aus Badische Zeitung, 20. 9. 2013 Runge, Die Huelsenbeckschen Kinder
Ausstellung erklärt die Kindheit als eine „Erfindung“ des 19. Jahrhunderts
Kann eine Entdeckung eine Erfindung sein? Ausstellungen zur
"Entdeckung" der Kindheit hat es schon gegeben. Diese, die jetzt in
Baden-Baden beginnt, nennt Museumschef Matthias Winzen im Untertitel:
"Eine Erfindung des 19. Jahrhunderts". Kindheit eine "Erfindung"?
von Volker Bauermeister
Kinder wurden lange kaum als Kinder gesehen. Wenn man sich ein Bild von
ihnen machte, dann als Erwachsene en miniature. Oder gern auch im
Kindchenklischee. Christkind oder Engelein. Durchgesetzt hat sich der
Blick auf die Natur des Kindes erst in der Epoche um 1800. Man schaut
auf das kindliche Werden und macht sich Gedanken, wie es pädagogisch zu
steuern sei. Man entdeckt die Kindheit – und verändert sie im selben
Zug. Man lässt sie allererst zu. Da ist es durchaus treffend, von
Erfindung zu sprechen.
Lenbach, Bauernbub
Im neuen Bild der bürgerlichen Familie nehmen Kinder einen zentrumsnahen
Platz ein. Die Erziehung fragt nach dem Kindgerechten. Das Recht auf
Bildung, die allgemeine Schulpflicht wird eingeführt. Der Schüler des
vom "Zurück zur Natur"-Philosophen Jean-Jacques Rousseau inspirierten
Johann Heinrich Pestalozzi, Friedrich Fröbel, erfindet den Kindergarten.
Schon das Wort ist ein Bild! Spielen bedeutete für den Spieltheoretiker
Fröbel "die höchste Stufe der Kindesentwicklung": Spielen nichts
anderes als Üben – mit Zukunftsbezug. In Baden-Baden im Museum für Kunst
und Technik des 19. Jahrhunderts (Museum LA 8) ist nun auch viel
Spielzeug. Fröbel’sche Bauklötzchen und die prächtigen Baukästen aus
späterer Zeit. Stabilbaukästen im Lochbandsystem, das die Brüder
Lilienthal erdachten. Dampfmaschinen, Eisenbahnen. Puppenbühnen,
Ausschneide- und Bilderbögen. Im 19. Jahrhundert wurden Spielzeug wie
Kinderbücher überhaupt erst erfunden, jedenfalls als kulturelle
Produktionszweige etabliert.
Und in der idealtypisch eingerichteten Kinderstube mit Wiege und
Kinderstühlchen mutet eine Schülerhausbank perfekt wie eine Maschine an.
Angepasst an Körper und Lernzweck – und Anpassung fordernd. Ja, das
Kind darf Kind sein. Es wird geliebt und gehätschelt. Aber auch
eingespannt. Die Schule will aus dem Kind das künftige Glied der
Gesellschaft formen. Die Romantik aber entwickelt das Gegenprogramm. Sie
entdeckt die Welt der Kinder als anziehende Gegenwelt.
Die Utopie des
kindlichen Menschen
Philipp Otto Runges "Hülsenbeck’sche Kinder" sind das Kinderbild der
Zeit. Ein tiefes Verständnis für die Entwicklungsphasen der
Porträtierten verrät es. Kleine Rollenspieler sind die auch schon. Doch
kraftvolle Charaktere vor allem. Die Plastik ihrer Körper bringt ihr
ungebrochenes, kindlich freies Wesen zum Ausdruck. Das größte Lob
spricht Runge der Kindheit aus. Aus der Hamburger Kunsthalle, die das
kostbare Bild zu seinem Bestand zählt, kommt nun immerhin Henriette
Brownes "Kinderstube", die in der Beschreibung der Altersstufen auch
schön differenziert. Man sieht jetzt Kinder wirklich an und lässt sie
immer öfter zum Gegenstand von Bildern werden.
Honoré Daumier La Sortie de l'école,
Viel ist in der Ausstellung von Daumier, dem großen Zeichner, der das
quengelnde und herausfordernde, alles andere als liebliche Kinderwesen
satirisch pointiert. Was die Ausstellung aber an Bildnissen zeigt, das
kommt vor allem aus dem benachbarten Stadtmuseum in Baden-Baden. Keine
ganz große Malkunst, thematisch aufschlussreich allemal.
Alex Seeles "Lesendes Mädchen" sitzt vor einem Fenster mit Blick ins
Freie und hält ein Bilderbuch in der Hand. Ein Kind, das mit den Augen
die ersten Schritte in die weite Welt tut. Gedankenverloren auf einer
Wiese steht dementgegen Vitus Staudachers "Mädchen mit Pusteblume". Als
blumenhaft sieht der Romantiker die Kinder an. Als von der Natur durch
kein Bewusstsein getrennte – ideal naturverbundene Wesen. Runge malte
den Hülsenbeck’schen Kindern bedeutsame Sonnenblumen. Staudacher spricht
dann mit seinen Pusteblumen allerdings weniger vom kindlichen
Blumenwesen als von der Vergänglichkeit der Kindheit. Ganz anders wieder
Franz von Lenbach. Sein "Hirtenknabe" steht auf einem hohen Felsblock
und spielt da mal von oben aus den Herrn. In seiner Gewalt stehn zwei
Schafe und ein Ziegenbock. Auffallend ist das helle natürliche Licht
hier in dem Frühwerk. Als Freilichtmaler ziehen Lenbach solch kindliche
Hirten an. Lebendiger ist er nie als in dieser Naturburschenpoesie. Doch
der vitale, spielerisch virile Knabe ist ja in Wahrheit ein zur Arbeit
verdammtes Kind. Kinderarbeit ist der dunkle Schatten im Bild der
Kindheit in dem Jahrhundert.
