Aufstieg
und Niedergang der Kümmer-Pädagogik
'Erziehen
heißt sich um alles kümmern' – eine moderne Selbstverständlichkeit.
Aber
so selbstverständlich nun auch wieder nicht: Sie ist es nämlich in den letzten
zwanzig Jahren erst geworden (freilich, der Pädagogenstand, stets auf Ausschau
nach dem letzten Schrei, hat ein kurzes Gedächtnis...).
Tatsächlich
ist dieses Axiom ein Kind der 68er Bewegung.
Bis
'68 galt es nämlich als 'selbstverständlich', daß jedes Kind von sich aus
irgendwie... „heranwächst“; und wo von 'Erziehung' ex professo die Rede war, meinte
man damit im wesentlichen: 'Bildung' (Geistes-, Herzens-, Charakterbildung...).
Und darum waren die begrifflichen Referenzen der pädagogischen Diskussion auch
vor- rangig philosophisch-weltanschaulicher Herkunft (gegebenenfalls verbunden
mit biologischer Anthropologie, vgl.
Literatur zum 'Jugendalter'); auch die verschiedenen „Reformpädagogiken“
der Weimarer Zeit waren derart welt- anschaulich motiviert.
Für
die Heim-Erziehung hieß das: Da die Kinder sowieso irgendwie heranwachsen,
kommt es einstweilen nur darauf an, ihnen ein Dach über dem Kopf zu geben –
notfalls bis zur Volljährigkeit. Heime waren Bewahr-Anstalten.
Als
eigentlich pädagogisches Problem trat nur dies in den Blick: 'Das Heim' ist ein
„unnatürliches“ Milieu, und folglich ungünstig für ein 'normales'
Auf- wachsen: „Natürlich“ – und darum (?!) am günstigsten
– wäre das Aufwachsen in der bürgerlichen Kleinfamilie;
sie bietet die optimale Bedingungen für die 'Reifung' der
Persön- lichkeit. – Unausgesprochene (und sachlich in der Regel zutreffende)
Voraussetzung dieser Sichtweise: daß die Trennung von den Eltern gleichbedeutend
sei mit dem Verlust der Eltern. Die pädagogische Reflexion in der Heimerziehung
– wo sie denn stattfand – drehte sich bescheiden um die Frage: Wie können wir
die unnatürliche Heimsituation weitestgehend an die natürliche
Familiensituation angleichen? – Und ganz naiv wurde versucht, in den „Gruppen“
familiäre Verhältnisse vorzutäuschen: Die 'familiengegliederten' Heimneubauten
stammen aus den 60er Jahren. (Nicht zu vergessen, daß es die Zeit der Adenauer,
Wuermelinmg und Elisabeth Schwarzhaupt war.)
Das ('Vor'-) Bild, das sich der Erzieher in dieser Zeit mit Vorliebe von
sich selber macht, ist das des Gärtners: einer, der hier ein wenig stutzt, dort
ein wenig geradebiegt, und der alles in allem seine Pflänzchen vor allen
Dingen... behütet (und daß Überbehütung
ein Hauptrisiko der Heinerzeihung ist, war schon lange vor '68 be- kannt). Aber immerhin: Wenn er in seiner Baumschule
auch hin und wieder düngt und gießt, so ist doch in dieser Optik der
Erzieher nicht derjenige, der den Regen und den Sonnenschein macht.*
Das
kam erst mit dem pädagogischen 'Paradigmenwechsel' des Jahres '68.
Von
nun an heißt aufwachsen wesentlich und vor allen Dingen: erzogenwerden! Und
Sozialisation heißt folglich: sozialisiertwerden. Sogar – und sogar ganz
besonders – das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern soll von nun an in
erster Linie ein pädagogisches sein, nicht etwa, wie bislang, ein leidenschaftliches.
'Erziehen' gilt nunmehr als eine – fachlich spezifische – Aufgabe, 'erziehen' heißt jetzt: arbeiten, und zwar 'qualifiziert' arbeiten: 'Eigentlich sollte
jeder, der Kinder in die Welt setzt, vorher einer pädagogischen Ausbildung
unterzogen werden.' Aber vor allen Dingen gilt nun Pädagogik als die praktische
Umsetzung einer theoretischen Wissenschaft, nämlich 'der Psychologie'; und das bedeutete
damals, unangefochten: der Psychoanalyse.
