Montag, 2. September 2013

Zweck-Mäßigkeit und eine Bildung fürs 21. Jahrhundert.

aus NZZ, 2. 9. 2013

Nicht auf das 21. Jahrhundert ausgerichtet
 
Von Hermann J. Forneck

Es sind zwei kleine Meldungen und Meldungen der letzten Wochen, die untrüglich eine neue Zeit ankündigen. Ein Autohersteller bietet erstmals einen Personenwagen an, der sich bis 60 km/h selbst steuert, und in einem Krankenhaus werden Roboter eingesetzt, die die Krankenbetten frisch beziehen. Durch eine Grossmacht werden alle elektronisch vermittelten Kommunikationen ganzer Kontinente gespeichert, analysiert und bewertet.

Wir stehen am Beginn einer Entwicklung, in der menschliche Arbeit und mit ihr die gesamte industrielle Produktion und der Dienstleistungssektor, unsere Ökonomie und unser alltägliches Leben grundlegend verändert werden. Die bisherigen «Anwendungen» der Informations- und Kommunikationstechnologien sind nur ein kleines Vorkonzert für das, was noch kommen wird. Eine solche Entwicklung wird uns vor intellektuelle und soziale Herausforderungen stellen, die denen der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts in nichts nachstehen werden. Im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien, in denen die Informatik seit nun gut zwei Jahrzehnten ihre erste echte Anwendungsphase durchläuft, werden die uns herausfordernden Folgen gegenwärtig sichtbar: Die staatliche industrielle Erfassung und Speicherung von Daten führt uns die Folgen einer neuen Dimension der Gefährdung von bürgerlichen Grundrechten und eine neue Dimension der Austragung wirtschaftlicher Interessen zwischen staatlich protegierten Nationalökonomien vor.

Wie in der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts wird sich der produktive Sektor mit seinen Berufen grundlegend und rasch verändern. Es wird zu einer neuen Relation anderer Schlüsseltechnologien mit Dienstleistungen und mit dem Qualifikationssystem kommen müssen - weshalb die Schweiz eine nationale Bildungsstrategie benötigt, um in der postindustriellen, informationstechnologisch vermittelten Wertschöpfung ihre bisherige Produktivität zu erhalten und sich wirtschaftlich-technologisch und kulturell neu zu positionieren. Bereitet der Lehrplan 21 darauf vor?

Diese Frage ist nicht unbegründet, denn es werden in erster Linie unsere Kinder sein, die die Verwerfungen, die solche Entwicklungen notwendigerweise nach sich ziehen, werden bewältigen müssen. Sie ist auch deshalb legitim, weil der «Lehrplan 21» mit dem Titel nicht nur den Anspruch erhebt, das Funktionssystem «Bildung» für 21 Kantone zu gestalten, sondern es auch strategisch auf das 21. Jahrhundert auszurichten.

Seit nun gut zwei Jahren haben in Gruppen organisierte Experten den Lehrplan entworfen. Das Resultat kann sich sehen lassen. Die gegenwärtige Vernehmlassung wird nochmals, so ist anzunehmen, zu einer weiteren Verbesserung der Vorlage beitragen. Gerade damit folgt sie aber der normativen Kraft des Faktischen. In ihr wird nicht mehr thematisiert, ob das, was der Arbeit der Lehrplanentwickler vorausgesetzt war, sinnvoll und zukunftsweisend ist. Denn der Lehrplanentwurf folgt notwendigerweise den politischen Vorgaben des Vorprojekts, und diese folgen dem vorhandenen Fächerkanon des Bildungssystems. Aber genau dadurch wird der neue Lehrplan nicht auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ausgerichtet, sondern er tradiert die Grundstruktur des vergangenen Jahrhunderts und verfehlt so die Erfordernisse des 21.

Es ist ein Versäumnis, nicht geprüft zu haben, ob ein Fächer- und Fachbereichskonzept überhaupt noch eine adäquate Antwort auf die gegenwärtigen Herausforderungen geben kann. Was wir benötigen, lässt sich in fünf Domänen umschreiben.

Erstens: Die absehbare Entwicklung erfordert eine Qualifikation, die die Ökonomie umfasst. Die grundlegenden wirtschaftlichen Funktionsweisen und Prozesse, die wirtschaftlichen Denkweisen und Erfolgsfaktoren und -kriterien müssen unsere Kinder verstehen und beherrschen. Die nächste Generation muss zweitens die Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts, das Programmieren und seine Folgen, verstehen und im Basalen beherrschen. Aufgrund ihres konstruktiven Charakters macht die Informatik eine zukunftsweisende Verbindung von mathematischem, naturwissenschaftlichem und technischem Wissen und damit Bildungsinnovation möglich. Wir benötigen drittens eine Qualifikation des «Sozialen». Hier ist auch das Zusammenspiel von Ökonomie/Politik und Ökologie einzubetten und die Umwelterziehung aus ihrer Isolierung herauszuführen. Mehr noch als heute benötigt die nächste Generation viertens einen ganzen Bereich der mutter- und fremdsprachlichen Repräsentation ihrer Welt, in der sie innerhalb und ausserhalb ihrer Muttersprache sich verständigen, sich durchsetzen, verhandeln können muss. Ohne ein hohes sprachliches Niveau gibt es keine individuelle und kulturelle (Selbst-)Verständigung, keine in Sprachspielen entstehenden neuen Ideen, kein volles soziales Mit- und Füreinander. Und dann muss fünftens die Bildung des 21. Jahrhunderts einen Bereich des Nicht-Funktionalen, des Ästhetischen, des Künstlerischen, des Spirituellen umfassen, in denen der Mensch sich jenseits der Erfordernisse des existenzsichernden Lebens betätigen kann. Ohne ein Reich der Zweckfreiheit gerät unser Leben in eine tiefgreifende Sinnkrise.

Der Lehrplan 21 folgt der angedeuteten Logik funktionaler Domänen nicht. Er orientiert sich an tradierten Fächern und ihrem Kanon, die innerhalb der Lehrplanarbeit - und dies sei ausdrücklich anerkannt - durchaus modernisiert wurden. Aber ein Lehrplan, dessen Name für ein Jahrhundert steht, kann nur zum Jahrhundertlehrplan werden, wenn man die Strukturen und Entscheidungen des vorausgegangenen Jahrhunderts nochmals infrage stellt, statt diese einfach fortzuschreiben. So wird dem Lehrplan 21 eine geringe Modernisierungswirkung für das Bildungssystem beschieden sein.

Hermann J. Forneck war bis 2006 Professor für Erziehungswissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Giessen. Seit 2006 ist er Direktor der Pädagogischen Hochschule an der Fachhochschule Nordwestschweiz.

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