbare Veränderungen in der Architektur und der Funktionsweise des Gehirns", sagt Peter Uhlhaas vom Institute of Neuroscience and Psychology an der University of Glasgow im Gespräch mit dem STANDARD. Uhlhaas erforscht seit Jahren die sich verändernden Gehirnaktivitäten von Jugendlichen in der Adoleszenz.
Uhlhaas: Hirnregion für Kontrolle nicht vollständig integriert
Für den Vater der Psychoanalyse, Sigmund Freud, war das Phänomen Pubertät ja noch ziemlich eindimensional fokussiert: "Der Sexualtrieb war bisher vorwiegend autoerotisch, er findet nun das Sexualobjekt. Nun wird ein neues Sexualziel gegeben, zu dessen Erreichung alle Partialtriebe zusammenwirken, während die erogenen Zonen sich dem Primat der Genitalzone unterordnen (…). Das neue Sexualziel besteht beim Manne in der Entladung der Geschlechtsprodukte (…). Der Sexualtrieb stellt sich jetzt in den Dienst der Fortpflanzungsfunktion, er wird sozusagen altruistisch". (Sigmund Freud: "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie")
Uhlhaas sieht sich die Sache einige Stockwerke höher an und misst mit hochsensiblen elektronischen Geräten, was sich im Gehirn während der turbulenten Adoleszenzzeit abspielt.
Hyperaktives limbisches System
"Es kommt in der Adoleszenz zu einem gewissen Abbau von synaptischen Kontakten von Schaltstellen, die Kommunikationswege über längere Distanzen werden verstärkt. Diese Phänomene können wir klar messen", sagt Peter Uhlhaas und fügt hinzu: "Wir sehen anatomische Veränderungen der Hirnregion im Frontallappen, die für die Steuerung von Verhalten zuständig ist. Was man gefunden hat ist, dass es zu einer gewissen Disbalance der Gehirnregionen kommt. Dass also die Hirnregion, die für das emotionale Erleben, für das Triebverhalten verantwortlich ist, das limbische System, quasi hyperaktiv ist und früher heranreift. Und jene Hirnregionen die im Erwachsenenalter für die Kontrolle des Verhaltens verantwortlich sind, noch nicht ganz im System integriert sind. Es ist eine singuläre Phase, die mit erhöhtem Risikoverhalten einhergeht. Das ist sehr gut belegt", sagt Uhlhaas.
Peergroups werden wichtiger
Es dieser Zeitspanne zwischen 12 und 18 Jahren werden jedenfalls die Peergroups für die Entwicklung der Identität und Meinungsbildung wesentlich wichtiger als die Eltern, die an Stellenwert verlieren. Es sei ein, auch biologisch herleitbarer, logischer Impuls, sich "aus der Primärfamilie loszulösen, das elterliche Nest zu verlassen, um unabhängig zu werden".
Die Ablösung vom Elternhaus sei natürlich nicht absolut zwingend, sagt Uhlhaas. Die Umweltfaktoren dürften dabei nicht außer Acht gelassen werden.
"Verhalten ist eine Interaktion zwischen biologischen Prozessen und dem, was die Umwelt uns bietet. Biologie ist nicht deterministisch, die Umwelt hat einen starken Einfluss, ob ein Verhalten zutage tritt oder nicht. Es kann durchaus sein, dass die Umweltbedingungen sich nicht dazu eignen, unabhängig zu werden, dann werden die biologischen Faktoren zurückgedrängt", sagt Psychologe Uhlhaas.
Trost für die Eltern
Was können nun Eltern tun? Nervös warten, bis das lange Gewitter der Adoleszenz vorbei ist?
Das Wissen darum, dass es sich um einen normalen, teilweise biologisch begründeten Wandel handelt, mag für Eltern ein gewisser Trost sein und sollte sie gelassener machen. "Das soll natürlich nicht heißen, dass man nicht auf die Jugendlichen einwirken soll", sagt Uhlhaas. Man sollte nur wissen, dass Jugendliche in der kritischen Zeitspanne vielleicht unerwartet und anders reagieren. Sie sind gewissermaßen affektiv instabiler, haben größere Schwankungen im Gefühlsleben und eine Tendenz, unüberlegter zu handeln. Uhlhaas: "Wir modifizieren unseren Umgang ja auch mit anderen Altersstufen. Wir erwarten von einem Kind nicht, dass es eine Quadratwurzel errechnet, und so kann man auch nicht davon ausgehen, dass sich ein Jugendlicher in allen Kontexten adäquat verhält."
Wichtige Phase für Früherkennung
Die Adoleszenz ist psychologisch in jedem Falle eine sehr sensible Phase. "Viele psychische Erkrankungen nehmen hier den Anfang, werden aber erst im Erwachsenenalter behandelt, wenn es oft schon zu spät ist", sagt Uhlhaas. Natürlich würden, ganz nach Freud, in der Kindheit Grundlagen der Persönlichkeit gebildet. Uhlhaas: "Die Gehirnentwicklung ist, anders als man früher dachte, in der Kindheit aber nicht abgeschlossen, sondern ein lang anhaltender Prozess, der im Jugendalter noch tiefgreifende Veränderungen mit sich bringt. Die Zeitspanne ist auch für die Früherkennung der psychiatrischen Krankheiten wichtig. Das hat man erst in den letzten zehn bis 15 Jahren vollständiger erforscht."  


Nota. - Es gab eine Zeit, wo man - in Anlehnung an Kretschmers Gestalttypenlehre - das "asthenische" Erscheinungsbild der Pubertierenden mit einer entwicklungsbedingten Schizoidie in Verbindung brachte: nicht (übrigens auch nicht bei der Schizophrenie) einer Aufspaltung in mehrere Persönlichkeiten, sondern eine Dissoziation der Persönlichkeitsbereiche emotionales Erleben - Kognition - Motrizität und Körper-gefühl. Die Forschungen in Glasgow weisen in eine ähnliche Richtung, wobei ein Zusammenhang mit der unausgeglichenen Hirnentwicklung faktisch viel plausibler ist als einer mit dem Längenwachstum; jener wäre rein statistisch...
JE