Mittwoch, 11. September 2013

Die Grenzen der pädagogischen Vernunft...

...oder:  
Taugt Erziehung zur Wissenschaft?
zuerst in: PÄDForum 2/2003



Ich kann von dem, was ich sollte, keinen Begriff haben, bevor ich es tue. Einen Akt der Freiheit begreifen wollen, ist absolut widersprechend. Eben wenn sie es begreifen könnten, wäre es nicht Freiheit.
J. G. Fichte



Erziehung, was ist das? „Alles ist Erziehung!“ strahlt der Pädagoge. Wenn alles Erziehung ist, dann ist nichts Erziehung. Ist Erziehung alles und nichts? Das klingt weise!



Der Mensch wird erst durch Erziehung zum Menschen, sagte Herder. Das heißt ja wohl, alles, was ihn als Menschen vom Tier unterscheidet, wird ihm nicht durch sein Erbmaterial, sondern durch andere, künstliche Bedeutungsträger mitgeteilt. Herder verstand unter Erziehung ungeniert Nachahmung: den „Übergang des Vorbilds ins Nachbild“.1 Wenn aber Kultur immer nur Abklatsch ist – wie kann sie sich da entwickeln? Woher kam dann das immer Neue in der Geschichte der Menschen? Ein Verdacht regt sich: Es ist nur als willkürliche Zutat der Erzieher denkbar. Die Pädagogik als Subjekt der Gattungsgeschichte! Herder war vielleicht mehr Sohn der Aufklärung, als er dachte.



Begriffliche Schärfe lag nicht in seinem Temperament. Gelegentliche Aporien machten ihm nichts aus (denn mit dem tendenziösen Mißverstehen eines selbstsüchtigen Berufsstandes mußte er zu seiner Zeit noch nicht rechnen). Erziehung, wie er sie arglos verstand, gehört zum Menschen, seit er aufrecht geht, das heißt, seit Jahrmillionen; und zwar ganz selbstverständlich, ohne dazu einer besondern Theorie, einer begründeten Methode oder gar – eines besondern Berufsstands von Erziehungstechnikern zu bedürfen. Ganz selbstverständlich ist dagegen heute, daß Erziehung methodisch zu geschehen hat, daß sie als Wissenschaft zu betreiben, und daß sie – das ist wohl das mindeste – durch ausgebildete Professionelle zu verabfolgen ist, an denen sich dilettierende Eltern bitteschön ein Vorbild nehmen sollen.2



Wie konnte es so weit kommen? Landläufig gilt Plato als Begründer pädagogischer Theoriebildung.3 Ein originäres Interesse an pädagogischer Erkenntnis hatte er aber nicht. Er fragte nach der besten Verfassung des Staates – und danach erst nach der geeigneten Ausbildung für dessen Regierungspersonal, und es ist kein Zufall, dass sein Idealstaat so sehr dem aristokratischen Sparta ähnelte und so wenig dem demokratischen Athen. Sicher kann man, wenn man will, aus seinen Ausführungen eine allgemeine pädagogische Theorie extrapolieren. Nur, in welcher Absicht? Um Sparta zum Vorbild zu machen? Platos Erziehungsplan stand im Dienst eines politischen Programms. Worauf er aber nicht gekommen ist: die richtige Staatsverfassung durch richtige Erziehung einführen zu wollen. Denn dazu hätte es einen geben müssen, der sowas machen kann. Die Idee selbst setzt ein Subjekt voraus: die pädagogische Zunft. Mit andern Worten, zu einer eignen Wissenschaft fehlte noch das nötige Erkenntnisinteresse.



Was ist Wissenschaft?



Wissenschaft gibt es nicht an sich, etwa im Unterschied zu andern möglichen Weisen des Wissens. Schon gar nicht ist jede gut sortierte Anhäufung von Wissensstoff gleich „Wissenschaft“. Die Himmelskunde der Babylonier, die doch auf genauer, geduldiger und systematischer Beobachtung beruhte, war so umfassend, daß sie vom Abendland zweitausend Jahre lang nicht zu überbieten war. Aber sie diente bloß den Astrologen. Einen andern Sinn kannte sie nicht.4



Wissenschaft ist auch nicht wahres Wissen im Unterschied zum Irrtum. „Ein Satz ist wahr oder falsch – gleichgültig, ob er bewiesen ist oder nicht, ob er unbeweisbar ist, eventuell sogar beweisbar unbeweisbar ist, ob er direkt oder indirekt, so oder anders bewiesen wird.“5 Das Spezifische der Wissenschaft ist aber gerade, daß dort bewiesen wird. Wissenschaft entsteht, wo ein Bedarf an bewiesenem Wissen auftritt: einem Wissen, das so mitgeteilt werden kann, daß es den andern zum Einverständnis nötigt. Ein solcher Bedarf entstand typischerweise – und nur – in der modernen westlichen, der bürgerlichen Gesellchaft. Wissenschaft hat einen Stichtag: Isaac Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica erschienen 1687 in London.6



Die bürgerliche Gesellschaft ist wesentlich öffentlicher Raum. Aber die öffentliche Meinung ist „von Natur“ gespalten. Wissenschaft vermag das Feld des Meinungskampfs einzuengen, indem sie Einverständnis erzwingt; sie ist öffentliches Wissen.7 Ihr Aufstieg im Zeitalter der Moderne war das politische Ereignis par excellence. Je mehr Bereiche des öffentlichen Lebens von Wissenschaft durchdrungen werden, umso weiter reicht das Feld politischen Einverständnisses. Nichts anderes bezeichnet Max Webers Wort von der „Rationalisierung der Welt“, deren äußeres Merkmal ihre Verrechtlichung ist.8



Ihre das Einverständnis erzwingende Macht verdankt Wissenschaft ihrem systematischen Fortschreiten von der Sicherung ihres logischen Grundes hier – zur begrifflichen Erfassung ihres Gegenstands da. Reale wissenschaftliche Forschung bewährt sich als die alltäglich immer neu zu leistende Vermittlung zwischen ihrem Grund und ihrem Gegenstand.9 So kann es scheinen, als sei die Methode selber die Wissenschaft. Das verdanken sie beide ihrem Stifter. René Descartes identifizierte zwei Substanzen in der Welt, res extensa – Körper, Materie, deren wesentliche Bestimmung ihre Räumlichkeit ist – und res cogitans, die immaterielle denkende Seele.