Im
Zeichen der „Triebökonomie“ ist nun 'Leben' schlechterdings zur Gefährdung geworden:
Hinter jeder Ecke lauern die „traumatischen Erlebnisse“, und jeder eigene
Schritt des Kindes wird zum Risikofaktor. Ja mehr noch: „Ein Wort genügt“,
nämlich das falsche Wort zur falschen Zeit, um das „Triebschicksal“
unausweichlich in die falsche, in eine pathologische Richtung irrezuleiten. Das
erste Gebot des Pädagogen ist darum: Vorsicht. – Es grenzt schon an ein Wunder,
wenn es dem einen oder dem andern Individuum in seiner permanenten Gefähr- dung
doch gelingen sollte, 'normal' zu bleiben (d. h. eigentlich: zu werden); denn „eigentlich“
kann doch nur der normal werden, der vom Psychoalanalytiker auf den rechten Weg
geführt worden ist. Denn 'eigentlich' gilt nach
dieser Lehre ja Kindsein selber als ein quasi-pathologischer, jedenfalls als
ein Mangel-Zustand: „polymorph per- vers“, „primitives Lust-Ich“, und wie die
Epitheta alle heißen.
Aufwachsen
erscheint nunmehr als eine Art Gesundungsprozeß.
Das
Bild, das sich der Erzieher jetzt von sich selber macht, hat gewechselt.
Allerdings schaut er es nicht mehr deutlich an: Es wäre zu verräterisch. Sein
Modell ist nicht mehr der Gärtner, sondern der Bäcker. Und wie dieser braucht
er eine Herdstelle: sein besonderes pädagogisches 'Milieu' („Freiraum“), alias
einen 'therapeutischen Ort', wo er sein Produkt garen kann; und wie jener gibt
er seinem 'Material' eigenhändig die gewünschte Form (heute heißt
das: „Beziehungen herstellen“); und vor allem: genau wie jener bereitet er sein
Material selber zu: Er knetet und massiert 'das Unbewußte' (das Es, die Triebe,
heute: „die Bedürfnisse“; oder auch „mit den Gefühlen
arbei- ten“...) – wie einen Teig.
Kurzum,
der Erzieher ist seither einer, der sich um
alles kümmern muß, der alles sehen, alles hören, der überall
dabeisein – und natürlich zu allem seinen Senf dazugeben muß.
Es
ist die Geburtsstunde der Kümmer-Pädagogik.
Dabei
stand zuerst die gleichzeitig behauptete Antiautorität dieser neuen, psychologischen
Pädagogik den An- sprüchen jener wahren Lehre, die 'wissenschaftlich
erwiesen' hatte, wie der Mensch 'von Natur aus' eigentlich ist – und zu sein
hat –, quer im Weg. Aber der mit solcher Wahrheit ausgestattete Pädagoge konnte
sich auf die Dauer ja nicht anders vorkommen denn als ein bevollmächtigter Erfüllungsgehilfe
unseres lieben Herrgotts, als der Nachvollzugs-Beamte der Schöpfung. Wenn 'das
Kind' von Natur aus ein Mängelwesen war, von polymorph perversen Trieben
gebeutelt und ohne eigenes Ich, dann konnte Heilung nur von außen kommen, von
einem, der „weiß“, wie es 'sein soll'. – Und so trat der anfängliche antiautoritäre
Gestus schon bald hinter einen quasi medi- zinischen Diskurs zurück:
'Der Erzieher, ein Arzt': diese Anmaßung schlich sich still und heimlich
ausgerechnet zur selben Zeit ins herrschende pädagogische Selbstverständnis
ein, als die Antipsychiater erklärten, ihren 'Irren' künftig
nicht mehr als Ärzte, sondern als... Erzieher begegnen zu wollen.**
Zwar
ist die Psychoanalyse unter Pädagogen inzwischen in Verruf geraten, wo nicht
gar völlig unbekannt. Die Frage ist aber auch gar nicht, ob und wieweit sie
noch heute als 'gültig' anerkannt wird. Es ist in diesem Zusam- menhang
nur wichtig, daß diese Doktrin seinerzeit das ausschlaggebende Medium gewesen ist,
um dem Küm- mer-Prinzip zu seinem ideologischen Durchbruch
im pädagogischen Alltag zu verhelfen. Denn als ein ausge- sprochen beschäftigungswirksames
Axiom entsprach es einem „realen gesellschaftlichen Bedürfnis“:
den Inter- essen des aufstrebenden Berufsstandes der Pädagogen. Und nachdem es
nun einmal zu gesellschaftlicher Gel- tung gekommen war, ward es alsbald völlig
gleichgültig, wie es vormals theoretisch begründet
wurde: genug, daß es galt. – Bezeichnend, wie sang- und klanglos Anfang der
siebzieger Jahre der anfängliche antiautoritäre 'Trieb'-Dialekt nach und nach
mit dem Jargon der 'Lern'- und 'Verhaltens'-Psychologie versetzt und schließlich
ganz ersetzt werden konnte! Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan. Über die „antiautoritäre
Phase“ – und natürlich erst recht über ihr „Auswüchse“
- kann man seither getrost seine Witzchen machen.