Carl Blechen, Hirtenknabe, 1832
Und Carl Blechens Hirte (wie der Lenbachs aus dem Museum in Oldenburg)
schaut mit großen traurigen Augen. Dies Kind spielt keine Rolle und wird
keine spielen. Dass es an einem Brunnen sitzt, verbindet es andern,
symbolisch aufgeladenen Kinderbildern. Das Wasser: der Lebensquell! Doch
dieser junge italienische Hirte kehrt dem sprudelnden "Born" den Rücken
zu. Und ob der Landschaftshorizont, der sich hinter ihm auftut, einen
Lichtstreif in seine Gedanken zeichnet?
Unwahrscheinlich.
Das Kind sieht nicht so aus, als ob sein Leben einen
Horizont hätte. Als ob es etwas zu tun hätte mit dem, worauf diese
Ausstellung zur Historie der Kindheit am Ende abhebt. Die "Entdeckung"
der Kindheit als "einer mächtigen Ressource", aus der heraus die moderne
Gesellschaft ihre "dauernde Erneuerung" betreibt. Das ist die These.
Doch eine solche Mechanik des Fortschritts will in Blechens Bild nicht
greifen. Das "als Zukunft" betrachtete Kind, von dem Winzen spricht,
dies ist es nicht. Nicht diese "Ressource". Eine solche Quelle zu
zeigen, lag Blechen beim Jungen am Brunnen fern. Ein Realist, und gar
ein kritischer, der einen Missstand aufdeckt, ist er andererseits auch
nicht. Vielmehr Skeptizist. Die Idee der im Sinn gesellschaftlicher
Entwicklung funktionalisierten Kindheit liegt ihm so fern wie ihm das
Ideal fern liegt, das Runge zeichnet: "Kinder müssen wir werden . . ."
Und das der Dichter Novalis so erklärt: "Wo Kinder sind, da ist das
goldene Zeitalter . . ."
Henriette Browne , Kinderstube, 1867.
Geld zählt am Ende in der Realität immer noch mehr als dichterischer
Goldglanz, und die "wölfische Praxis" (Ingeborg Bachmann) bricht den
romantischen Blumenfrieden gnadenlos. Doch die Utopie des nicht
domestizierten kindlichen Menschen, die die Romantik kreiert, und das
Konzept der prospektiv nutzbar gemachten Kindheit – es sind
Entwicklungen ein und desselben gespaltenen Jahrhunderts. Vereinbar sind
sie nicht. Und in einem vom Zweifel gebrochenen Gemüt wie dem Carl
Blechens ist vom einen wie vom andern nichts.
Museum für Kunst und Technik des 19. Jh., LA 8, Lichtentaler Allee 8,
Baden-Baden. Vom 21. September bis zum 9. März, Dienstag bis Sonntag
11–18 Uhr.
Erklär's mir: Früher waren Kinder kleine Erwachsene
Stell dir vor, du würdest nicht heute in unserer Gegenwart
leben, sondern in einer Zeit vor sechs- oder siebenhundert Jahren. Dann
wärst du vielleicht das Kind einer Bauernfamilie, und du müsstest
nachher auf dem Feld arbeiten. Oder du wärst das Kind eines Schmieds und
würdest in seiner Werkstatt spielen. Kinder haben früher viel mehr als
heute mit in der Welt der Großen gelebt. Es gab keine eigenen
Kinderzimmer, keine Spielplätze, keine Kindergärten. Und es gab auch
keine Schule. So wie die Kinder damals wie kleine Erwachsene waren, so
waren auch die Erwachsenen wie große Kinder. Was du gerade tust, nämlich
lesen, konnten früher auch die meisten Großen nicht! Damals haben es
nur die wenigsten Menschen gelernt. Erst seit rund zweihundert Jahren
ist es so, dass in ganz Deutschland alle Kinder eine Schule besuchen.
Und erst seit dieser Zeit werden Kinder auch als Kinder angesehen, als
Menschen, die noch keine Erwachsenen sind.
Nota.
Doch doch - eine Erfindung eher als eine Entdeckung. Denn "früher" waren Kinder eben keine kleinen Erwachsenen, weil es 'Erwachsene' gar nicht gab: Man merkt es dem Wort selber an, aus dem Partizip erwachsen wurde, als ein passendes Wort nötig geworden war, verlegen der substantivierte Erwachsene gemacht. Denn auch das Wort Kind hatte es zuvor nicht gegeben; jedenfalls nicht in der heutigen Bedeutung! Noch im Mittelhochdeutschen bedeutet kintschaft - wie noch heute engl. kinship - ein Verwandtschafts- verhältnis und kein Lebensalter, und allenfalls ein Generationenverhältnis: Man war nicht 'ein' kint, sondern allenfalls 'sein' und 'ihr' kint, und gegenüber jedem ehrwürdigen Greis galt ein Mann besten Alters noch zu Wolfram von Eschenbachs Zeit als kint. Ja, Männer und Frauen gab es, und es gab Jungen und Mädchen (maiden). Aber Kinder und Erwachsene gab es nicht.
J.E.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen