Dienstag, 11. Dezember 2018

Heureka!

Heureka! Jean Tinguely
aus spektrum.de, 10.12.2018

Alpha-Wellen fördern kreatives Denken
Bestimmte Hirnwellen im rechten Schläfenlappen unterdrücken gewöhnliche Assoziationen.

von Christiane Gelitz 

Um auf kreative Ideen zu kommen, müssen wir unsere gewohnten Denkpfade verlassen. Wie genau das Gehirn den Weg zu neuen Ideen freimacht, schildern Wissenschaftler jetzt in den »Proceedings of the National Academy of Science«. Laut ihren vorab beim 18. World Congress of Psychophysiology ver- öffentlichten Befunden ließ das Team um Caroline di Bernardi Luft von der Queen Mary University of London 30 Versuchspersonen nach Verbindungen zwischen Wörtern suchen. Dabei stimulierten die Forscher bei den Probanden mittels Wechselstrom die Hirnaktivität in beiden Schläfenlappen, darunter Regionen, deren Beteiligung an kreativen Prozessen bereits bekannt war.
 

Die Tests an drei verschiedenen Tagen zeigten: Die Probanden lösten mehr kreative Aufgaben, wenn bei ihnen der rechte Schläfenlappen stimuliert wurde, verglichen mit dem linken oder mit einer Scheinstimu- lation. Offenbar halfen die elektrischen Schwankungen in einem bestimmten Frequenzband, so genannte Alpha-Wellen, entscheidend dabei, naheliegende Wortassoziationen zu unterdrücken. Hirnwellen dieser Frequenz (zwischen 8 und 13 Hertz) treten in der Regel bei geschlossenen Augen oder im entspannten Zustand auf. Die elektrische Hirnaktivität wird normalerweise nicht künstlich stimuliert, sondern per Elek- troenzephalogramm (EEG) gemessen, um daraus auf die Aktivität großer Zellverbände und die damit ver- bundene Informationsverarbeitung, auf Schlafstadien oder auf pathologische Veränderungen der Hirnakti- vität zurückzuschließen.

Dass die Alpha-Aktivität auf kreative Prozesse im Gehirn hindeutet, ist zwar nichts Neues. Doch die For- scher hoffen, mittels transkranieller Hirnstimulation im rechten Temporalkortex gezielt kreativen Ideen den Weg bahnen zu können. »Wenn wir nach einer alternativen Verwendung für ein Glas suchen, müssen wir zunächst unsere gewöhnliche Perspektive auf ein Glas als Behälter unterdrücken. Die Oszillationen im rechten Temporallappen sind ein Schlüsselmechanismus, um diese offensichtlichen Assoziationen zu über- schreiben.« Mit der verwendeten Methode, der transkraniellen Wechselstromstimulation, ist es anderen Teams ebenfalls gelungen, psychische Vorgänge anzustoßen, etwa luzide Träume. Auch Gleichstrom- oder Magnetstimulation haben sich dabei bewährt.


Nota. - Eigentlich trivial: Eine bestimmte Leistung ist in einer bestimmten Gehirnregion lokalisert und mit Hirnwellen einer bestimmten Frequent assoziiert. Trivial ist dagegen nicht, wie diese Leistung erbracht wird - nicht durch Steigerung und "mehr desselben", sondern durch Entspannung und Verlassen der ge- wohnten Pfade. So hat es die Gestaltpsychologie immer aufgefasst..

Das ist höchst bedenkenswert für ein Bildungssystem, das Hochleistungsroutine produzieren und Genie keine Chance lassen will.
JE


Mittwoch, 24. Oktober 2018

Right or wrong, die Losung heißt Ganztagsschule.

aus Süddeutsche.de, 23. Oktober 2018, 12:21 Uhr

Die Lösung heißt Ganztagsschule
Ob Kinder gute Noten bekommen, hängt massiv(st) von ihrer Herkunft ab. Um das zu ändern, müssen Schulen und Bildungspolitiker endlich reagieren. 

Kommentar von Matthias Kohlmaier 

Ein aktueller Bericht der OECD enthält für Deutschlands Schulen gute Nachrichten: Die Schere zwischen Kindern aus Akademiker- und Arbeiterfamilien hat sich in den vergangenen Jahren ein wenig geschlossen. Das ändert aber nichts daran, dass schulischer Erfolg noch immer stark von der sozialen Herkunft abhängt. Anders gesagt: Oft entscheidet nicht Begabung über Abitur oder Hauptschulabschluss, sondern die Postleit- zahl.

Reflexhaft rufen nun Lehrkräfte, Elternverbände und Bildungsexperten nach mehr Geld für die Schulen: für mehr Lehrkräfte, eine modernere digitale Ausstattung der Klassenzimmer, kleinere Klassen. Dieser Reflex ist richtig und falsch zugleich. Richtig, weil Investitionen besonders den bisherigen Bildungsverlierern zu- gutekämen und die Politik tatsächlich seit Jahren auf Kosten der Schüler gespart hat. Aber der Ruf nach mehr Geld ist auch falsch, weil er das zentrale Problem verkennt.

Es wird bei der Förderung sozial benachteiligter Schüler wenig helfen, 25 statt 30 Kinder in eine Klasse zu setzen und für ordentliches Wlan an Schulen zu sorgen. Damit jedes Kind den bestmöglichen Schulab- schluss erreichen kann, muss zuerst der Einfluss seines persönlichen Umfeldes auf den Lernerfolg verrin- gert werden. Woher ein Schüler kommt und welchen Job seine Eltern haben, darf nicht länger relevant sein.

Solange Schule aber in weiten Teilen Deutschlands eine Halbtagesveranstaltung bleibt, werden auch die Leistungsunterschiede zwischen Schülern aus unterschiedlichen sozialen Schichten kaum geringer werden. Denn während die einen bei den Hausaufgaben daheim Hilfe von den studierten Eltern bekommen oder von einem kundigen Nachhhilfelehrer, sind die anderen auf sich allein gestellt. Weil die Eltern nicht genug Geld, Wissen, Zeit, Interesse oder Sprachkenntnisse haben, um unterstützen zu können. 

Ein rascherer Ausbau der Plätze im für alle Schüler verpflichtenden Ganztagsschulbetrieb könnte für deut- lich mehr Bildungsgerechtigkeit sorgen. Und zwar dann, wenn man die Ganztagsschule endlich ernst nimmt. Wenn die Nachmittage nicht allein zur Verwahrung der Schüler unter Aufsicht dienen, sondern für individuelle Förderung genutzt werden. So würden alle Kinder gleichermaßen von ausgebildeten Pädago- gen beim Lernen unterstützt. Und die Postleitzahl spielte beim Schulabschluss irgendwann kaum noch eine Rolle.


Nota. - Noch wagt er es nicht auszusprechen, doch was er meint, ist offenbar. Das Problem ist, dass manche Kinder Eltern haben, die gebildet sind, und andere Kinder Eltern haben, die selber nicht viel wissen. Damit alle gleiche Chancen haben, wäre es nötig, Kinder aus ihrem bildungsfernen Milieu zu entfernen und in einer geeigneten Anstalt unterzubringen. Damit das nicht nach Diskriminierung der sozial Schwachen aus- sieht, täte man die Kinder der Gebildeten am besten gleich in dieselbe Anstalt.

Das ist über Nacht nicht durchzusetzen, also begnügen wir uns vorerst mit der Ganztagsschule; dass  Kin- der ihre Nächte in ihren bildungsfernen Familien verschlafen, wird so schlimm schon nicht sein. Hauptsa- che, sie sind ihrem verblödenden Einfluss entzogen.

*

Das war die seichte Spinnerei der domestizierten Post'68er: die Gesellschaft verbessern durch kompensa- torische Erziehung. Das sind inzwischen ganz alte Leute. Da kann einer, der sich mit Bildungsfragen noch nicht beschäftigt hat, heute ruhig seinem kleinen Vorstellungsvermögen freien Lauf lassen und auch noch hoffen, das ginge inzwischen wieder als ein guter Einfall durch. 

Die Schule als normierende Anstalt gesamtgesellschaftlicher Sozialpädagogik; von Bildung und Erziehung ist schon lange nicht mehr die Rede.
JE


Dienstag, 23. Oktober 2018

Durchschnittlich reden, durchschnittlich denken.

Schreiben und Sprechen wollen gelernt und geübt sein.
aus Tagesspiegel.de, 23. 10. 2018

Wie Schule die Sprache verarmt 
Schreiben wird schon in der Schule zu sehr verregelt, analysiert der Autor Markus Franz - zu Lasten von Verständlichkeit und Verständigung. Ein Lesetipp. 