Man
kann ja auch wieder 'die Psychoanalyse' verlästern, ohne was davon zu verstehen
(und den Marxismus, wie immer, auch). Aber die obwaltende Geringschätzung für
'die Theorie' - Motto: „konkret werden“ – ist, hier wie stets, verräterisch.
Sie verrät das schlechte Gewissen.
Das
Befremden, das Unbehagen daran, daß jahrein, jahraus die einzige stereotype
Antwort auf alle pädagogi- schen Fragen immer wieder nur das ewige Mehr desselben, nämlich „die Betreuung
intensivieren“, sprich: 'die Planstellen vermehren' sein soll, greift unter den
Praktikern ebenso um sich wie unter den 'Theoretikern'.
Man
spürt es allenthalben: Ein pädagogischer 'Paradigmenwechsel'
ist, nach zwanzig Jahren, wieder fällig. Die Zeit ist reif.***
Und
wie so oft, muß dieser Paradigmenwechsel zunächst einmal wie ein Rückschritt
aussehen: nämlich als ein Schritt 'zurück' hinter jene
zweifelhafte Errungenschaft des Jahres '68, wonach das Kind, um in die Welt
hinein- zuwachsen, jemanden 'braucht', der es darauf 'vorbereitet', 'behandelt'
und... zubereitet.
Ein
Schritt zurück zu einem altehrwürdigen
Standpunkt, der, weil er noch nie umfassend wirksam geworden ist, einen
Fortschritt markiert, und dabei jung ist wie am ersten Tag.
Das
Kind wächst aus eigener Kraft. Es gibt sich seine Richtung selber. Es baut sich
seinen eigenen Lebensplan – aus dem Material, das es vorfindet ebenso, wie aus
eignem. Der Erzieher hat nur wenig Einfluß darauf, welches Material sein Zögling
vorfindet. Eigentlich kann er das Vorgefundene immer nur verschieden „arrangieren“:
nämlich so anordnen, daß dem Kind alle seine Möglichkeiten als gleichermaßen 'zuhanden'
vorkommen – so daß es sie frei 'auswählen' kann.
Er
kann Bedingungen schaffen, indem er Situationen erfindet.
*
Und
darüberhinaus? Ist das nicht ein bißchen wenig für
einen 'Erzieher'?
Darüberhinaus
kann er noch eines tun: das Kind in seiner Meinung bestärken, daß es seinen Weg
selber finden wird. In einer Welt, in der dem Kind so vieles begegnet, was es
an seiner Selbstgewißheit irre machen kann, ist das allerhand.
Im Sommer 1989
*)
Daneben, als ein eigenständiger Sektor, steht beziehungslos die „Verwahrlostenpädagogik“
mit offen korrektionellem, um nicht zu sagen: mit polizeilichem Charakter.
**)
Nun konnte auch der 'Sonder'-Bereich der Verwahrlosten-Fürsorge
– „Heimkampagne“! – aufgelöst werden: Die 'Normal'-Erziehung war ja selber
korrektionell geworden.
***)
Die Zeit war reif. Aber statt einer Wende im Westen gab es dann die im Osten.
Was immer die deutsche Wiedervereinigung sonst mit sich bringen wird – für
das Aufwachsen in Deutschland war die Folge, daß das Gros der PädagogInnen aus
der DDR („Bewährtes bewahren“) über Nacht die Reihen
der professionellen Nachhut im Westen verstärken kam, und jetzt hausen sie
ungeniert wie nie. Wenn das böse Wort von der Ossifizierung der Bundesrepublik
irgendwo stimmt, dann hier. [Nachtrag
1994]