Von Hermann J. Forneck
Es sind zwei kleine Meldungen und
Meldungen der letzten Wochen, die untrüglich eine neue Zeit ankündigen.
Ein Autohersteller bietet erstmals einen Personenwagen an, der sich bis
60 km/h selbst steuert, und in einem Krankenhaus werden Roboter
eingesetzt, die die Krankenbetten frisch beziehen. Durch eine Grossmacht
werden alle elektronisch vermittelten Kommunikationen ganzer Kontinente
gespeichert, analysiert und bewertet.
Wir stehen am Beginn einer
Entwicklung, in der menschliche Arbeit und mit ihr die gesamte
industrielle Produktion und der Dienstleistungssektor, unsere Ökonomie
und unser alltägliches Leben grundlegend verändert werden. Die
bisherigen «Anwendungen» der Informations- und
Kommunikationstechnologien sind nur ein kleines Vorkonzert für das, was
noch kommen wird. Eine solche Entwicklung wird uns vor intellektuelle
und soziale Herausforderungen stellen, die denen der industriellen
Revolution des 19. Jahrhunderts in nichts nachstehen werden. Im Bereich
der Informations- und Kommunikationstechnologien, in denen die
Informatik seit nun gut zwei Jahrzehnten ihre erste echte
Anwendungsphase durchläuft, werden die uns herausfordernden Folgen
gegenwärtig sichtbar: Die staatliche industrielle Erfassung und
Speicherung von Daten führt uns die Folgen einer neuen Dimension der
Gefährdung von bürgerlichen Grundrechten und eine neue Dimension der
Austragung wirtschaftlicher Interessen zwischen staatlich protegierten
Nationalökonomien vor.
Wie in der industriellen
Revolution des 19. Jahrhunderts wird sich der produktive Sektor mit
seinen Berufen grundlegend und rasch verändern. Es wird zu einer neuen
Relation anderer Schlüsseltechnologien mit Dienstleistungen und mit dem
Qualifikationssystem kommen müssen - weshalb die Schweiz eine nationale
Bildungsstrategie benötigt, um in der postindustriellen,
informationstechnologisch vermittelten Wertschöpfung ihre bisherige
Produktivität zu erhalten und sich wirtschaftlich-technologisch und
kulturell neu zu positionieren. Bereitet der Lehrplan 21 darauf vor?
Diese Frage ist nicht unbegründet,
denn es werden in erster Linie unsere Kinder sein, die die
Verwerfungen, die solche Entwicklungen notwendigerweise nach sich
ziehen, werden bewältigen müssen. Sie ist auch deshalb legitim, weil der
«Lehrplan 21» mit dem Titel nicht nur den Anspruch erhebt, das
Funktionssystem «Bildung» für 21 Kantone zu gestalten, sondern es auch
strategisch auf das 21. Jahrhundert auszurichten.
Seit nun gut zwei Jahren haben in
Gruppen organisierte Experten den Lehrplan entworfen. Das Resultat kann
sich sehen lassen. Die gegenwärtige Vernehmlassung wird nochmals, so ist
anzunehmen, zu einer weiteren Verbesserung der Vorlage beitragen.
Gerade damit folgt sie aber der normativen Kraft des Faktischen. In ihr
wird nicht mehr thematisiert, ob das, was der Arbeit der
Lehrplanentwickler vorausgesetzt war, sinnvoll und zukunftsweisend ist.
Denn der Lehrplanentwurf folgt notwendigerweise den politischen Vorgaben
des Vorprojekts, und diese folgen dem vorhandenen Fächerkanon des
Bildungssystems. Aber genau dadurch wird der neue Lehrplan nicht auf die
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ausgerichtet, sondern er
tradiert die Grundstruktur des vergangenen Jahrhunderts und verfehlt so
die Erfordernisse des 21.
Es ist ein Versäumnis, nicht
geprüft zu haben, ob ein Fächer- und Fachbereichskonzept überhaupt noch
eine adäquate Antwort auf die gegenwärtigen Herausforderungen geben
kann. Was wir benötigen, lässt sich in fünf Domänen umschreiben.
Erstens: Die absehbare Entwicklung
erfordert eine Qualifikation, die die Ökonomie umfasst. Die
grundlegenden wirtschaftlichen Funktionsweisen und Prozesse, die
wirtschaftlichen Denkweisen und Erfolgsfaktoren und -kriterien müssen
unsere Kinder verstehen und beherrschen. Die nächste Generation muss
zweitens die Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts, das
Programmieren und seine Folgen, verstehen und im Basalen beherrschen.
Aufgrund ihres konstruktiven Charakters macht die Informatik eine
zukunftsweisende Verbindung von mathematischem, naturwissenschaftlichem
und technischem Wissen und damit Bildungsinnovation möglich. Wir
benötigen drittens eine Qualifikation des «Sozialen». Hier ist auch das
Zusammenspiel von Ökonomie/Politik und Ökologie einzubetten und die
Umwelterziehung aus ihrer Isolierung herauszuführen. Mehr noch als heute
benötigt die nächste Generation viertens einen ganzen Bereich der
mutter- und fremdsprachlichen Repräsentation ihrer Welt, in der sie
innerhalb und ausserhalb ihrer Muttersprache sich verständigen, sich
durchsetzen, verhandeln können muss. Ohne ein hohes sprachliches Niveau
gibt es keine individuelle und kulturelle (Selbst-)Verständigung, keine
in Sprachspielen entstehenden neuen Ideen, kein volles soziales Mit- und
Füreinander. Und dann muss fünftens die Bildung des 21. Jahrhunderts
einen Bereich des Nicht-Funktionalen, des Ästhetischen, des
Künstlerischen, des Spirituellen umfassen, in denen der Mensch sich
jenseits der Erfordernisse des existenzsichernden Lebens betätigen kann.
Ohne ein Reich der Zweckfreiheit gerät unser Leben in eine
tiefgreifende Sinnkrise.
Der Lehrplan 21 folgt der
angedeuteten Logik funktionaler Domänen nicht. Er orientiert sich an
tradierten Fächern und ihrem Kanon, die innerhalb der Lehrplanarbeit -
und dies sei ausdrücklich anerkannt - durchaus modernisiert wurden. Aber
ein Lehrplan, dessen Name für ein Jahrhundert steht, kann nur zum
Jahrhundertlehrplan werden, wenn man die Strukturen und Entscheidungen
des vorausgegangenen Jahrhunderts nochmals infrage stellt, statt diese
einfach fortzuschreiben. So wird dem Lehrplan 21 eine geringe
Modernisierungswirkung für das Bildungssystem beschieden sein.
Hermann J. Forneck war bis 2006 Professor für Erziehungswissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Giessen. Seit 2006 ist er Direktor der Pädagogischen Hochschule an der Fachhochschule Nordwestschweiz.
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