Dies ist das Grundmuster des modernen Weltbilds: da das unendlich ausgedehnte, von allgemeingültigen Gesetzen regierte Universum, und hier das souveräne Subjekt. Erkenntnis ist möglich, weil sie von ihrem gemeinsamen Schöpfer mit demselben Gesetz ausgestattet sind. Was findet nämlich die denkende Seele, wenn sie, von allen (trügerischen) sinnlichen Eindrücken absehend, sich selber auf den Grund geht? Die klaren und eindeutigen Verfahren der Mathematik, als der reinen Anschauung räumlicher Verhältnisse. Descartes machte Epoche, als er sich „entschied, nichts für wahr anzunehmen, was mir nicht so klar und so gewiß erschiene wie die Demonstrationen der Geometer“.10



Wissenschaft bedeutet seither: die Welt more geometrico rekonstruieren, und Vernunft heißt, sich – nach mathematischem Muster – logische Beziehungen wie räumliche Verhältnisse denken. Auf dieser „Verräumlichung“ des modernen Bewußtseins11 beruht ein Kausalitäts-Begriff, der dem Modell der klassischen mechanischen Physik nachgebildet ist und das Alltagsbewußtsein bis heute prägt,12 und noch die Zeit erscheint als eine zu durchmessende Strecke.13



Das physikalische Modell…



Zum Inbegriff der Wissenschaft wurde die Physik, indem sie im 17. Jahrhundert ihren über Jahrtausende verstreut abgelegten Wissensbestand durch methodisches Einordnen in das Spannungsfeld zwischen (zu sicherndem) Grund und (zu bestimmenden) Gegenstand zu einem System bildete. Nicht Forschung hatte physikalische Kenntnisse erworben, sondern die praktischen Kühnheiten der Handwerker, Baumeister, Seefahrer und Soldaten. Die waren nicht öffentlich, sondern sorgsam gehütet in zünftigen Werkstätten, Dombauhütten, Kontoren und Fürstenhöfen. Und hätte man sie veröffentlichen wollen – ja wie denn? Erst mit dem Buchdruck wurde ein Speicher erfunden, der das Wissen allgemein zugänglich machte.14 Mit der Renaissance wuchsen die Kenntnisse auf allen Gebieten explosionsartig an. Schrittmacher der Physik waren die Uhrmacher für die Mechanik, die Optiker und Seeleute für die Himmelsphysik, die Festungsbauer (frz. le génie) für die Statik, die Kanoniere für allerlei…



Zur Theorie wurden sie nicht an der Universität geordnet, sondern in den Privaträumen denkender Liebhaber – Descartes war Reiteroffizier, Newton leitete die Londoner Münze. Die Theorie hatte der Physik jahrtausendelang vielmehr den Weg versperrt. Das war der Fluch ihrer frühen Geburt: Das abendländische Denken begann bei den ionischen (kleinasiatischen) Griechen als Natur-Philosophie, als meta-physische Spekulation über ‚Ein und Alles’, wo die Natur – gr. physis – gemeinsam mit allem Denkbaren in einem unlösbaren Durcheinander unterging, aus dem sie die rein zufälligen Experimente einzelner Neugieriger nicht herausholen konnte. Unter der Herrschaft der römischen Kirche war an eine Lösung der Natur aus der Theologie schon gar nicht zu denken.



Dazu bedurfte sie des Eingriffs der Mathematik. Die mittelalterlichen Scholastiker hatten mit ihrer gnadenlosen Logik der Wissenschaft den Boden bereitet, das sei nicht vergessen. Nichts ließen sie gelten, als was mit überprüfbaren Gründen bewiesen wurde,15 und ihre Disputationen fanden öffentlich statt. Aber ihnen waren seitens der Gegenstände wie seitens der Gründe von der Theologischen Fakultät enge Grenzen gesetzt, und ihre Gelehrtenrepublik – von Salamanca bis Wilnius, von Palermo bis Uppsala – zählte nur ein paar hundert Köpfe.



Doch der Mathematik konnte keiner Grenzen setzen, und auf Hörsäle war sie gar nicht erst angewiesen. Sie war universell und unwiderstehlich. Sie war nicht, wie unsere eigne Schullaufbahn vermuten macht, aus dem kleinen Einmaleins hervorgegangen. Zwar hatten die Babylonier ihr Interesse auf die Arithmetik konzentriert. Aber Mathematik entstand erst, als die Griechen Thales und Pythagoras die Zahlen in den Dienst der Geometrie, der Anschauung räumlicher Verhältnisse nahmen. Das Leitbild der Mathematik – die vollkommene Gestalt16 – ist ästhetisch. Ihre Verfahren sind Anschauung und Konstruktion.17



Auf etwelche sinnliche Erfahrung – über die man streiten könnte – ist sie nicht angewiesen. Sie begründet sich aus sich selbst, und nur so konnte sie zur Grundlage der allgemeinen wissenschaftlichen Methode werden: „die Naturerscheinun- gen auf mathematische Gesetze zurückzuführen“,18 und nur darum galten die Konstruktionsregeln der Mathematik fortan „als allgemeingültige Naturgesetze, von denen die Dinge selbst geformt werden“[19]. Diese ‚Methode’ macht eine besondere Metaphysik überflüssig, weil sie selber metaphysisch ist – aber unausgesprochen.[20] Ein ‚letzter Grund’ bleibt dabei stillschweigend immer vorausgesetzt, und ob oder wie er sich auffinden läßt, wird geflissentlich den Philosophen und anderen Hirnwebern überlassen, und nicht viel anders steht es mit dem ‚Gegenstand an sich’, der Welt. In den realen Wissenschaften begnügt man sich pragmatisch mit der Methode, und ihre Ergebnisse bewährten sich jeden Tag aufs Neue: in der Industrie.


…schafft auch nicht alles.



Die wichtigste Leistung der Wissenschaft war die industrielle Revolution. Mit ihr trat seit Mitte des 18. Jahrhunderts das wirtschaftliche Geschehen in den Mittelpunkt öffentlichen Streits.21 Wenn sich Descartes’ wissenschaftliches Programm irgendwo zu bewähren hatte, dann hier. Das meinte der Mediziner Dr. Quesnay und ging daran, die Wirtschaftstätigkeit der Menschen nach physikalischem Vorbild als ein naturgesetzliches System zu fassen:22 So wie im lebenden Körper das Blut, so zirkulierten in der Gesellschaft die Werte. Als deren ‚Grund’ machte er die Produktivkraft der Natur (der Physis, d. h. des Ackerbodens) aus, weshalb sein System das ‚physiokratische’ hieß.



Es hatte aber den Mangel, daß aus der Produktivität des Bodens den Werten kein Maß erwachsen konnte. An ihre Stelle setzten Adam Smith und David Ricardo daher im ‚Klassischen System der Politischen Ökonomie’ die Produktivität der menschlichen Arbeit.23 Das Wertgesetz lautet: Die Waren tauschen sich gegen einander nach Maßgabe der in ihnen dargestellten Arbeitsmenge. Es war politisch in einem unerwarteten Sinn.24 Ließ sich nämlich die bürgerliche Gesellschaft als geschlossenes System darstellen, das sich durch ebenso natürliche wie vernünftige Gesetze selbst-begründet, so erschien sie als gerechtfertigt – gegen den untergehenden Erbadel sowohl als gegen das aufkommende Proletariat.



