Freitag, 27. September 2013
Man kann nicht erziehen
Ganz anders sieht es aber aus, wenn einer sagt: Ich will erziehen.
Damit begibt er sich nämlich aufs andere Ende der Bedeutungsskala dieses Wörtleins.
Hier ist kein unvermeidliches Alltagsgeschehen gemeint, das sowieso stattfindet und „ganz von allein“ – egal, ob man es will oder nicht. Sage ich: ich will, dann formuliere ich ein Ziel. Hier ist das andere Ende der Bedeutungsskala: Erziehen heißt jetzt, aus einem Menschen etwas anderes machen als er ist.
Man kann nicht erziehen
Beginnen wir bei der wissenschaftlichen Formulierung dieses Gedankens: „Erziehen = Von einem Menschen s1 auf einen Menschen s2 gerichtetes absichtsvolles und geplantes Zuführen von Impulsen mit dem Ziel, dass s2 diese Impulse als Reize oder Informationen so verarbeitet, dass s2 Verhaltensbereitschaften bewahrt oder erwirbt oder so verändert, das s2 (in einer festgelegten Zeit) Verhalten realisiert, das den Soll-Zuständen von s1 entspricht.“*
Befreien wir diesen Satz von seiner unfreiwilligen Komik und übersetzen wir ihn in simpleres Deutsch, dann hört er sich etwa so an: X wirkt auf Y ein, um Y aus einem unerwünschten Zustand a in einen erwünschten Zustand a’ zu versetzen.
Wohlverstanden: Wenn damit gemeint wäre, dass X die Auffassung vertritt, ein jeder müsse sich seine Schnürsenkel selber zubinden können, und daran Anstoß nimmt, dass Y das eben nicht kann, und auf ihn einwirkt, dass er es nun lernt – dann wird wohl keiner was dagegen sagen wollen. X wird sich also einen Plan zurechtlegen, wie er Y in absehbarer Zeit dahin bringt, wo er ihn haben will. Er wird das ganze Programm in einzelne, auf einander aufbauende Lernschritte zerlegen – „operationalisieren“ – und immer dicht am Ziel bleiben.Allerdings würde der Volksmund hier schwerlich von erziehen reden. Er würde sagen: Herr Lehmann bringt seinem Jungen bei, wie man sich die Schuhe zubindet. Und die Wissenschaft würde sekundieren: Der Junge lernt.
Wenn man im emphatischen Sinn von erziehen redet, von einem Erziehen, das man wollen kann, dann ist nicht dieses oder jenes Beibringen gemeint, sondern ‚der ganze Mensch’. Gemeint ist das, was Herder sagen wollte: dass der Mensch nur durch Erziehung zum Menschen werde. Hier geht es nicht mehr um bestimmte, definier- bzw. abgrenzbare Lernziele, sondern um ein ‚System von Werten’. Um das, was man landläufig ein „Menschenbild“ nennt. Die Vorstellung, man könne einen Menschen planmäßig nach einem gegebenen Bild „formen“, ist nun aber – je nach Reflexionsebene – auf dreifache Weise falsch: In diesem emphatischen Sinn kann man nicht ‚erziehen’.
„Werte“
Erste Ebene: So bunt und vielgestaltig die Menschenbilder, die sich auf dem pädagogischen Markte tummeln, auch scheinen mögen – wenn man mal von den semantischen Feinheiten absieht, bezeichnen die Menschenbilder, die in unserm jüdisch-christlichen Kulturkreis entworfen werden können, im Grund alle dasselbe; nicht einmal – und schon gar nicht – Margot Honeckers „sozialistische Persönlichkeit“ macht da eine Ausnahme: sie ist vielmehr eine besonders spießige Variante von ein und demselben. (Selbst Nietzsches Übermensch bestätigt als Kontrastprogramm noch die Regel.)
Das bedeutet nur dies: Was hier beschrieben wird, sind gar keine Eigenschaften, Fertigkeiten oder Verhaltensweisen, die man fest umreißen und dingfest machen könnte, sondern eben – Werte. Das sind gar keine ‚Stellen’, im Raum oder in der Zeit, die man irgendwann man ‚erreicht’ haben könnte, sondern bloße Gebote, die ständig zu befolgen; Maßstäbe, die immer anzulegen sein werden. Kurz, es geht hier gar nicht um ‚Verhalten’, das man einüben, abrufen und überprüfen könnte, sondern um Haltungen zum Leben und Einstellungen zur Welt.
Man kann sie nicht in Stücke zerlegen und – Schritt für Schritt – „lehren“. Denn Moral besteht ja nicht darin, stets das Richtige zu tun (das kann der Lakai auch), sondern darin, selber das Richtige zu wollen. Und das Selber-Wollen lehren wollen ist eine Absurdität; bzw. der Urtyp dessen, was die Kommunikationstheorie eine Beziehungsfalle nennt: Es kann nicht klappen. „Du sollst wollen“ ist ein Widersinn. Und Werte lassen sich nicht vermitteln; sie gelten unvermittelt ganz und gar – oder eben nicht. Man kann sie höchstens bezeugen.