Sprache ist familiäre Verständigung, politisches Kampfwerkzeug und ewige kulturelle Baustelle - nicht erst dieser Tage als verroht und simplifiziert gegeißelt, als Schlüssel für gesellschaftlichen Diskurs umschwärmt und als Unterrichtsinhalt hoch umstritten. Und nun auch das noch: Lehrer können nicht richtig schreiben? Oder gar nicht. Der Titel von Markus Franz' Buch ist gleich eine steile These, samt appellativem Ausrufezeichen: „Lehrer, Ihr müsst schreiben lernen!“ 

Seine Sprachfähigkeit erwirbt der Mensch zunächst zwischen Verwandten, Freunden und Nachbarn. Dann kommen Kita, Schule, Uni - und Vielfalt, Schönheit, Klarheit des Sprechens und Schreibens sind schon wieder futsch? Das ist einer der zentralen Vorwürfe, die Markus Franz dem Bildungssystem macht. Er hat auf einer Tour durch die deutsche Bildungslandschaft untersucht, wo unsere Sprache geprägt wird - und welche Folgen diese Prägung für die Entwicklung der deutschen Sprache in Politik und Gesellschaft hat.


In Gesprächen mit Lehrerinnen und deren Lehrern, mit Bildungswissenschaftlern, -politikern und -verwaltern, Autorinnen und Schülern wird deutlich, wie Sprache systematisiert wird. Sie soll ja schließlich mit den Nachbarskindern (und im Namen des Standorts und seiner Bildungsqualität möglichst auch weltweit) vergleichbar sein, institutionell geprüft und bewertet. Die Benotung von Fantasie, Vielfalt und Genauigkeit ist schwierig - sie gehen dabei leicht verloren. Rechtschreibung, Satzbau, Formen und Formeln, akademischer - oder so wirkender - Stil mit möglichst eindrucksvoller Fachsprache machen ein „richtig“ oder „falsch“ einfacher. So wird Sprache objektivierbar - verregelt und verriegelt, zulasten der Verständlichkeit und Verständigung.

Mit anderen Worten

Franz’ Mission wirkt in der Diagnose oft arg hoffnungslos, in ihrer Konsequenz provozierend. Doch gerade seine als Dialoge notierten Gespräche strotzen vor machbaren Verbesserungsvorschlägen - und Lust darauf: gegen die Macht der Hauptworte etwa, für kurze Sätze, für bildliche Sprache statt Fachchinesisch. Apropos: Franz erinnert nebenbei an die Macht der Schule, der Lehrer (ob sie wollen oder nicht), ihrer Analysten und Bewerter. Das geht nicht nur Lehrer an. Denn „Politik vollzieht sich in Sprache“, wie der SPD-Politiker Erhard Eppler einmal gesagt hat. Politiker rühmen sich auch heute gern der „klaren Kante“ ihrer Reden und Programme, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verlangt mahnend „eine gewisse Disziplin bei der Sprache“ und beklagt ihre „Verrohung“, Grünen-Chef Robert Habeck hat gerade ein ganzes Büchlein veröffentlicht, in dem er sich um politische Sprache und Kommunikation sorgt. 

Tatsächlich rutschen Fakes und Fakten mit Gemeintem durcheinander, Kürze ersetzt Klarheit: alles im Namen des freien Meinungskampfes. Doch das sprechende und schreibende, hörende und lesende Gegenüber im Alltag, auch im politischen Streit, als einmaliges Individuum zu erleben - das fängt bei der Sprache an. Anspruchsvoller zu schreiben, genauer zu lesen, mehr zu denken, Zwischentöne zu suchen und Vielfalt als Genauigkeit zu verstehen, das wäre auch auf Facebook und Twitter ein Gewinn. Worte, überzeugend formuliert und empathisch verstanden, sind Auswege aus Elfenbeintürmen und Meinungs-Blasen. Es müsste uns Dichtern und Denkern nur jemand beibringen. Die Lektüre dieses Buches könnte ein Anfang sein.

Markus Franz: Lehrer, ihr müsst Schreiben lernen!, Correct!v 2017, 252 Seiten, 20 Euro


Samstag, 20. Oktober 2018

Die Kollateralschäden des Durchschnitts.

aus derStandard.at, 19. Oktober 2018, 08:00

Zwischen Fehlverhalten und Langeweile
Das Problem schulischer Unterforderung Kinder haben unterschiedliche Fähigkeiten. Diese adäquat zu fördern ist in unserem Schulsystem schwierig. Wie man trotzdem darauf reagieren kann

von s  

Lilly ist elf und geht gern in die Schule. Sie tut sich leicht, ist an vielem interessiert und macht auch am Nachmittag ihre Aufgaben in Windeseile, damit sie dann ihren Freizeitaktivitäten – etwa Tanzen und Klavier spielen – nachgehen kann. Oft findet sie die Schule auch langweilig, aber eigentlich ist sie zufrieden, weil sie sich kaum anstrengen muss.

Der 13-jährige Valerian hat es zurzeit nicht gerade einfach. Die Schule findet er total langweilig, und mit seinen Mitschülern kann er recht wenig anfangen, die sind ihm alle viel zu dumm. Es ärgert ihn, dass er immer warten muss, bis die anderen verstanden haben, was gerade erklärt worden ist. Mit den Lehrerinnen und Lehrern in der Schule hat er viele Konflikte, und oftmals drohen sie ihm, dass er bald von der Schule fliegt, wenn er sich nicht zu benehmen weiß. Doch eigentlich findet er das alles ziemlich ungerecht und hat es satt, sich ständig anzupassen. ...

Hochbegabung – ein bekanntes Phänomen

Des Öfteren hört man von Kindern mit speziellem Talent oder einer Hochbegabung. Eltern und Bezugspersonen sowie Pädagoginnen und Pädagogen sind in den letzten Jahren viel hellhöriger geworden und besser informiert, woran man merken könnte, dass diese Kinder adäquat gefördert werden sollten oder eventuell ihren speziellen Talenten viel besser nachgehen könnten.


Kinder sind in der Schule unterfordert, weil die Gesellschaft versucht, alle Kinder über einen Kamm zu scheren, sodass alle Kinder im selben Alter die gleichen Aufgaben lösen können sollen.

Aber Kinder entwickeln sich unterschiedlich und können ganz verschiedene Fertigkeiten haben. Da kann ein Kind besser mit Zahlen jonglieren als die Klassenkollegen, während das nächste sich gerne mit anderen Kindern umgibt und spielt und ein weiteres gerne die Welt in ihren Zusammenhängen entdeckt.

Doch unterforderte Kinder sind nicht so leicht zu entdecken, denn die Abgrenzung zur generellen Hochbegabung ist nicht einfach und auch oft nicht leicht zu bemerken. Auch ist Vorsicht geboten, denn nicht jedes Kind, das sich in der Schule leichttut, ist grundsätzlich hochbegabt und unterfordert.
Unterforderung in der Schule kann sich vielfältig zeigen. 

Wenn Kinder ausgeglichen sind und ihren Wissensdurst auf die Freizeit verschieben können, dann ist hier seitens der Eltern und Bezugspersonen dahingehend Unterstützung gefragt. Das Ermöglichen von Aktivitäten sowie den persönlichen Interessen nachgehen zu können sollte einen Ausgleich für das Kind schaffen. Auch eine anregende und spannende Lernumgebung können Eltern und Bezugspersonen zu Hause ermöglichen, indem sie Kindern Bücher, Dokumentationen oder diverse Lernspiele zur Verfügung stellen. Da können zum Beispiel gemeinsam Knobel- und Denkspiele gelöst oder nach speziellen Angeboten gesucht werden.

Unzufriedenheit in der Schule

Sind Kinder mit der Schule unzufrieden und der Meinung, dass sie mal wieder nichts Neues gelernt haben und es dort außer langweilig nur langweilig ist, reicht ihnen oft nicht aus, nur am Nachmittag den Ausgleich zu finden. Kommen Kinder immer wieder frustriert nach Hause, wirkt sich das über kurz oder lang auf die Motivation der Kinder, ihre Freude an der Schule und am Lernen und das Familienklima aus. Dann kann es passieren, dass ein Kind sagt, dass es nicht mehr in die Schule gehen will.