Politisch waren auch die Motive für die Kritik daran. Doch ihre ‚Methode’ bestand zunächst nur in dem Versuch, das ‚System’ abschließend darzustellen. Doch was zeigte sich? Zu Grunde liegt ihm in Wahrheit ein „fehlerhafter Kreislauf“: Was erklärt werden müßte, wird schon vorausgesetzt!25 Wenn nämlich die Arbeit in den Austauschprozeß der Werte (=Waren) als Maß eingreifen soll, dann muß sie selber regelmäßig als Ware ausgetauscht werden. Mit andern Worten, das Wertgesetz setzt Lohn-Arbeit voraus.



Es setzt voraus, daß eine Klasse von Leuten entstanden ist, die nicht die Mittel (Werkzeuge, Rohstoffe) haben, um ihre eigene Arbeit in Gebrauchsgütern zu vergegenständlichen, die sie mit andern tauschen könnten, und darum die Arbeit selbst als Ware veräußern müssen.26 Setzt voraus, daß die Masse der Bevölkerung von ihrer angestammten Scholle vertrieben war. „Die Expropriation des ländlichen Produzenten, des Bauern, von Grund und Boden bildet die Grundlage des ganzen Prozesses.“27 Und das war kein naturgesetzlicher und kein ökonomischer Vorgang, sondern ein historischer Gewaltakt. Das ‚System’ hat sich nicht ‚selbst begründet’, der ‚Wert’ ist nicht aus dem ‚Gesetz’ hervorgegangen, sondern aus einem ungleichen Kräfteverhältnis, und die bürgerliche Gesellschaft wurde nicht gerechtfertigt, sondern fix und fertig vorausgesetzt.



Wissen wozu?



Alles kann irgendwie ‚gewußt’ werden. Oder richtiger, indem es gewußt wird, kann Alles überhaupt nur ‚sein’. Doch wie der Gegenstand bestimmt wird, hängt anscheinend davon ab, wer was wozu wissen will. Erst recht hängt davon ab, wie es wem zu beweisen ist.



Die Politische Ökonomie konnte offenbar nicht in derselben Weise Wissenschaft werden wie die Physik. In dieser wirken ‚Naturgesetze’, aber in jener wirken lebendige Menschen, und auf deren Gesetzestreue ist kein Verlaß. Man kann auch sagen: Im Menschenleben gibt es ein Moment von Freiheit, das sich nicht berechnen läßt. Man hat darum die Naturwissenschaften, in denen Phänomene aus ihren Ursachen erklärt werden, von den sog. Geisteswissenschaften unterschieden, die Handlungen aus ihren Motiven verstehen wollen:28 In jenen beschäftigt sich der denkende Mensch mit den Dingen außer ihm, und in diesen beschäftigt er sich mit sich selbst. Doch diese Unterscheidung ist nur vorläufig, denn sie läßt sich nicht bestimmen. Auch aus den Dingen lesen wir nämlich nur heraus, was wir vorher von ihnen erfragt haben, unsere Motive stecken immer auch mit drin.



Stattdessen wurde vorgeschlagen, zwischen ‚nomothetischen’ und ‚idiographischen’ Wissenschaften zu unterscheiden:29 zwischen solchen, die ‚Gesetze formulieren’, und solchen, die ‚Einzelnes beschreiben’. Die einen bestimmen das als ihren Gegenstand, was den Dingen gemeinsam ist, die andern das, was sie unterscheidet. Zwar erfordert die Vermittlung zwischen dem Sichern des Grundes und dem Bestimmen des Gegenstands jedesmal dieselbe methodische Sorgfalt. Dennoch hat das Idiographische seine wissenschaftliche Würde nicht recht durchsetzen können: Als Wissenschaft gilt eben doch nur, was ‚Gesetze’ entdeckt – denn nur dann kann ich was damit anfangen: Die „Arbeits- und Leistungswissenschaft trägt heute unsere gesamte Weltzivilisation und alle Technik und Industrie“; ihr entspricht „ein Weltbild in mathematischen Gleichungen, das es ermöglicht, den Weltprozeß… gehen zu machen nach beliebigen praktischen Zwecken“.30



Und so erscheint es, als sei das einzige Wissen, das diesen Namen verdient, dasjenige, das unsere Macht über besagten Weltprozeß mehrt. ‚Herrschaftswissen’ hat es Max Scheler genannt32 – und hat daneben ein ‚Bildungswissen’ gestellt, das unsere „geistige Person“ prägt, sowie ein – wie er es nannte – ‚Erlösungswissen’, das dem persönlichen Leben seinen Sinn weist. Doch Bildungs- und Erlösungswissen drängen nicht an die Öffentlichkeit, denn sie bedürfen niemandes Einverständnis’. Sie können mitgeteilt werden; Herrschaftswissen muß. Es ist der Typus der Wissenschaft.



Bevor wir zu der Frage kommen, wer was wozu vom Erziehen wissen will, und ob dies Wissen zur Wissenschaft taugt, sei eine weitere Unterscheidung eingeführt: Kants Trennung von ‚theoretischem’ und ‚praktischem’ Wissen. Dieses hat alles zum Gegenstand, was ist; jenes das, was sein soll. „Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist.“33 ‚Durch Freiheit möglich’ sind die Zwecke, die wir uns selber setzen. Theoretische Wissenschaft kann die ‚Gesetze’ aufzeigen, derer wir uns bedienen, um unsere Zwecke zu verfolgen. Aber Zwecke setzen kann sie nicht.



So hat sich die Politische Ökonomie seit der Marx’schen Kritik zu dem zurückentwickelt, was sie an ihrem Anfang war – ein Inventar von Techniken der Wirtschaftspolitik.34 Könnte sie wirklich lehren, wie man die Produktion steigert, wäre sie ‚theoretisch’ im selben Sinn wie etwa die Ingenieurswissenschaften. Wie aber das Produkt etwa ‚gerecht verteilt’ werden soll, wäre eine praktische Frage, die ‚durch Freiheit’ zu entscheiden ist – von der Politik, nicht von der Wissenschaft. Einverständnis kann darüber nicht durch Gründe erzwungen werden, weil es um Zwecke geht, und die werden nicht erwiesen, sondern postuliert.



Normalisierung



Das Heranwachsen der kommenden Generation ist nun eine Angelegenheit von äußerstem öffentlichen Interesse, darf man sagen. Eher noch als die Volkswirtschaft wäre dies der Ort, das Feld öffentlichen Meinungskampfs einzuschränken und Einverständnis zu erzwingen. Doch selbst angenommen, eine theoretische Wissenschaft könnte uns (besser als die Volkswirtschaftslehre) die richtigen Techniken lehren – es geht ja immer erst um die Zwecke! Die müßten postuliert werden. Aber von wem? Wenn sich schon Postulate nicht begründen lassen, dann sollte sich der Postulierende doch immerhin rechtfertigen können.



Das Problem ist hier offenbar das Subjekt. Wer darf die Zwecke der Erziehung postulieren? Die Öffentlichkeit? Aber die ist gespalten. Darum ging es doch gerade: die Öffentlichkeit durch zwingende Gründe zu einem Subjekt zu bilden – dazu war Wissenschaft da! Wieder ein „fehlerhafter Kreislauf“: Um postulieren zu können, müßte sie sich zum Subjekt bilden; aber um sich zum Subjekt zu bilden, bräuchte sie Wissenschaft. Aber deren Zweck sollte sie ja erst noch postulieren!