Der ‚ganze Mensch’
Zweite Ebene: Selbst wenn man Werte in Teilchen zerlegen und portionsweise weiterreichen könnte – sie beträfen dann immer noch den ‚ganzen Menschen’, und nicht einzelne Verhaltensweisen. Kann man den ‚ganzen Menschen’ nun aber gezielt beeinflussen? Nein. Denn nur im Labor des Verhaltensforschers ‚reagieren’ die Menschen auf ‚Reize’. Im wirklichen Leben orientieren sie sich in Situationen. Die Situation ist stets komplex. Sie ist, in der Sprache der Physik ausgedrückt, ein ‚Feld’, in dem sich mannigfaltige ‚Kraftlinien’ schneiden, die von unbestimmbar vielen ‚Energiequellen’ ausgehen. Der Erzieher ist immer nur eine von diesen Energiequellen. Die andern kann er nicht einmal zählen, geschweige denn „beherrschen“.
Er kann, wenn er gut Acht gibt, genau bestimmen, welche Informationen er aussendet. Darauf, was aus der Information geworden sein wird, wenn sie beim Adressaten ankommt, hat er schon kaum noch Einfluss: Er kann es nicht einmal wissen, sondern höchstens erraten aus der Rückmeldung, die er erhält. Nur in der Theorie ist Kommunikation eine Wechselwirkung zwischen nur-Zweien. Im Leben ist sie immer ein wechselseitiger mannigfaltiger Prozess zwischen Vielen. Das bringt eine Unwägbarkeit in die menschlichen Verhältnisse, die für die Illusion einer zielgerichteten Einflussnahme (außerhalb des Labors) wenig Platz lässt. Der Erzieher kann immer wieder nur probieren – und sich gegebenenfalls trösten, dass er getan hat, was er tun konnte.Dass ein Teil des Informationsgehalts auf dem Weg der Übermittlung stets verloren geht, ist zwar ein absolutes Hindernis für jede ‚gezielte Beeinflussung’; allerdings nur ein technisches. In der Laborsituation kann es reduziert werden.
Ursachen und Vorstellungen
Ein grundsätzliches Hindernis finden wir auf einer dritten Ebene. Es ist der Umstand, dass die Menschen im wirklichen Leben nicht auf einzelne Signale ‚reagieren’, sondern sich in Situationen – orientieren. Sie ‚verhalten’ sich nicht kausal, sondern handeln final: Sie suchen einen Weg, der sie durch die Situationen führt. Die Situation ist nicht einfach Anlass, sondern immer auch Aufgabe. Allgemein gesprochen: Nicht die Realität „wirkt“ auf den und durch den menschlichen Organismus, sondern – die Vorstellung, die er sich von ihr macht.
Was er die Wirklichkeit nennt, ist immer nur ein Bild. Das Bild „stimmt“, wenn es erlaubt, sich in seiner Welt zurecht zu finden – in die Richtung, die er selber wählen muss. Wahn und Wirklichkeit unterscheiden sich nur als jenes Bild, auf das sich die vielen Lebenstüchtigen untereinander verständigt haben, und die Bilder, die sich die wenigen Irrläufer jeweils ganz für sich alleine machen. (Alles Neue erscheint darum immer als Irrung.) Also der Grund unseres Handelns sind nicht die Anlässe, sondern unsere Vorstellungen. Die Vorstellung ist aber – man erlaube mir das starke Wort – das Reich der Freiheit selbst, und scheidet uns von den Graugänsen. Man kann den ‚ganzen Menschen’ darum nicht zielgerichtet beeinflussen, weil man schlechterdings keine Macht über seine Vorstellung hat. Die produktive Einbildungskraft ist, psychologisch gesprochen, der irreduzible Kern der Ichheit. Man kann sie unter Umständen zerstören, aber abrichten kann man sie nicht.
Wenn also erziehen in dem beiläufigen Sinne von „man kann nicht nicht-erziehen“ so gut wie gar nichts sagt und wenn erziehen in dem emphatischen Sinn von ‚den ganzen Menschen formen’ eine Unmöglichkeit ist – warum klammern sich dann so viele an das Wort?
Ganz einfach. Die erwerbsmäßigen Kinderkümmerer brauchen es, um ihr monatliches Gehalt zu rechtfertigen, und der Steuerzahler ist’s zufrieden.
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*) Lutz Michael Alisch & Roessner, Lutz, Erziehungswissenschaft und Erziehungspraxis, Mchn. 1981, S. 38 – Diese Definition trifft einen jeden, der in der Fußgängerzone Fleckenwasser feilhält, ebenso wie jeden Wahlredner.
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