Dann sind vermutlich auch andere anregende Aufgaben und Beispiele sowie mehr oder andere Herausforderungen als für die Mitschülerinnen und Mitschüler notwendig.

Beobachtet man dies an seinem Kind, ist es notwendig, ein oder mehrere Gespräche mit der Klassenlehrerin/dem Klassenlehrer zu führen und gemeinsam zu überlegen, wie man dem Kind helfen kann. Wahrscheinlich ist hier die Differenzierung in der Klasse eine Möglichkeit, das Kind auf seinem Lernweg besser begleiten zu können. Dabei sind die Haltung der Erwachsenen, das begleitende Gespräch und die Bereitschaft, gemeinsam an einem Strang zu ziehen, sehr wichtig. Auch die Eltern sind hier gefordert, ihrerseits die Förderung in der Schule zu unterstützen.

Welche Möglichkeiten zur Verfügung stehen, welche Ressourcen genutzt werden können und ob es überhaupt eine Differenzierungsmöglichkeit in Anbetracht der jeweiligen Schulsituation geben kann, wird in solchen Gesprächen auch klarer. Womöglich kann das Kind andere Lernmaterialien erhalten – oder aber es können einfache Aufgaben durch komplexere ersetzt werden. Es gibt viele unterschiedliche Wege, die oftmals nicht einfach zu finden sind, um Kindern in solchen Situationen zu helfen, mit Unterforderung besser zurechtzukommen.

Verweigerung als Anzeichen für Unterforderung

Manch ein Kind zeigt aufgrund von Langeweile und Frustration über zu wenig Gelerntes Verhaltensauffälligkeiten. Da kann es passieren, dass das Kind wenig Anschluss an die Klassenkollegen haben will oder sich als Klassenkasperl aufführt, sich über die dummen Mitschüler beschwert und keine Hausübungen macht, weil "Es eh alles nix Neues ist", "Das Babyaufgaben sind" und "Das was für die Dummies ist". Dann macht eventuell ein Wechsel der Schule oder ein Überspringen der Klasse Sinn.

Da dies aber einen gravierenden Einschnitt in den Alltag des Kindes, der Eltern und Bezugspersonen bedeutet, sollte dies zusammen mit den Lehrenden des Kindes und der Schulleitung genau geplant werden.

Hier ist es von extremer Wichtigkeit, das Kind, so gut es geht, in die Pläne miteinzubeziehen und ihm den Grund dafür zu erklären, denn es kann durchaus sein, dass das Kind in den geplanten Wechsel ganz etwas anderes hineininterpretiert.

Bevor das Kind wirklich in die andere Schule oder Klasse wechselt, sollte es die Möglichkeit für ein "Hineinschnuppern" haben, um ihr oder ihm die Sicherheit zu geben, dass dies erst einmal ausprobiert und auch noch rückgängig gemacht werden kann. Meist entspannen sich Kinder bei dem Gedanken daran, erstmals einen Versuch wagen zu können. Auch für Eltern und Bezugspersonen ist es eine Erleichterung, nicht gleich eine so folgenschwere Entscheidung treffen zu müssen, sondern mit Ruhe und Bedacht nach genauem Hinsehen zu einem Entschluss zu gelangen.

Bedeutsam für so einen Schritt ist es, dass den Eltern und Bezugspersonen und auch dem Kind klar sein sollte, dass es in der neuen Schule oder Klasse andere Leistungen bringen wird müssen und sich die Situation mit den guten Noten eventuell auch ganz schnell wenden kann. Möglicherweise fehlt ein Stoffgebiet, das erst neu gelernt werden muss. Dies kann dazu führen, dass erstmal die Leistungen etwas absinken und sich deshalb erneut Frustration einstellen kann. Es sollte allen Beteiligten klar sein, dass in der neuen Klasse die Anforderungen anders sind und das Kind sich erst einfinden muss.

Wenn aber klar ist, dass es nur eine vorübergehende Zeitspanne dauert, bis der Stoff aufgeholt ist, dann bedeutet dies durchaus, dass sich die Entscheidung für Kind, Eltern und Pädagoginnen und Pädagogen gelohnt hat. ...

Dienstag, 28. August 2018

Wie gehts den Schülern in der Schule?


Die Süddeutsche berichtet in ihrer heutigen Ausgabe über eine Untersuchung, die in herne ein Gesamtschullehrer gemeinsam mit seinen Schüler über das Wohlbefinden der Schüler in der Schule angestellt hat.

... Im Sommer 2015 musste die Schule eine Anordnung von oben umsetzen, die mehr Unterricht forderte und so den Stundenplan sprengte. Die Alternativen waren unschön. Die Schüler in der nullten Stunde an- tanzen lassen? Die Mittagspause streichen? Samstagsunterricht? Weichen musste am Ende die Mittagspau- se, dazu wurde die 10. und 11. Stunde eingeführt, die Schule also noch weiter in den Nachmittag ausgedehnt.

Und die Schüler? Begannen Fragen zu stellen. Warum es für sie eigentlich keine Arbeitszeitregelungen gebe. Wie es sein könne, dass ein Schüler vor zehn Jahren im Schnitt 25 Schulstunden pro Woche hatte und heute 34. Warum die Oberstufenschüler eigentlich keine Zeit mehr hätten, sich in der Schülervertretung zu engagieren. Warum in Tests wie Pisa und Co. ständig ihre Leistung erhoben werde, aber niemand frage, wie es ihnen geht, in der Schule, im Leben.

Also starteten Piechnik und seine Schüler selbst eine Umfrage. Sie richtete sich an Schüler in ganz NRW, mit 24 Fragen: Fühlt ihr euch von der Schule belastet? Was verbindet ihr mit Schule? Habt ihr Zeit für Hobbys? Seid ihr glücklich? Seit 2016 läuft die Umfrage, die jüngste Auswertung stammt aus dem Herbst 2017, sie basiert auf den Antworten von 1250 Schülern aus NRW - mehr also, sagt Piechnik, als bei Pisa. Die Ergebnisse hätten die schlimmsten Erwartungen übertroffen. 70 Prozent fühlen sich demnach belastet, 80 Prozent verbinden mit der Schule Stress, drei Viertel Druck, mehr als die Hälfte Überforderung. Freude, Glück, Ausgelassenheit? 20 Prozent, neun Prozent, vier Prozent.


Doch nicht nur Schüler wurden befragt. Piechnik und seine Schüler schickten Fragebögen auch an Vereine, die von einem Rückgang jugendlicher Mitglieder berichteten. Fast 90 Prozent beklagten einen Rückgang sozialer Kompetenzen bei den Jugendlichen. Alle meldeten, dass mehr Jugendliche über Angst und Druck in der Schule berichteten. Auch medizinische Beratungsstellen wurden angeschrieben. Die Ergebnisse: Schulisch bedingte Belastungssymptome hätten deutlich zugenommen: Erschöpfung, Depression, Schlaf- losigkeit. Acht von zehn Einrichtungen empfahlen, den schulischen Druck zu senken.

Piechnik weiß, dass die Umfrage Schwächen hat. Keiner kann sagen, ob nur Schüler abgestimmt haben; die Umfrage ist online, jeder kann teilnehmen. Und doch summieren sich die Antworten für ihn zu einem Gesamtbild, das zeige, wie weit die Schule sich von ihrem Auftrag entfernt habe. Alles sei auf Leistung zugeschnitten, nur sie werde mit großem Aufwand gemessen; eine Lernstandserhebung in Deutsch in der 8. Klasse etwa umfasse 150 Seiten. Den Tests aber gehe es nicht um ein ganzheitliches Bild. Pisa etwa interessiere sich nur für drei Bereiche: Deutsch, Mathe, Naturwissenschaften. "Sollte Bildung nicht viel breiter sein?", fragt Piechnik.

...Im November 2017 reichten sie beim Landtag in Düsseldorf eine Petition ein: "Schulpolitik auf dem falschen Weg". 

Anfang Juli lud der Petitionsausschuss zu einem Treffen ein. Gute Gespräche habe es gegeben, sagt Piechnik. Je mehr sie ihm zuhöre, habe ihm eine Frau gestanden, umso mehr schäme sie sich, Bildungs- politikerin zu sein. Doch ein "bisschen schiefgelaufen" sei auch dieser Termin. Weil die wichtigen Leute eben nicht da waren: die vom Schulministerium.

Dort heißt es, man sei nicht eingeladen worden. Gedanken zur Petition hat man sich aber gemacht, die Stellungnahme des Ministeriums liegt der SZ vor. Dass der Prüfungsstress zugenommen habe, sei falsch, ebenso der Vorwurf, dass nur die Leistung der Schüler gemessen werde. Zuletzt habe sich eine Pisa-Sonderauswertung mit der Frage befasst, wie es den Schülern gehe; 73 Prozent gaben an, zufrieden zu sein. 2017 wurden die Ergebnisse veröffentlicht. Das Ministerium verweist zudem auf die Jako-o-Bildungsstu- die, die 2016 ermittelte, dass 82 Prozent der Schüler gerne zur Schule gingen. Befragt wurden allerdings nicht die Schüler, sondern ihre Eltern. 

Peter Strohmeier überzeugt das nicht. Auch er sagt: "Über die Jugendlichen in der Schule wissen wir gar nichts." Der emeritierte Soziologieprofessor aus Bochum hat vor einigen Jahren selbst mit einer Studie begonnen, die das Umfeld der Schüler ausloten soll: Familie, Nachbarschaft, Schulklima. Inspiriert wurde Strohmeier von einer Reise nach Kanada, wo solche Tests selbstverständlich seien. Zufällig hat auch er Siebt- und Neuntklässler in Herne befragt - und dann festgestellt, dass es in der Stadt eine Schule gab, die bereits etwas Ähnliches machte: die von Carsten Piechnik.

Strohmeier ist überzeugt, dass die Bedingungen, unter denen die Schüler leben und lernen - ihr Wohlbe- finden -, ausschlaggebend für ihre Leistungen sind, angefangen damit, ob sie zu Hause ein Frühstück be- kommen oder nicht. Doch dafür reiche es nicht aus, wie bei Pisa einen bundesweiten Schnitt zu erheben. An jeder Schule seien die Umstände anders. Sein Ziel sind lokale Untersuchungen, auf die eine Kommune gezielt reagieren kann. Im Sommer hat Strohmeier seine Studie vorgestellt. Mehr als 40 Prozent der be- fragten Schüler gaben an, sich in der Schule missachtet zu fühlen. Ein Viertel der Schüler aber, sagt Strohmeier, habe sich bedankt, dass sie einmal selbst befragt wurden. ...

Samstag, 7. Juli 2018

Wenn mal die Lehrer zu gut sind...

Michael Rudolph unterrichtete 30 Jahre lang an Hauptschulen, bevor er an die Friedrich-Bergius-Realschule kam.
aus Tagesspiegel.de, 7. 7. 2018                                    Schulleiter Michael Rudolph

Berliner Schulinspektion
Trotz bestem Ruf fällt Schule durch 
Die Bergius-Schule in Friedenau galt als Erfolgsmodell. Bis die Schulinspekteure kamen. Was ist schief gegangen?

von 


Zwölf Jahre nach Einführung der Berliner Schulinspektion gibt es den ersten Skandal: Erstmals ließen die Inspekteure eine ebenso erfolgreiche wie beliebte Schule durchfallen: die Friedenauer Friedrich-Bergius-Schule. Nun stehen die Inspekteure selbst am Pranger – oder zumindest die von ihnen angewandten Kriterien. Wie konnte das geschehen? 

Die Sache nahm kurz vor den Ferien ihren Lauf: Da präsentierte in der Schule das Inspektionsteam seinen Bericht, der vor Negativbotschaften wimmelte und mit dem entsprechenden Fazit endete: Der Sekundar- schule wurde ein "erheblicher Entwicklungsbedarf" attestiert. Übersetzt heißt das: Die Schule hat so große Defizite, dass sie zu den rund sieben Prozent Problemschulen gehört, die Hilfe von außen bekommen müssen.

Sechs Schwächen werden der Schule attestiert

Der Inspektionsbericht, der dem Tagesspiegel vorliegt, nennt im Fazit nur zwei Stärken: eine "hohe Identi- fikation der Lehrkräfte und Eltern mit den Zielen der Schule" sowie ein "von allen Beteiligten anerkanntes Schulleitungshandeln". Dann aber kommt es knüppeldick: Sechs Schwächen – "Entwicklungsbedarfe" – werden aufgelistet, darunter die Vernachlässigung des Schulprogramms, der Unterrichtsentwicklung und der Kompetenzorientierung. Zudem verstoße der Schulleiter gegen rechtliche Vorgaben bei der Schulorga- nisation, etwa dadurch, dass Lehrer weniger Stunden als vorgeschrieben regulär unterrichten, um als feste Vertretungskräfte zur Verfügung zu stehen.

Verwunderung gab es bei der Präsentation der Ergebnisse vor allem darüber, dass viele Stärken beim Gesamturteil offenbar kaum ins Gewicht fielen. Ausgerechnet jene Stärken, die Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) als wichtigste Indikatoren für eine gelingende Schule nennt: geringe Schwänzerrate, wenig Unterrichtsausfall, wenig Gewalt und eine hohe Nachfrage. Die Senatorin findet diese Daten derart wichtig, dass sie im Herbst 2017 sogar ein "Berliner Indikatorenmodell" aus der Taufe hob: Es sieht vor, dass alle Schulen die genannten Indikatoren im Auge behalten sollen, um erfolgreicher zu werden.

Den Inspektoren geht es um die richtigen Prozesse

Wie passt das zusammen? Eine Antwort kam am Freitag vom Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung in Hamburg. Dessen Direktorin Martina Diedrich hält es für nachvollziehbar, dass auch eine beliebte und erfolgreiche Schule eine schlechte Bewertung bekommen kann. Denn die Inspektion sei "die einzige Institution, die vor allem auf die Prozesse achten soll". Wenn diese Prozesse – etwa bei der Schulprogrammentwicklung oder bei der Partizipation - nicht funktionierten, könne aus einer erfolgreichen Schule auf lange Sicht ein Problemfall werden – etwa beim Weggang eines starken Schulleiters, der alle Fäden allein in der Hand hält. Ein schlechtes Zeugnis sei dann als "Rauchmelder" zu verstehen.

"Die Kriterien der Schulinspektion an sich sind in Ordnung, aber es kommt auf die Gewichtung an", lautet die Einschätzung von Jens Großpietsch, einem der angesehensten Schulleiter Berlins. Seines Erachtens leuchtet es nicht ein, wenn eine Schule erfolgreich und gut nachgefragt ist und bei der Inspektion dennoch durchfällt – auch wenn etwas mit den "Prozessen" nicht stimme. Ein derartiges Urteil der Schulinspektion "behindert die Entwicklung mehr, als dass es sie fördert", befürchtet Großpietsch.

Erst Schließungskandidat, längst stark nachgefragt

Um die Empörung inner- und außerhalb der Schule zu verstehen, lohnt ein Blick zurück: Schulleiter Michael Rudolph erinnert daran, dass die Schule wegen mangelnder Nachfrage als Schließungskandidatin galt, als er 2005 als Leiter geholt wurde. In kürzester Zeit explodierten die Anmeldezahlen: Es gibt in Berlin kaum Sekundarschulen ohne gymnasiale Oberstufe, die dermaßen konstant übernachgefragt sind. Zudem schafft sie es, dass 50 Prozent der Zehntklässler einen guten Mittleren Schulabschluss erreichen: Schulen mit vergleichbarer Schülerzusammensetzung – zwei Drittel ohne deutsche Herkunftssprache, die Hälfte aus Hartz-IV-Familien – erreichen im Schnitt nur eine Quote von 37 Prozent.

"Wenn eine Schule unter schwierigsten Bedingungen überdurchschnittliche Lernerfolge erzielt, hat sie es verdient, zum Weitermachen ermutigt zu werden und braucht keine Nackenschläge durch ungerechtfertigte Negativbewertungen", meint Martina Zander-Rade, schulpolitische Sprecherin der Grünen in Tempelhof-Schöneberg. Der schulpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Christian Zander, sprach von "verkehrter Welt".

Schulleiter Rudolph begrüßt die Schüler morgens persönlich


Schulleiter Rudolph, der jetzt das Pensionsalter erreicht hat, sich wegen des Berliner Lehrermangels aber bereit erklärt hat, im Dienst zu bleiben, ist über die Bezirksgrenzen hinaus bekannt geworden, weil er konsequent gegen Disziplinverstöße vorgeht: Wer zu spät kommt, muss erst im Hof Müll sammeln, bevor er zur zweiten Stunde in den Unterricht darf. Jeden Morgen begrüßt der passionierte Frühaufsteher ab 7.30 Uhr seine Schüler im Foyer der tipptopp gepflegten Schule. Selbst alte GEW-Aktivisten, die es gewöh- nungsbedürftig finden, dass hinter Rudolphs Schreibtisch drei Fahnen stehen – die europäische und deutsche und die mit dem Berliner Bären – schwärmen vom freundlichen Klima der Schule. Das mit der Freundlichkeit und Pünktlichkeit und den guten Leistungen haben auch die Schulinspekteure gemerkt. Es hat ihr Urteil aber nicht geändert.

Schulinspektionen mit "breiter Akzeptanz"

Angesprochen auf die Kritik am Votum der Schulinspektion wies die Bildungsverwaltung darauf hin, dass die Schule die Hinweise der letzten Inspektion vor fünf Jahren nicht umgesetzt habe. Zudem könnten die ansonsten guten Schülerleistungen bei der Gesamtbewertung nicht so stark ins Gewicht fallen, weil fast sieben Prozent der Schüler ohne Abschluss blieben. Allerdings liegt das weit unter dem Schnitt vergleich- barer Schulen. Zur generellen Kritik am Vorgehen der Schulinspektion hieß es, dass die im Jahr 2005 installierte Schulinspektion "eine breite Akzeptanz" habe. Das zeigten auch die Feedbacks der Schulen. Allerdings enthielten diese Rückmeldungen "auch Hinweise oder auch kritische Anmerkungen, für die wir dankbar sind und stets zum Anlass nehmen Dinge zu hinterfragen und gebenenfalls anzupassen".


Nota. - Es juckt in den Fingern, daraus ein Schmähgedicht zu machen. Aber das wäre unangemessen. Hier liegt nämlich der Finger auf der elementaren Problematik allen Schulunterrichts. Erziehung ist, wenn das Wort überhaupt einen Sinn haben soll, Begegnung zwischen Personen. Das ist sie nicht unter anderm auch, sondern das ist sie spezifisch. Aber die Schule ist eine Institution mit hoheitlichem Auftrag. Das ist nicht nur nicht dasselbe, sondern es ist in tausenderlei Hinsicht direkt entgegengesetzt.

Nachdem ein rundes halbes Jahundert lang an Strukturen, Methoden und Theorien gefummelt wurde, ohne dass die Klagen weniger wurden, macht sich nach und nach die wehmütige Einsicht breit: Es ist, wie wir's immer gewusst haben - auf die Lehrer kommt's an, nicht auf die Verwaltung. Im Einzugsgebiet der Bergius-Schule wird man in den vergangenen Jahre aufgeatmet haben: Da haben wir aber Schwein gehabt. Was ein charismatischer Pädagogen nicht alles ausrichtet!

Da kommt die Schulinspektion und sagt: Setzen, ungenügend! Und gibt zu bedenken: Und nächstes Jahr? Der Mann ist im Pensionsalter! Wenn alles auf ihn zugeschnitten ist - wer soll ihn ersetzen?

Recht haben sie. Aber nur, weil es selbstverständlich ist, dass unter Pädagogen der Charismatiker, der sein Handwerk als Kunst und Berufung versteht, die ganz, ganz seltene Ausnahme ist. Die Schulinspektion hat den geruchs- und geschmacklosen Routinealltag im Auge, in dem achtzig bis neunzig Prozent der Schüler dümpeln: Das ist der Normalfall, Ausnahmen bestätigen bloß die Regel.

Im Detail mag an der Bergius-Schule die eine Seite mehr Recht haben als die andere, das müssen sie... im Detail ausmachen, da kann sich ein Außenstehender höchstens den Mund verbrennen. Aber mal abgesehen vom konkreten Anlass - der wahre Grund, der solche konkreten Anlässe immer und immer wieder hervor- bringen wird, ist, dass mit der Schule etwas, das seinem Wesen nach nur Notbehelf sein kann, so behandelt wird, als könne man ein Ideal daraus machen. Das macht die Lösung konkreter Probleme nicht einfacher, sondern schwieriger.
JE

Freitag, 22. Juni 2018

Kleist: Von der Überlegung.

Eine Paradoxe

 

Man rühmt den Nutzen der Überlegung in alle Himmel; besonders der kalt-blütigen und langwierigen, vor der Tat. Wenn ich ein Spanier, ein Italiener oder ein Franzose wäre: so möchte es damit sein Bewenden haben. Da ich aber ein Deutscher bin, so denke ich meinem Sohn einst, besonders wenn er sich zum Soldaten bestimmen sollte, folgende Rede zu halten. “Die Überlegung, wisse, findet ihren Zeitpunkt weit schicklicher nach, als vor der Tat. Wenn sie vorher, oder in dem Augenblick der Entscheidung selbst, ins Spiel tritt: so scheint sie nur die zum Handeln nötige Kraft, die aus dem herrlichen Gefühl quillt, zu verwirren, zu hemmen und zu unterdrücken, dagegen sich nachher, wenn die Handlung abgetan ist, der Gebrauch von ihr machen läßt, zu welchem sie dem Menschen eigentlich gegeben ist, nämlich sich dessen, was in dem Verfahren fehlerhaft und gebrechlich war, bewußt zu werden, und das Gefühl für andere künftige Fälle zu regulieren. Das Leben selbst ist ein Kampf mit dem Schicksal; und es verhält sich mit dem Handeln wie mit dem Ringen.
Der Athlet kann, in dem Augenblick, da er seinen Gegener umfaßt hält, schlechthin nach keiner anderen Rücksicht, als nach bloßen augenblicklichen Eingebungen verfahren, und derjenige, der berechnen wollte, welche Muskeln er anstrengen, und welche Glieder er in Bewegung setzen soll, um zu überwinden, würde unfehlbar den kürzeren ziehen, und unterliegen. Aber nachher, wenn er gesiegt hat oder am Boden liegt, mag es zweckmäßig und an seinem Ort sein, zu überlegen, durch welchen Druck er seinen Gegner niederwarf, oder welches Bein er ihm hätte stellen sollen, um sich aufrecht zu erhalten. Wer das Leben nicht, wie ein solcher Ringer, umfaßt hält, und tausendgliedrig, nach allen Windungen des Kampfs, nach allen Widerständen, Drücken, Ausweichungen und Reaktionen, empfindet und spürt, der wird, was er will, in keinem Gespräch durchsetzen; viel weniger in der Schlacht.

Zeichnungen: Albrecht Dürer, Illustrationen zu einem Ringer-Lehrbuch
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Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, München 1965, Bd. II, S. 337f.

Sonntag, 10. Juni 2018

Auf den Abschluss kommt's immer weniger an.


azubister

Der Wiener Standard berichtete gestern über die Messe UniSuccess, die dort am vergangenen Diestag stattgefunden hat. Was Innovationsdruck im Arbeitskontext für Studierende bedeutet, diskutierten Marion Rauner (Department of Innovation and Technology Management der Uni Wien), Gertraud Leimüller (Inhaber von Winnovation) und der wissenschaftliche Leiter des Zentrums für Soziale Innovation, Klaus Schuch.

... Auffällig die Botschaften an Studierende mit ihren meist sehr vielen Fragezeichen in all der Unabsehbar- keit, Unübersichtlichkeit und all den möglichen Zukünften in Digitalisierung, Automatisierung und globa- len Krisen: Versicherungen, dass Karrieren gut planbar und auf mehrere Jahrzehnte strukturierbar sind (wenn man nur will und leistungsbereit und mit vielen Abschlüssen und Zertifikaten gut ausgebildet ist), werden jungen Leuten nicht mehr vorgesetzt. "Es sind nicht mehr nur Abschlüsse, die Persönlichkeit kommt viel stärker ins Spiel – was ist das für ein Mensch, was treibt ihn an, wo will er hin", sagt etwa Innovationstreiberin Gertraud Leimüller, die mit einem zehnköpfigen Team in ihrer Firma Winnovation Innovationsberatung macht.

Hochschulen, setzt sie Kritik nach, bewegten sich da viel zu langsam, um Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen – obwohl ja zu sehen sei, dass "auch mit drei Masterabschlüssen keine Jobgarantie einher- geht". Der Wettbewerbsdruck führe zum Umdenken in der Recruitingpolitik, sagt sie. Formale Anforde- rungen würden zunehmend überdacht, nonformale Aspekte würden wichtiger. ...




 Auffällig die Botschaften an Studierende mit ihren meist sehr vielen Fragezeichen in all der Unabsehbarkeit, Unübersichtlichkeit und all den möglichen Zukünften in Digitalisierung, Automatisierung und globalen Krisen: Versicherungen, dass Karrieren gut planbar und auf mehrere Jahrzehnte strukturierbar sind (wenn man nur will und leistungsbereit und mit vielen Abschlüssen und Zertifikaten gut ausgebildet ist), werden jungen Leuten nicht mehr vorgesetzt. "Es sind nicht mehr nur Abschlüsse, die Persönlichkeit kommt viel stärker ins Spiel – was ist das für ein Mensch, was treibt ihn an, wo will er hin", sagt etwa Innovationstreiberin Gertraud Leimüller, die mit einem zehnköpfigen Team in ihrer Firma Winnovation Innovationsberatung macht.

Hochschulen, setzt sie Kritik nach, bewegten sich da viel zu langsam, um Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen – obwohl ja zu sehen sei, dass "auch mit drei Masterabschlüssen keine Jobgarantie einhergeht". Der Wettbewerbsdruck führe zum Umdenken in der Recruitingpolitik, sagt sie. Formale Anforderungen würden zunehmend überdacht, nonformale Aspekte würden wichtiger. - derstandard.at/2000081161678/Bewerbung-Guter-Charakter-schlaegt-gute-Noten

Samstag, 9. Juni 2018

Gefahr für den Kunstunterricht.

An der Oberschule in Pegau (Sachsen) üben Schülerinnen und Schüler der 7. Klasse im Musikunterricht eine Melodie am Keyboard.
aus Tagesspiegel.de

Rolle der künstlerischen Fächer in der Schule
Kunst ist mehr als Musizieren und Malen 
Der Kunst- und Musikunterricht wird marginalisiert oder nur als künstlerische Praxis gesehen. UdK-Vizepräsidentin Susanne Fontaine plädiert im Interview für eine umfassende ästhetische Bildung.

von Miriam Lenz


Frau Fontaine, wie ist die aktuelle Situation der künstlerischen Schulfächer im deutschen Bildungssystem?

Zunehmend problematisch. Das deutsche Schul- und Bildungswesen orientiert sich immer mehr an Fragen der Nützlichkeit und der Messbarkeit des Nutzens. In dieses Schema lassen sich die künstlerischen Fächer jedoch nur schwer einordnen. Wie soll man etwa messen, inwiefern eine ästhetische Erfahrung für einen Jugendlichen nützlich ist? Ein weiteres Problem ist die oft zu einseitige Tendenz innerhalb der künstlerischen Schulfächer zu dem, was dort „Praxis“ genannt wird.

Was ist an einer Praxisorientierung bei künstlerischen Fächern problematisch? Ist es nicht gut, wenn Kinder im Unterricht selbst künstlerisch arbeiten?

Natürlich gehört zum Unterricht in Musik, Kunst und Theater künstlerische Praxis. Doch noch wichtiger ist, dass Schülerinnen und Schüler lernen, über Kunst und über die Beziehung von Kunst und der sie umgebenden Welt zu reflektieren. Das Ziel öffentlichen Schulunterrichts in allgemeinbildenden Fächern – und zu diesen zählen die künstlerischen Fächer – ist schließlich nicht vorrangig, künftige Profis ausfindig zu machen. Zunächst einmal geht es bei öffentlichen Schulen darum, junge Menschen zu mündigen Bürgern zu erziehen.

Welche Rolle können dabei die künstlerischen Fächer spielen?

Künstlerischer Unterricht kann das Selbstbewusstsein des Einzelnen stärken. In Fächern wie Kunst, Musik und Theater können Schülerinnen und Schüler lernen, wie man argumentiert und was Kriterien einer Beurteilung sind. Dadurch, dass sie ständig dazu gezwungen sind, die eigene Position infrage zu stellen und zu begründen, gewinnen sie mit der Zeit Sicherheit über das eigene Können und das eigene Urteilsvermögen. 

Was macht guten künstlerischen Unterricht aus?

Lehrkräfte sollten Schülerinnen und Schüler Angebote zur Auseinandersetzung mit Kunst machen. Man sollte sich dabei die Frage stellen, was junge Menschen für ihr eigenes Leben brauchen, um sich als Erwachsene in ihrer Welt zurechtzufinden. Wie diese Angebote dann von den Kindern und Jugendlichen aufgenommen werden, ist ganz unterschiedlich. Aber Lehrkräfte sollten den Jugendlichen vermitteln, was öffentliche Kulturpflege heißt. Egal ob jemand später ins Konzert oder ins Museum geht, jeder sollte wissen, was in diesen Kulturinstitutionen gemacht wird und warum es sich dabei um eine öffentliche Aufgabe handelt, für die man Steuergelder zahlt.

Aus der Informatik-Didaktik wurde gefordert, in der Schule statt Musik lieber digitale Bildung zu unterrichten. Die Begegnung mit Kunst und Kultur gehöre ohnehin in die Familie. Was halten Sie davon?

Gar nichts. Digitalisierung ist ein drängendes Thema. Aber: Künstlerische Fächer in den öffentlichen allgemeinbildenden Schulen sind oft der einzige Kanal, über den Kinder und Jugendliche diese Welt kennenlernen können, wenn Kunst und Kultur in ihren Familien keine Rolle spielt. Würde dies in die private Zuständigkeit verschoben, wäre das eine extreme Schlechterstellung dieser Kinder.

Welchen Problemen sehen sich Lehrkräfte künstlerischer Fächer gegenüber?

Häufig werden Kunst, Musik und Theater von Kollegen und Eltern nicht als vollwertige Fächer gesehen. Das ist kräftezehrend. Hinzu kommt eine unglaubliche Überlastung, auch in sozialer Hinsicht. Musik beispielsweise wird häufig mit nur einer Stunde in der Woche unterrichtet. Wenn man als Lehrkraft aufgrund des Fachlehrermangels nur noch in Musik und nicht mehr in seinem zweiten Fach eingesetzt wird, sieht man in der Woche hunderte Schüler. Und jeden einzelnen soll man individuell fördern – wie soll das funktionieren?

Wie möchten Sie die Lage der künstlerischen Fächer verbessern?

Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen im Schuldienst zum einen zeigen, dass sie nicht alleine sind. Dass es gesellschaftliche Unterstützung gibt, zum Beispiel an den Hochschulen und in den Interessenverbänden. Wir müssen da zusammen an einem Strang ziehen. Zum anderen geht es darum, ein öffentliches Bewusstsein über die Funktion der künstlerischen Fächer zu schaffen und dafür, was passiert, wenn man sie vor die Hunde gehen lässt. Wir müssen zeigen, was es für die Gesellschaft bedeutet, wenn man sein Bildungssystem auf Nützlichkeit ausrichtet und eben nicht mehr auf den mündigen Staatsbürger. Es reicht einfach nicht, bloß die flexibel an den Arbeitsmarkt anpassbare Arbeitskraft in seinen Schulen heranzuziehen.


Nota. - Was die ästhetischen Fächer an der Schule am meisten bedroht, ist, dass sie sich von Leut*innen wie Frau Fontaine vertreten lassen. Nachdem sie sich im ersten Halbsatz gegen die Input-Output-Mentalität der Bildungspolitiker ausgesprochen hat, sagt sie im folgenden Halbsatz, der Kunstunterricht solle sich an dem orientieren, "was junge Menschen für ihr eigenes Leben brauchen, um sich als Erwachsene in ihrer Welt zurechtzufinden". 

Doch dann werden die Befürworter von Digitaler-Bildung-statt-Kunstunterricht immer das letzte Wort behalten.

Die elementare Bildungsmacht der Kunst gründet darin, dass sie eben nicht und in keiner Weise Teil der Ausbildung fürs wirkliche Leben ist. Die ästhetische Welt ist die Region in unserm Horizont, die schlech- terdings frei von allem Zweck ist.  

So etwas gibt es. Das weiß nur einer, der es erfahren hat: Es gibt ein Reich, wo das Erbsenzählen ein Ende hat, wo nicht gemessen und verglichen wird, wo nicht alles bedingt und vermittelt ist und wo nicht eine Hand die andere wäscht und das Hemd näher sitzt als die Hose. Es gibt ein Reich, wo jeder selber wägen und werten muss, und zwar unerachtet allen Vorteils.

Nein, im Kunstunterricht kann auch noch der letzte 'lernen', dass es dieses Reich vielmehr nicht 'gibt' wie Regen und Sonnenschein, sondern dass ein jeder es selber betreten muss, wenn es da sein soll.

Den Nutzen eines solchen Schulfachs kann nicht jeder erkennen? 

Das ist ja das Problem, zu dessen Lösung das Fach beitragen soll.

Aber natürlich nur, wenn es nicht Teil des schulischen Pensums ist, sondern sein Gegenpol.
JE

Montag, 14. Mai 2018

Die Geschichte vom Wachsen.

 
Man soll alle Menschen gewöhnen von Kindheit an in große Bücher zu schreiben, alle ihre Exercitia, in hartes Schweinsleder gebunden. Da sich kein Gesetz daraus machen läßt, so muß man Eltern darum bitten, wenigstens mit Kindern, die zum Studieren bestimmt sind. Wenn man jetzt Newtons Schreibbücher hätte! 

Wenn ich einen Sohn hätte, so müßte er gar kein Papier unter Händen bekommen, als eingebundenes, zerrisse er es, oder besudelte er es, so würde ich mit väterlicher Dinte dabei schreiben: dieses hat mein Sohn anno * den * ten besudelt. Man läßt den Körper und Seele, das Punctum saliens der Maschine fort- wachsen und verschweigt und vergißt es. Die Schönheit wandelt auf den Straßen, warum sollten nicht in dem Familien-Archiv die Produkte, oder vielmehr die Signaturen der Fortschritte des Geistes hinterlegt bleiben, und der Wachstum dort eben so sichtbar aufbewahrt liegen können? 

Der Rand müßte gebrochen werden, und auf einer Seite immer die Umstände und zwar sehr unparteiisch geschrieben werden. Was für ein Vergnügen würde es mir sein, jetzt meine Schreibbücher alle zu über- sehen! Seine eigne Naturgeschichte! Man sieht jetzt immer was man ist und sehr schwach was man war. Man müßte den eigentlichen Gegenstand der Sammlung die Dinge nicht zu oft sehen lassen. Vielleicht nur erst spät sehen lassen, das übrige müßte er bloß aus Relationen kennen. 

Man hebt die Kinderhäubchen auf, und ich habe öfters selbst den Zusammenkünften mit beigewohnt, da man einem sehr großen, besoldeten und ansehnlichen Kopf sein Kinderhäubchen wies. Warum nicht eben so mit Werken des Geistes. Die Eltern könnten eine solche Sammlung von Bänden eben so aufbewahren, wie ihr Kind, denn es ist der Spiegel desselben. Wie sie seinen Leib zu bilden haben lehrt sie ihr Auge; wie seinen Geist, der Anblick dieser Bände. 

Vom 4 ten Jahre glaube ich könnte man anfangen. Kein Band müßte verloren werden. Denn das Papier müssen sie doch bezahlen, und das Aufbehalten macht keine Schwierigkeiten. Ich wüßte nicht welches angenehmer und nützlicher wäre, die Bewegung aller Planeten zu kennen, oder diese Annalen einiger vorzüglicher Menschen. Die Welt würde dadurch sehr gewinnen.
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Lichtenberg, Sudelbücher, Buch J 

 

Freitag, 11. Mai 2018

Noch nie dagewesen.


Die erziehende Umgebung will jeden Menschen unfrei machen, indem sie ihm immer die geringste Zahl von Möglichkeiten vor Augen stellt. Das Individuum wird von seinen Erziehern behandelt, als ob es zwar etwas Neues sei, aber eine Wiederholung werden solle. Erscheint der Mensch zunächst als etwas Unbe- kanntes, nie Dagewesenes, so soll er zu etwas Bekanntem, Dagewesenem gemacht werden. Einen guten Charakter nennt man an einem Kinde das Sichtbarwerden der Gebundenheit durch das Dagewesene; indem das Kind sich auf die Seite der gebundenen Geister stellt, bekundet es zuerst seinen erwachenden Gemein- sinn; auf der Grundlage dieses Gemeinsinns aber wird es später seinem Staate oder Stande nützlich.
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Fr. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, aus N° 228


Nota. - Der schlechte Witz dabei ist, dass der landläufige Erzieher überzeugt ist, genau das Gegenteil zu tun: denn er erzieht ja nicht nach den Lehren von gestern, sondern nach dem letzten Schrei; und der ist ja wohl noch nie dagewesen! - Doch morgen, wenn das Kind deine Schule verlässt, wird er nur allzu dagewe- sen sei, denn allzu da ist er ja heute.
JE




Mittwoch, 9. Mai 2018

Vergeßt '68!


Aufstieg und Niedergang der Kümmer-Pädagogik

'Erziehen heißt sich um alles kümmern' – eine moderne Selbstverständlichkeit.

Aber so selbstverständlich nun auch wieder nicht: Sie ist es nämlich in den letzten zwanzig Jahren erst geworden (freilich, der Pädagogenstand, stets auf Ausschau nach dem letzten Schrei, hat ein kurzes Gedächtnis...).

Tatsächlich ist dieses Axiom ein Kind der 68er Bewegung.

Bis '68 galt es nämlich als 'selbstverständlich', daß jedes Kind von sich aus irgendwie... „heranwächst“; und wo von 'Erziehung' ex professo die Rede war, meinte man damit im wesentlichen: 'Bildung' (Geistes-, Herzens-, Charakterbildung...). Und darum waren die begrifflichen Referenzen der pädagogischen Diskussion auch vor- rangig philosophisch-weltanschaulicher Herkunft (gegebenenfalls verbunden mit biologischer Anthropologie, vgl. Literatur zum 'Jugendalter'); auch die verschiedenen „Reformpädagogiken“ der Weimarer Zeit waren derart welt- anschaulich motiviert.

Für die Heim-Erziehung hieß das: Da die Kinder sowieso irgendwie heranwachsen, kommt es einstweilen nur darauf an, ihnen ein Dach über dem Kopf zu geben – notfalls bis zur Volljährigkeit. Heime waren Bewahr-Anstalten.

Als eigentlich pädagogisches Problem trat nur dies in den Blick: 'Das Heim' ist ein „unnatürliches“ Milieu, und folglich ungünstig für ein 'normales' Auf- wachsen: „Natürlich“ – und darum (?!) am günstigsten – wäre das Aufwachsen in der bürgerlichen Kleinfamilie; sie bietet die optimale Bedingungen für die 'Reifung' der Persön- lichkeit. – Unausgesprochene (und sachlich in der Regel zutreffende) Voraussetzung dieser Sichtweise: daß die Trennung von den Eltern gleichbedeutend sei mit dem Verlust der Eltern. Die pädagogische Reflexion in der Heimerziehung – wo sie denn stattfand – drehte sich bescheiden um die Frage: Wie können wir die unnatürliche Heimsituation weitestgehend an die natürliche Familiensituation angleichen? – Und ganz naiv wurde versucht, in den „Gruppen“ familiäre Verhältnisse vorzutäuschen: Die 'familiengegliederten' Heimneubauten stammen aus den 60er Jahren. (Nicht zu vergessen, daß es die Zeit der Adenauer, Wuermelinmg und Elisabeth Schwarzhaupt war.)

Das ('Vor'-) Bild, das sich der Erzieher in dieser Zeit mit Vorliebe von sich selber macht, ist das des Gärtners: einer, der hier ein wenig stutzt, dort ein wenig geradebiegt, und der alles in allem seine Pflänzchen vor allen Dingen... behütet (und daß Überbehütung ein Hauptrisiko der Heinerzeihung ist, war schon lange vor '68 be- kannt).  Aber immerhin: Wenn er in seiner Baumschule auch hin und wieder düngt und gießt, so ist doch in dieser Optik der Erzieher nicht derjenige, der den Regen und den Sonnenschein macht.*

Das kam erst mit dem pädagogischen 'Paradigmenwechsel' des Jahres '68.

Von nun an heißt aufwachsen wesentlich und vor allen Dingen: erzogenwerden! Und Sozialisation heißt folglich: sozialisiertwerden. Sogar – und sogar ganz besonders – das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern soll von nun an in erster Linie ein pädagogisches sein, nicht etwa, wie bislang, ein leidenschaftliches. 'Erziehen' gilt nunmehr als eine – fachlich spezifische – Aufgabe, 'erziehen' heißt jetzt: arbeiten, und zwar 'qualifiziert' arbeiten: 'Eigentlich sollte jeder, der Kinder in die Welt setzt, vorher einer pädagogischen Ausbildung unterzogen werden.' Aber vor allen Dingen gilt nun Pädagogik als die praktische Umsetzung einer theoretischen Wissenschaft, nämlich 'der Psychologie'; und das bedeutete damals, unangefochten: der Psychoanalyse.