Darum postuliert ‚die Öffentlichkeit’ in dieser Sache auch nicht selber. Das überläßt sie stellvertretend dem Berufsstand der erwerbsmäßigen Pädagogen. Es scheint auch nahe zu liegen: Es ist ja ihr Beruf, da werden sie schon wissen, was sie tun. Ein Arzt weiß, was er tut, weil er nicht nur ein Handwerk gelernt, sondern auch eine Wissenschaft studiert hat. Der Kfz-Mechaniker hat zwar keine Wissenschaft studiert, aber wenn er nicht wüßte, was er tut, würden seine Machwerke nicht laufen. Und wüßte die Köchin nicht, was sie tut, müßten alle spucken.



Daß Pädagogen einen Beruf ausüben, beweist aber nicht, daß sie wissen, was sie tun. Ein Handwerk mögen sie gelernt haben, doch ob ihre Machwerke ‚laufen’, mag im einzelnen jedesmal bezweifelt werden – denn wo ist das Maß? Gespuckt hat schon mancher. Und ob das, was sie studiert haben, eine Wissenschaft ist, steht eben in Frage.



Doch wenn sie zwar nicht mit zwingenden Gründen Einverständnis schaffen, so stehen sie doch zum gesellschaftlichen Konsensus irgendwie in einem privilegierten Verhältnis. Denn von alters ist es der Berufsstand der Pädagogen, der für Normalität sorgt! Das hat ihn gerechtfertigt und zum Postulieren befugt. Doch wer wagt heute noch zu sagen, was normal ist? Den Pädagogen kommt ja nicht mal mehr das Wort über die Lippen!35



Die Rechtfertigung des Pädagogenstandes war eine historische. In vorbürgerlichen Gesellschaften gab es keine Normalität. Sie sahen aus wie Flickenteppiche aus soundsoviel verschiedenen Nischen, die nur äußerlich verbunden schienen: durch Handelswege und dynastische Herrschaft. Jeder war an seiner Statt so, wie er eben war und wuchs in die Besonderheiten seiner Umwelt hinein, sich von Anfang an nach Maßgabe seiner je entwickelten Kräfte an deren besonderer Reproduktionsweise beteiligend, mitmachend, learning by doing – und die er normalerweise sein Lebtag nicht verließ: Werkstatt, Laden, Acker, usw.



Mit zwei Ausnahmen: Ein Handwerk gibt es, das man nicht durch Mitmachen erlernen kann, das Kriegshandwerk. Es bedarf einer vorgängigen Ausbildung der technischen Fertigkeit sowohl als einer Entwicklung der Körperkraft. Ähnlich stehts mit jenem andern Ursprung der herrschenden Klassen, der Priesterschaft. Deren Ausübung bedarf der vorherigen Einweihung ins göttliche Geheimnis. Seit die Religion aber in Schriftform tradierbar ist, wird die religiöse Bildung auf weite Strecken formalisierbar: Die Kleriker haben die Schulen erfunden.



Eine Besonderheit der westlichen Entwicklung: mit der Feudalisierung entsteht im christlichen Adel eine Kriegerkaste, die – teils in Abhängigkeit vom Klerus, teils in Konkurrenz – selber zum Kulturträger wird: Bildung wird, wie bei Plato, zur Legitimation des Berufs zum Herrschen. Bildung ist ein Kastenprivileg. Und beachte: durch ihre Ausbildung wurden Krieger und Pfaffen mobil! So konnte ein Mönch aus der Grafschaft Surrey in München zum Chefideologen beim römisch-deutschen Kaiser werden, und ein Ritter aus den Ardennen wurde König von Jerusalem.



In der bürgerlichen Gesellschaft wird Bildung zu einer allgemeinen Aufgabe. Sie zersetzt die partikularen Umweltnischen durch ihre Vereinnahmung ins Marktgeschehen. Sein Charakter ist, nach Dr. Quesnay, Zirkulation. Jetzt sollen alle mobil werden. Austauschbarkeit wird zum entscheidenden Kriterium gesellschaftlicher Wert-Schätzung. Normalisierung, mit einem andern Wort.



Das heißt vor allem: Formalisierung, nämlich Verschriftlichung, und dadurch Vereinheitlichung der bislang partikularen Standesbildungen durch Lateinschulen, Universitäten, später Gymnasien. Seit dem Buchdruck und dem Entstehen der Wissenschaft explodiert der Fundus sachlicher Kenntnisse und nimmt einen Umfang an, der den Rahmen des Learning by doing in einer Lebensspanne weit übersteigt. Nicht nur der Form, sondern auch dem Gehalt nach wird Bildung nunmehr allgemein. Motor der Entwicklung einer allgemein- verbindlichen, „normalen“ Bildungsidee ist der wachsende Bedarf an qualifizierten Staatsbeamten.36



Mit der industriellen Revolution wird ein allgemeiner, wenn auch elementarer Bildungsstandard zur Voraussetzung auch der ausführenden Tätigkeiten in der Fabrik: „Allgemeinbildung“, Lesen, Schreiben, Kopfrechnen… Ursache ist die fortschreitenden Kapitalisierung der Produktionsvorgänge. Je mehr Kapital in der Technik steckt, umso teurer kommen Bedienungsfehler. Der ideale Fabrikarbeiter ist mobil und kann bedarfsweise von einer Maschine zur andern wechseln, ohne dabei an Zuverlässigkeit zu verlieren. Die industrielle Zivilisation schafft den Durchschnittsarbeiter. Die allgemeine Schulpflicht wird eingeführt.37



Die erziehende Tätigkeit hat ihren besonderen Ort gefunden. Dort hat sich ein besonderer Berufsstand gebildet. Da war es nun, das postulierende Subjekt! War es aber zum Postulieren berechtigt? Immerhin erledigt es eine allgemeine Aufgabe – Normalisierung. Zugleich erschien ihm seine Tätigkeit als eine besondere; so besonders nämlich, daß sie einer speziellen Ausbildung bedarf, ja daß sie gar zum Gegenstand einer eignen Wissenschaft bestimmt werden kann. Mit andern Worten, in der Schule wurde Erziehung auf einen Begriff gebracht,37 und der gilt seither als das Eigentliche. Was Väter, Mütter, Onkels, Tanten und alle andern tun, die sonstwie regelmäßig mit Kindern Umgang haben, ist dagegen eine uneigentliche, verunreinigte, dilettantische und – sagen wir’s nur graderaus – eine störende Mängelversion davon.



Unsere Welt und meine Welt



Das wirkliche Verhältnis scheint auf den Kopf gestellt. Als Herder meinte, der Mensch werde ‚nur durch Erziehung’ zum Menschen, wollte er, gegenüber biologischer Vererbung in der Natur, die Bedeutung kultureller Traditionen für die Ausbildung der Gattung hervorheben. Durch das Einschmuggeln der ‚Normalität’ in die ‚Menschwerdung’ bekommt der Satz nun einen neuen Sinn: Der Mensch wird nur durch die Erwerbstätigkeit von Pädagogen zum Menschen. Und ‚erziehen’ wird in beiden Fällen in völlig anderer Bedeutung verwendet: da unspezifisch, auf die Forstschritte der ganzen Gattung bezogen; hier auf das Individuum bezogen und historisch spezifiziert.



Daß der Mensch ‚erzogen werden muß’, liegt daran, daß er nicht mehr in einer biologisch definierten Umwelt lebt, sondern in einer offenen Welt. „Für ein Tier ist durch seine umweltgebundene Organisation von vornherein darüber entschieden, ob und inwiefern ein Naturbestandteil dieses Wesen etwas angeht. Uns kann jeder noch so unscheinbare Teilbestand der Umgebung bedeutend werden. Uns kann alles etwas angehen.“38 Eine Umwelt ist ein Inventar natürlicher Dinge, die sich selbst bedeuten.* Die Welt ist ein Tableau von Bedeutungen, die in Symbolen dargestellt wurden.39



Es sind nicht sowohl die Dinge, die kulturell tradiert werden, als die Bedeutungen. Während seiner „extra-uterinen Embryonalzeit“ ist der Mensch noch in seine Umwelt gebunden; doch bereitet sein „noch im Stadium der Ausreifung vor sich gehender früher Kontakt mit dem offenen Reichtum der einströmenden Reizfülle“ den Grund für seinen spezifisch menschlichen Wesenszug: „seine Weltoffenheit“.40 Erziehen heißt nun, einem Menschen die Dinge zeigen und die Symbole, die ihm die Welt bedeuten. Doch haben die in den Symbolen aufbewahrten Bedeutungen einen andern Realitätsgrad als die Dinge. Sie ‚sind’ nämlich nur, sofern ich sie gelten lasse. Denn der Mensch ist das Tier, das nein sagen kann;41 auch dazu: zur Meinung der Andern. Das heißt, ‚die Welt’ wird überliefert, aber seine Welt bildet sich jeder selbst..


„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“, sagt Ludwig Wittgenstein,42 aber das ist falsch. Die Grenzen unseres gemeinsamen Symbolsystems – das ist mehr als Sprache – sind die Grenzen unserer gemeinsamen Welt; nämlich ihrer Mitteilbarkeit (und die erheischt Bestimmtheit).43 Meine Welt hat andere Grenzen, denn in ihr können auch Bilder vorkommen, die ‚nur sich selbst bedeuten’ – und daher unbestimmt bleiben dürfen: Das ist ihre ästhetische Qualität. Wovon ich nicht sprechen kann, darüber muß ich nicht schweigen: Ich kann es zeigen. ‚Symbole’, nämlich Bedeutungsträger für andere, können auch Bilder werden. Sie irrlichtern dann am Rande ‚unserer’ Welt und beleuchten ihn. Als da wären die ‚Existenzialien’ wie Liebe, Leidenschaft, Freiheit, Sinn, Schönheit, Grauen, Glück, Ehre und Anstand; übrigens auch Komik und… Wissen.



Kein verständiger Kopf würde sie bestimmen wollen. Aber gezeigt  werden sie oft und gern – in den Bildern der Kunst.44 Nicht zuletzt darum übrigens ist die Welt, im Unterschied zu den geschlossenen Umwelten, offen: weil in meiner Welt Anderes vorkommen mag als in der der Andern45 – und ich es ihnen zeigen kann. Gebildet ist, wer sein Leben in ‚seiner’ Welt und in ‚unserer’ Welt gleichzeitig führt, ohne sich zu verlaufen. Nur als Bildung läßt Erziehung sich rechtfertigen.



Alles, was als Tatsache in ‚unserer’ Welt vorkommt, läßt sich auch bestimmen; nämlich in das allgemeine Bedeutungsgeflecht einpassen, wo Jedem seine Bedeutung durch die Bedeutung aller Andern zugewiesen wird. Reflektieren heißt nichts anderes als: seinen Platz im großen Verweisungszusammenhang aufsuchen. Was bestimmt ist, kann Bestandteil einer Wissenschaft werden – weil sich sein logischer Zusammenhang demonstrieren und Einverständnis erzwingen läßt. Was demonstriert werden kann, läßt sich erlernen.



Was dagegen ‚durch meine Freiheit möglich’ wurde, läßt sich eo ipso nicht bestimmen. Es liegt allein in ‚meiner’ Welt. Ich kann es nicht erlernen, sondern muß es erfinden und mir einbilden. Einverständnis der andern kann ich nicht erzwingen, sondern höchstens ihren Beifall heischen: sie animieren, meine ‚Anschauung’ nach-zu-erfinden. Das Nacherfinden kann nicht gelehrt werden: dazu muß man verführen, und das ist Kunst. Gegenstand von Wissenschaft kann es nur ‚idiographisch’ werden: kritisch und historisch.



Das Labor und das Leben



Eine Welt braucht jeder von uns, weil wir unsre Umwelt verlassen haben. Aber eine gemeinsame Welt brauchen wir, weil wir zusammen arbeiten müssen. Vereinfacht, aber kaum verkürzend kann man sagen: ‚Unsere’ Welt verdanken wir der Arbeitsgesellschaft, und Wissenschaft ist ihr Abbild. In der Arbeitsgesellschaft gilt ‚unsere’ Welt als die ganze Welt, was in ihr nicht vorkommt, ist nicht real. Aber nur in der Arbeitsgesellschaft kann keiner leben, nicht der Arbeiter und nicht einmal sein Chef. Nach Feierabend darf verkehrte Welt sein, wenn man’s bezahlen kann, und gilt ein Kunstwerk nicht nur als Sachanlage. Aber das liegt jenseits der Realität.



Die Schule will die Arbeitsgesellschaft als das wahre Leben und ‚unsere’ Welt als die wahre Welt, will Wissenschaft als das wahre Wissen lehren. (Die musischen Fächer setzen ein paar Gänsfüßchen hintan, aber keiner nimmt sie ernst.) Und jedenfalls sind die Grenzen ihrer Welt die Grenzen ihrer Wörter: „Pädagogisches Handeln ist nur dort möglich, wo der wechselseitige Austausch von sprachlich erschlossenen Erfahrungen möglich ist“, schreibt Hermann Giesecke, und fügt hinzu, das sei „der Normalfall im privaten wie im gesellschaftlichen Leben“.46 Reden über unsere Welt – das wäre Erziehung! Nein, das ist nicht der Normalfall im privaten wie im gesellschaftlichen Leben. Das ist der Normalfall im pädagogischen Labor, und nirgends sonst. Nur weil schulische Pädagogik im Labor stattfindet, kann sie sich für ‚Wissenschaft’ halten; für ‚nomothetisches’ Herrschaftswissen zumal.

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Normalisierung bedarf freilich eines mehrjährigen Aufenthalts im Labor. Dort wird auf das gesetzmäßig Verbindende abgesehen und das individuell Unterscheidende ausgeklammert – bei den wissenschaftlich bestimmten Lehrgegenständen, was dachten Sie? Na ja, wenn ich’s recht besehe – bei den Schülern auch. Natürlich werden die persönlichen Eigenheiten des einen und der andern ‚zugelassen’, aber als Ausnahmen von der Regel. Die Regel bleibt die Regel. Wie soll der Betrieb sonst funktionieren? „Standards“, na bitte, ick bün all do! Das ist der methodologische Sinn der Laborsituation: Störfaktoren ausschalten! Es ist nicht „das Leben“, worauf die Schule vorbereitet, sondern das Arbeitsleben. Und das ist nur ein Teil der Wirklichkeit, und zwar, am Ende der industriellen Zivilisation, ein schrumpfender.



Die Arbeitswelt war ‚unsere’ Welt, war Sinn und Zweck des Lebens. Es gab noch einen Rest, der war Randbedingung, Konsumsektor, Pause und Erholung. In der Arbeitsgesellschaft war Normalisierung ein ‚gerechtfertigtes’, nämlich aus historischer Notdurft erwachsenes Postulat. Heute erscheint immer mehr die Arbeit als ein Rest, eine Randbedingung des Lebens, das seine Bestimmung verloren – oder, besser gesagt: seine Bestimmung als Unbestimmtes wiedergefunden hat. Das wirkliche Leben spielt (sic) sich immer in einer schwebenden Spannung zwischen ‚unserer’ und ‚meiner’ Welt ab. Wie gut sich einer in dieser Schwebe hält, bleibt tagtäglich sein Problem. Jemanden für dies Problem zu wappnen, ist der einzig mögliche Sinn einer Erziehung, durch die ‚der Mensch zum Menschen wird’.



Alltagskunst



Dies Problem ist das, was der Erziehung zu Grunde liegt. Und das ist nichts, worauf man bauen kann. Da muß man sich durchschlagen, jeden Tag aufs Neu’. Mit andern Worten, wer Erziehen zu einem wissenschaftstauglichen Begriff bestimmen will, der kann auch gleich ‚das Leben selbst’ als Wissenschaft bestimmen. Erziehung ist alles und nichts. Das ist die erhabene Sicht auf die Sache.



Prosaisch gesehen, ist erziehen eine Alltagsverrichtung wie kochen oder Auto fahren. Im Prinzip kann das jeder, aber manch einer besser als manch anderer. Wohl kann man aus diesem eine Kunst, aus jenem einen Hochleistungssport machen. Dann wird man es mit Eifer (lat. studium) erlernen müssen. Für den Alltagsgebrauch reicht learning by doing, doch eine gewisse Vorübung ist nötig, um Katastrophen zu vermeiden. Bei aller Alltäglichkeit sind beide Tätigkeiten aber noch so spezifisch, daß ich sie von all meinen andern Verrichtungen im Tageslauf unterscheiden kann. Ich weiß, wann ich damit anfange und wann ich wieder aufhöre, und wenn ich’s mir nicht vornehme, findet’s nicht statt. Wenn aber, sagen wir, ein Vater mit seinen Kindern in den Zoo geht, wirkt er zweifellos erziehend. Aber deshalb tut er’s nicht, sondern weil es Freude macht. Nur darum wirkt es übrigens ‚erziehend’. Ginge er dagegen mit erzieherischem Vorsatz in den Zoo, hat er alle Chancen, dass er weder sich noch den Kindern damit Freude macht – und verfehlt die Absicht.



Wann ‚erziehen’ Eltern? Die Frage taugt als Vorlage für ein Schmunzelbuch. Zweifellos doch, wenn sie belohnen oder strafen: denn das tun sie ja wohl vorsätzlich. Was lernen ihre Kinder dabei? Nutzen und Schaden abwägen. Das würden sie aber auch ohne dies lernen – vielleicht langsamer, vielleicht schneller. Gerade dafür ist Erziehen also nicht ‚notwendig’. Tatsächlich geschieht das, was ein unbeteiligter Betrachter Belohnung oder Strafe nennt, im täglichen familiären Kuddelmuddel nicht vorsätzlich, sondern nebenher, ohne Kalkül. Das ist die Regel, die von Ausnahmen bestätigt wird – welche ihrerseits nur deshalb wirken, weil sie Ausnahmen sind. Mit andern Worten, Erziehung geschieht in der Regel beiläufig, unabsichtlich, unspezifisch, und immer, wenn es eigentlich um irgendwas anderes geht: Erziehung ist medial, sie braucht ein Drittes. Erziehung ist nicht Einwirkung von A auf B, Erziehung „ergibt sich“, wenn sich A und B an C zu schaffen machen.



Einen allgemeinen Begriff von Pädagogik – oder einen Begriff von Allgemeiner Pädagogik – kann es nicht geben. Was es gibt, ist ein allgemeines Bild von der pädagogischen Situation. Nämlich: Einer, der in der Welt schon zuhause ist, begegnet einem, der dort neu ist, und ist er ein anständiger Kerl, dann zeigt er sie ihm. Darin liegt keinerlei Notwendigkeit, die in Begriffen, Gesetzen oder Formeln darstellbar wäre. Es ist nur eben tatsächlich so. Die Menschen neigen dazu – weil der Neue in diesem Bild typischerweise ein Kind ist.



Wer mehr von der Welt kennt, kann wohl auch mehr zeigen.** Wie gut er sich aber aufs Zeigen versteht, ist eine andre Sache. Es gelingt immer dann am besten, wenn dabei der Eine versuchsweise durch die Augen des Andern schaut. Denn dann erscheinen die Dinge beiden immer wieder ein bißchen neu und zeigen ‚Seiten’, die in den Selbstverständlichkeiten des Alltags verborgen blieben: weil dann nämlich ‚unsere’ Welt immer in den Farben ‚meiner’ Welt scheint. Das hat einen eigenen Reiz und punktiert den Alltag mit kleinen sonntäglichen Momenten. Es ist die ästhetische Seite der Sache, es lockt und verführt und ist das, was das Wesen der Kunst ausmacht. Für beide ein erhebendes Erlebnis, das mit dem vagen Wort vom pädagogischem Eros umschrieben wurde.47



Im Alltag gelingt es umso eher, je näher Menschen einander stehen. Darum sind Eltern in der Regel die besseren Pädagogen. Normalisieren können sie nicht so gut, aber was ihrer Welt an schulischer Breite fehlt, überbieten sie an anschaulicher Tiefe. Sie sind Alltagskünstler (wenn auch vielleicht nicht alle.)