Im Zeichen der „Triebökonomie“ ist nun 'Leben' schlechterdings zur Gefährdung geworden: Hinter jeder Ecke lauern die „traumatischen Erlebnisse“, und jeder eigene Schritt des Kindes wird zum Risikofaktor. Ja mehr noch: „Ein Wort genügt“, nämlich das falsche Wort zur falschen Zeit, um das „Triebschicksal“ unausweichlich in die falsche, in eine pathologische Richtung irrezuleiten. Das erste Gebot des Pädagogen ist darum: Vorsicht. – Es grenzt schon an ein Wunder, wenn es dem einen oder dem andern Individuum in seiner permanenten Gefähr- dung doch gelingen sollte, 'normal' zu bleiben (d. h. eigentlich: zu werden); denn „eigentlich“ kann doch nur der normal werden, der vom Psychoalanalytiker auf den rechten Weg geführt worden ist. Denn 'eigentlich' gilt nach dieser Lehre ja Kindsein selber als ein quasi-pathologischer, jedenfalls als ein Mangel-Zustand: „polymorph per- vers“, „primitives Lust-Ich“, und wie die Epitheta alle heißen.

Aufwachsen erscheint nunmehr als eine Art Gesundungsprozeß.

Das Bild, das sich der Erzieher jetzt von sich selber macht, hat gewechselt. Allerdings schaut er es nicht mehr deutlich an: Es wäre zu verräterisch. Sein Modell ist nicht mehr der Gärtner, sondern der Bäcker. Und wie dieser braucht er eine Herdstelle: sein besonderes pädagogisches 'Milieu' („Freiraum“), alias einen 'therapeutischen Ort', wo er sein Produkt garen kann; und wie jener gibt er seinem 'Material' eigenhändig die gewünschte Form (heute heißt das: „Beziehungen herstellen“); und vor allem: genau wie jener bereitet er sein Material selber zu: Er knetet und massiert 'das Unbewußte' (das Es, die Triebe, heute: „die Bedürfnisse“; oder auch „mit den Gefühlen arbei- ten“...) –  wie einen Teig.

Kurzum, der Erzieher ist seither einer, der sich um alles kümmern muß, der alles sehen, alles hören, der überall dabeisein – und natürlich zu allem seinen Senf dazugeben muß.

Es ist die Geburtsstunde der Kümmer-Pädagogik.

Dabei stand zuerst die gleichzeitig behauptete Antiautorität dieser neuen, psychologischen Pädagogik den An- sprüchen jener wahren Lehre, die 'wissenschaftlich erwiesen' hatte, wie der Mensch 'von Natur aus' eigentlich ist – und zu sein hat –, quer im Weg. Aber der mit solcher Wahrheit ausgestattete Pädagoge konnte sich auf die Dauer ja nicht anders vorkommen denn als ein bevollmächtigter Erfüllungsgehilfe unseres lieben Herrgotts, als der Nachvollzugs-Beamte der Schöpfung. Wenn 'das Kind' von Natur aus ein Mängelwesen war, von polymorph perversen Trieben gebeutelt und ohne eigenes Ich, dann konnte Heilung nur von außen kommen, von einem, der „weiß“, wie es 'sein soll'. – Und so trat der anfängliche antiautoritäre Gestus schon bald hinter einen quasi medi- zinischen Diskurs zurück: 'Der Erzieher, ein Arzt': diese Anmaßung schlich sich still und heimlich ausgerechnet zur selben Zeit ins herrschende pädagogische Selbstverständnis ein, als die Antipsychiater erklärten, ihren 'Irren' künftig nicht mehr als Ärzte, sondern als... Erzieher begegnen zu wollen.**

Zwar ist die Psychoanalyse unter Pädagogen inzwischen in Verruf geraten, wo nicht gar völlig unbekannt. Die Frage ist aber auch gar nicht, ob und wieweit sie noch heute als 'gültig' anerkannt wird. Es ist in diesem Zusam- menhang nur wichtig, daß diese Doktrin seinerzeit das ausschlaggebende Medium gewesen ist, um dem Küm- mer-Prinzip zu seinem ideologischen Durchbruch im pädagogischen Alltag zu verhelfen. Denn als ein ausge- sprochen beschäftigungswirksames Axiom entsprach es einem „realen gesellschaftlichen Bedürfnis“: den Inter- essen des aufstrebenden Berufsstandes der Pädagogen. Und nachdem es nun einmal zu gesellschaftlicher Gel- tung gekommen war, ward es alsbald völlig gleichgültig, wie es vormals theoretisch begründet wurde: genug, daß es galt. – Bezeichnend, wie sang- und klanglos Anfang der siebzieger Jahre der anfängliche antiautoritäre 'Trieb'-Dialekt nach und nach mit dem Jargon der 'Lern'- und 'Verhaltens'-Psychologie versetzt und schließlich ganz ersetzt werden konnte! Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan. Über die „antiautoritäre Phase“ – und natürlich erst recht über ihr „Auswüchse“ - kann man seither getrost seine Witzchen machen.

Man kann ja auch wieder 'die Psychoanalyse' verlästern, ohne was davon zu verstehen (und den Marxismus, wie immer, auch). Aber die obwaltende Geringschätzung für 'die Theorie' - Motto: „konkret werden“ – ist, hier wie stets, verräterisch. Sie verrät das schlechte Gewissen.

Das Befremden, das Unbehagen daran, daß jahrein, jahraus die einzige stereotype Antwort auf alle pädagogi- schen Fragen immer wieder nur das ewige Mehr desselben, nämlich „die Betreuung intensivieren“, sprich: 'die Planstellen vermehren' sein soll, greift unter den Praktikern ebenso um sich wie unter den 'Theoretikern'.

Man spürt es allenthalben: Ein pädagogischer 'Paradigmenwechsel' ist, nach zwanzig Jahren, wieder fällig. Die Zeit ist reif.***

Und wie so oft, muß dieser Paradigmenwechsel zunächst einmal wie ein Rückschritt aussehen: nämlich als ein Schritt 'zurück' hinter jene zweifelhafte Errungenschaft des Jahres '68, wonach das Kind, um in die Welt hinein- zuwachsen, jemanden 'braucht', der es darauf 'vorbereitet', 'behandelt' und... zubereitet.

Ein Schritt zurück zu einem altehrwürdigen Standpunkt, der, weil er noch nie umfassend wirksam geworden ist, einen Fortschritt markiert, und dabei jung ist wie am ersten Tag.

Das Kind wächst aus eigener Kraft. Es gibt sich seine Richtung selber. Es baut sich seinen eigenen Lebensplan – aus dem Material, das es vorfindet ebenso, wie aus eignem. Der Erzieher hat nur wenig Einfluß darauf, welches Material sein Zögling vorfindet. Eigentlich kann er das Vorgefundene immer nur verschieden „arrangieren“: nämlich so anordnen, daß dem Kind alle seine Möglichkeiten als gleichermaßen 'zuhanden' vorkommen – so daß es sie frei 'auswählen' kann.

Er kann Bedingungen schaffen, indem er Situationen erfindet.

*

Und darüberhinaus? Ist das nicht ein bißchen wenig für einen 'Erzieher'?

Darüberhinaus kann er noch eines tun: das Kind in seiner Meinung bestärken, daß es seinen Weg selber finden wird. In einer Welt, in der dem Kind so vieles begegnet, was es an seiner Selbstgewißheit irre machen kann, ist das allerhand. 

Im Sommer 1989 


*) Daneben, als ein eigenständiger Sektor, steht beziehungslos die „Verwahrlostenpädagogik“ mit offen korrektionellem, um nicht zu sagen: mit polizeilichem Charakter.
**) Nun konnte auch der 'Sonder'-Bereich der Verwahrlosten-Fürsorge – „Heimkampagne“! – aufgelöst werden: Die 'Normal'-Erziehung war ja selber korrektionell geworden.
***) Die Zeit war reif. Aber statt einer Wende im Westen gab es dann die im Osten. Was immer die deutsche Wiedervereinigung sonst mit sich bringen wird – für das Aufwachsen in Deutschland war die Folge, daß das Gros der PädagogInnen aus der DDR („Bewährtes bewahren“) über Nacht die Reihen der professionellen Nachhut im Westen verstärken kam, und jetzt hausen sie ungeniert wie nie. Wenn das böse Wort von der Ossifizierung der Bundesrepublik irgendwo stimmt, dann hier. [Nachtrag 1994]