Man kann immer noch einen Beruf daraus machen. Aber weil Normalität kein berechtigter Erziehungszweck mehr ist, ist das Labor nicht mehr der bevorzugte Ort. „Erziehung findet in Situationen statt, und die sind immer konkret. Erziehen ist eine Sache des Alltags. Pädagogik ist, wo sie theoretisch ist, Kunstlehre. Und der – gute – Erzieher ist ein Künstler. Aber ein Aktionskünstler: er schafft keine ‚Werke’, sondern eben nur – Situationen.“48 Seine Sache ist es, die Situationen so zu arrangieren, daß sie den andern verlocken, (sich) heraus zu finden; nie vergessend, daß er selber mitspielt und daß vieles auch auf seinen Auftritt ankommt. Was es ist und wieviel es ist, wird er wissen, wenn er es probiert. Er ist kein Ingenieur,    sondern ein Performer.

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*) [Nachtrag: Das ist eine saloppe Formulierung, die ich andernorts präzisiert habe.]



**) Zusatz. Je allgemeiner die ‚Welt’, von der die Rede ist, umso unspezifischer die Tätigkeit des Zeigens: Typischerweise bezeichnet dieses Bild in seiner Allgemeinheit das Verhältnis zwischen einem Erwachsenen und einem Kind.



Man kann ‚die Welt’ von einem partikularen Standpunkt aus ansehen. Je partikularer die ‚Welt’, von der die Rede ist, umso spezifischer der Akt des Zeigens. Die ‚Welt des Soldaten’ ist zwar eine besondere Welt, aber sie ist ‚allgemein’, weil ‚Soldatsein’ keine besondere Verrichtung, sondern eine besondere ‚Seinsweise’ ist; Soldat ist man auch nach Feierabend. Das ist nicht Einweisung in Strategie und Taktik, nicht Waffenkunde, nicht dies oder das, sondern ein ‚ganzes Universum’, wenn auch ein besonderes. „Pädagogik“ heißt hier ‚Menschenführung’, hat aber mit Kindern nichts mehr zu tun und sollte Andragogik heißen. Die ‚Welt der Physik’ ist dagegen kein Universum, sondern nur ein Ausschnitt: aus der ‚Welt der Wissenschaft’, gar nur der ‚Welt der (‚exakten’) Naturwissenschaften’. Diese hochspezialisierte Welt einem Neuling zeigen ist eine höchst spezifische Tätigkeit, die man von Rechts wegen Lehre nennt. Erst hier gilt: ‚Die Grenze meiner Sprache ist die Grenze meiner Welt’.



Je allgemeiner die Welt, um die es geht, umso eher ist von Bildung -, je spezifischer die Welt, umso richtiger ist von Lernen die Rede. Merke: Die allgemeinste Welt – die, die den Meisten zugänglich ist – ist die natürliche Welt der natürlichen Sprachen; die Welt, in denen nur Kinder ‚neu’ sind..,



Alle Kinder werden irgendwie heranwachsen; dazu brauchen sie keine Professionellen. Professionelle braucht es, um ihnen das „Symbolnetz“ zu überliefern, in dem unsere ganze Welt dargestellt ist: weil das Allgemeinwissen der Menschheit so umfangreich und dabei so komplex geworden ist, daß es nicht mehr einfach in jedenkinds Alltag „vorkommt“ und man einfach nur, jeder an seiner Statt, dort hineinwachsen müßte, learning by doing. Ihre Mitteilung bedarf einer reservierten Zeit außerhalb der Alltagsgeschäfte und einer speziellen Methode, denn natürlich kann nicht jedem alles und schon gar nicht alles zugleich überliefert werden. Aber die Schule privilegierte jene ‚Symbolnetze’, die sich zu diskursiver Verknüpfung eignen. Das war mit dem Schlagwort der ‚Verwissenschaftlichung’ gemeint, das den pädagogsichen Diskurs seit den sechziger Jahren prägte.



Verwissenschaftlichung bezieht sich per Definition auf den Bereich des sogenannten ‚Herrschaftswissens’. Anderes fällt nicht in ihren Bereich. Daß seither ‚Lernen’ zum Schlüsselbegriff  staatlicher Pädagogik wurde und ‚Bildung’ wie ein Zopf abgeschnitten wurde, ist nur folgerichtig. Quod erat demonstrandum: Das gegenwärtige Schulsystem ist entstanden und behauptet sich als ein Produkt und eine Bedindung der industriellen Arbeitsteilung. Aber die Arbeitsgesellschaft und ihre Industrie sind am Vergehen.
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1) J. G. Herder, Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, Darmstadt 1966, S. 227
2) „Fordert den Führerschein für Eltern: Prof. Klaus Hurrelmann“ in: Hör zu, Heft 25/2001 (15. 06. 01); siehe dazu: J. Ebmeier, Eltern und Erzieher, oder Die pädagogische Mystifikation in: PÄD Forum 5/2001, S. 322
3) Platon, Politeia, VII. Buch, Kap. 4-18
4) siehe hierzu Ivan D. Rozanskij, Geschichte der antiken Wissenschaft, Mchn. 1984; insbes. S. 7-20
5) Max Scheler, „Erkenntnis und Arbeit“ in: Die Wissensformen und die Gesellschaft, Bern 31980, S. 216
6) dt.: Die mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie, Hamburg 1988 (PhB) Siehe hierzu: Alexandre Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Ffm. 1980; ders., Du monde de l’à-peu-près à l’univers de la précision in: Études d’histoire de la pensée philosophique, Paris 1971, S. 341-362; auch: Wilhelm Dilthey, „Die Autonomie des Denkens, der konstruktive Rationalismus und der pantheistische Monismus nach ihrem Zusammenhang im 17. Jhdt.“ in: Philosophische Aufsätze, Bln. (O) 1986, S. 327-389
7) Zu diesem Zweck führt Galileo das Experiment in die Physik ein: nicht um Gesetze zu entdecken, sondern um eine erdachte Theorie den Widersachern zu beweisen.
8] „Das zunehmende Eingreifen gesatzter Ordnungen“ sei „ein besonders charakteristischer Bestandteil jenes Rationalisierungs- und Vergesellschaftungsprozesses“, der die „wesentliche Triebkraft“ der bürgerlichen Entwicklung ausmacht: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tbg. 51972, S. 196.
9) Es ist ein Wechselverhältnis. Dem einen ‚letzten’ Grund entspricht der allgemeinste Gegenstand, und umgekehrt: je enger der Gegenstand, umso breiter die Voraussetzungen.
10) René Descartes, Discours de la méthode (1637) Hbg. 1960 [frz./dt.], S. 66; ein weiterer Stichtag der abendl„ndischen Vernunft. – Die Begründung für die meta-physischen Stellung der Mathematik liefert D. 1642 in den Meditationes de prima philosophia nach: [lat./dt.] Hamburg 1959 (PhB)
11) Der Begriff stammt – als Gegensatz zu den „okularen“ Griechen und Indern – von Paul Gf. Yorck v. Wartenberg in: ders., Bewußtseinsstellung und Geschichte, Tbgn. 1956, S. 177
12) In Descartes’ Raum-Welt kommt keine andere Kraft als ‚Druck und Stoß’ vor. Als Newton die Gravitation einführte, mußte daher der mysteriöse Stoff ‚Äther’ erdacht werden, durch den diese neue Kraft ‚übertragen’ werden konnte.
13) In der Industrie wird die verräumlichte Zeit selber zur ersten Realität: Zeit ist Geld.
14) Am Anfang der bürgerlichen Gesellschaft stand die Erste mediale Revolution; siehe Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, Ffm. 1991, sowie Elisabeth Eisenstein, Die Druckerpresse. Kulturrevolution im frühen modernen Europa; Wien-New York 1997.
15) Um die Beweiskraft der Argumente ging es schon bei Plato/Sokrates (Theaitetos pass.) Aber ihre Erkenntnis steht in Dienst des ‚Eros’: der Suche nach der guten und schönen Lebensführung; und die ist privat, nicht öffentlich.
16) z. B. Plato, Timaios 55e-56c
17) Das Modewort ‚Konstruktivismus’ entstammt der Einsicht moderner Mathematiker, daß die Wahrheit der Mathematik in der anschaulichen Konstruierbarkeit ihrer Figuren besteht; klassisch formuliert von der sog. Erlanger Schule um Paul Lorenzen (seit den 1950er Jahren).
18] Isaac Newton, Mathematische Grundlagen…, S. 9. – Newton knüpft an Descartes an.
19) Isaac Newton in Optik, Buch 3, Teil 1, Frage 31; hier zit. nach: J. Robert Oppenheimer, Wissenschaft und allgemeines Denken, Hbg. 1955 (rde), S. 95f.
20) Thomas Hobbes zog diese Konsequenz, verzichtete in seinem philosophischen System auf eine Metaphysik i. e. S., und gilt daher zu recht als Begründer des modernen metaphysischen Materialismus; und der modernen Wissenschaftsgläubigkeit.
21) 1755 erschien im 5. Band der Encyclopédie der Artikel „Politische Ökonomie“, verfaßt von J. J. Rousseau. Er stellt den Wirtschaftsprozeß in Analogie zum menschlichen Stoffwechsel dar.
22) Quesnays’ Tableau économique erschien ab 1758 in mehreren Bearbeitungen; dt. in: ders., Ökonomische Schriften, Bln. (O) 1971
23) Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen (1776), Mchn. 1978 (dtv); David Ricardo, Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung (1817), Bln. (O) 1959
24) gr. oíkos: der Haushalt; pólis: das Gemeinwesen. Der Ausdruck Politische Ökonomie bedeutet ursprünglich: Lehre vom Staatshaushalt. Die Schrift, in deren Titel er erstmals auftaucht, enthält daher nur Ratschläge an Ludwig XIII., wie er seine Staatskasse füllen kann: Antoine de Montchrétien, Traité d’économie politique (Rouen 1615)
25) Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. I; in: MEW Bd. 23, S. 741
26) Da findet ein ungleicher Tausch statt. Der Käufer bezahlt die Arbeit, wie jede andere Ware, nach ihren (Re-)Produktionskosten: d. h. das, was der Arbeiter zum Leben braucht. Was die Arbeit darüber hinaus produziert, gehört dem Käufer auch. Er bezahlt den Tauschwert der Arbeit und erhält ihren Gebrauchswert, der darin besteht, daß sie mehr produzieren kann, als sie selber gekostet hat.
27) ebd, S. 744
28] Wilhelm Dilthey und die ‚hermeneutische Schule’
29) von gr. nómos, Gesetz, und thésis, Setzung; und ídios, einzeln, und graphé Zeichnung; so Wilhelm Windelband in „Geschichte und Naturwissenschaft“, in: Präludien, Tbg. 1907, S. 355-379, und in seinem Gefolge die Südwestdeutsche Schule der Neukantianer
30) Max Scheler, „Erkenntnis und Arbeit“, in: Die Wissensformen und die Gesellschaft, Bern 31980, S. 210
31) ebd, S. 205. (Rudi Dutschke hat ‚Herrschaftswissen’ im verballhornten Sinn von Geheimwissen der Herrschenden in die studentische Umgangssprache eingeführt.)
32) Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 800. In: ders., Werke (Hg. Weischedel) Bd. IV, Ffm. 1974, S. 673 – `Praktische Philosophie’ bedeutet soviel wie Ethik.
33) siehe Anm. 26. Sie ‚funktioniert’ freilich nur, wenn die Wirtschaft ohnehin floriert. In der Krise, wenn man sie wirklich braucht, versagt sie regelm„áig.
34) Die seit PISA so beliebten „Standards“ sind ein verschämter Ersatz.
35) Im napoleonischen Frankreich wie im romantischen Deutschland: Unser humanistisches Bildungsideal verdanken wir in erster Linie dem bürokratischen preußischen Militärstaat. Der hatte kein Bildungsbürgertum und keinen kultivierten Adel. Seine Intelligentsia war seine Beamtenschaft.
36) siehe hierzu J. Ebmeier, Homo ludens victor in: PÄD Forum 2/2003, [S. 114]
37) Das Wort kommt im 17. Jhdt. auf, ‚Pädagogik’ hundert Jahre später. Der griechische paidagogós war eine verächtliche Figur, ein alter Sklave, der zu sonst nichts mehr taugte und die Knaben als Sittenwächter in der Öffentlichkeit zu begleiten hatte. Bevor er namens der Pädagogik zu späten Ehren kam, war er im 16. Jhdt. in der Korruptionsform il pedante landläufig geworden.
38] Adolf Portmann, Zoologie und das neue Bild des Menschen, Hamburg (rde) 21958, S. 65
39) Ernst Cassirer, „Ein Schlüssel zum Wesen des Menschen: das Symbol“ in: Versuch über den Menschen, Hbg. 1990 (PhB), S. 47ff
40) Arnold Gehlen, Anthropologische Forschung, Reinbek 1961 (rde), S. 57
41) vgl. Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt 1928, S. 63ff.
42) Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe Bd. 1, Ffm. 1984, S. 67 [5.6]
43) „Was ich nur meine, ist mein, gehört mir als diesem besonderen Individuum an; wenn aber die Sprache nur Allgemeines ausdrückt, so kann ich nicht sagen, was ich nur meine. Und das Unsagbare, Gefühl, Empfindung, ist nicht das Vortrefflichste, Wahrste, sondern das Unbedeutendste, Unwahrste.“ G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: ders., Werke, Bd. 8, Ffm. 1970, S. 74
44) …die darin ihre Berechtigung findet.
45) Wittgenstein wußte das: „Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.“ aaO, S. 83 [6.43] (Es ist sicher nicht die Sprache, nach der sich beide von einander unterscheiden.)
46) Hermann Giesecke, Pädagogik als Beruf, Weinheim 1987, S. 23
47) Plato bezeichnet im Symposion als Eros das gemeinsame Streben des Knaben und des Mannes nach der Anschauung des Wahren und Schönen.
48) J. Ebmeier, Kleine Erziehlehre, in: Unsere Jugend 6/1990, S. 229f.

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