…vom ästhetischen Grund der Bildung
Kritische Ausgangslage
Der Mensch wird nur durch Erziehung zum Menschen.
Herder
Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt.
Alles entartet unter den Händen des Menschen.
Rousseau
Nicht von ungefähr hat Herder seine Ideen zu Papier gebracht.[1]
Anlaß war das literarische Großereignis des europäischen 18.
Jahrhunderts. Kein anderes Buch hat je die Gemüter seiner Zeitgenossen
so ergriffen wie Rousseaus Émile.[2] Die
Parole ‚Zurück zur Natur’ steht dort zwar nirgends geschrieben. Wie
anders hätten seine Leser den Gedanken, daß alles gut war, als es aus
der Hand des Schöpfers kam, und erst durch den gesellschaftlichen
Verkehr und seine Traditionen (alias Kultur) korrumpiert worden sei,
aber verstehen sollen! „Die erste Erziehung muß also rein negativ sein“,
lautete die Konsequenz – „nämlich nichts tun und verhüten, daß etwas
getan wird“.[3]
Herders trotzige Antwort war, daß „unser Geschlecht nur durch unser
Geschlecht gebildet“ werde – „und wie könnten wir dies besser als Überlieferung nennen?“[4]
Im
Lebenswerk Rousseaus hatte sich das kritische Prinzip der Aufklärung
gegen sie selber gewendet. Es hat seine eigne Ironie, wie ihr
Grundgedanke von der Allmacht der Erziehung prompt bei einem unserer
drei großen Antiaufklärer[5]
ein neues Zuhause fand – und sich dabei zur bloßen Tradition beschied.
Ebenso ironisch ist es, daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit den
Fragen der Pädagogik durchaus nicht bei deren Apologeten ihren Ausgang
nahm, sondern bei den Kritikern.
Daß
‚die Praxis’ von alleine ‚zur Theorie drängt’, ist eine Legende. Solang
es geht, wird sie sich auch vor neuen Herausforderungen mit dem Spiel
von Versuch und Irrtum begnügen. Damit Erziehung in den Bereich
wissenschaftlichen Denkens geriet, mußte auf Seiten der Wissenschaft das
Interesse – ein logisches wie
ein sachliches – erwachsen sein, auch diesen Ausschnitt der Welt zu
vereinnahmen. Mit andern Worten, Wissenschaft mußte beginnen, sich zur
öffentlich allzuständigen Instanz zu bilden, indem… die Wissenschaftler
begannen, sich als gesellschaftlicher Stand festzusetzen.
Descartes hatte mit seiner Unterscheidung der Zwei Substanzen[6]
die Physik aus den Fesseln der Theologie befreit und der
Naturwissenschaft einen gewaltigen Aufschwung beschert. Aber er hatte
einen Zwiespalt in die Welt gesetzt, der das Denken beunruhigte. Spinoza[7] hatte den Zwiespalt behoben, indem er die res cogitans ihrerseits als extensa, oder richtiger: als ‚sich ausdehnend’ definiert hatte.[8] Doch in dieser more geometrico rekonstruierten Welt war alles nur ‚Gesetz’ und ‚Determination’.
Die
Individualität, die doch, diesseits aller theoretischen Kon- und
Rekonstruktion, zu den lebenspraktisch vordringlichen Realitäten gehört,
ging unter. Das ‚Ich’ in eine mathematisch erfaßte Welt wieder
einzuführen, war das Hauptanliegen von Leibniz.[9]
Außer einer ausgedehnten, unendlich teilbaren Materie müsse es wohl
noch „wesentliche Einheiten“ geben, die den toten Stoff zu etwas
Wirklichem formen. „Man könnte sie metaphysische Punkte nennen: sie
haben etwas Lebendiges und eine Art Wahrnehmung“.[10]
Die charakteristische Form ihrer Wahrnehmung ist die mathematische:
weil „bei der ersten Hervorbringung der Dinge eine gewisse göttliche
Mathematik oder ein metaphysischer Mechanismus zur Anwendung kommt“.[11] Diese ‚Monaden’[12] sind geistige Einheiten und sind das eigentlich Reale.
Diese
Metaphysik war gewaltsam konstruiert, und Leibniz macht kein Hehl
daraus, daß sie weniger auf Gründen beruht als auf Motiven: Sie kommt
ihm „vorteilhaft“ und „schön“ vor.[13] Doch
läßt sie sich nachträglich rechtfertigen, indem man sie zu einem –
gewissermaßen selbsttragenden – logischen System ausbaut: Wenn alle
Teile zusammenpassen, muß das Ganze wohl stimmen. Diesen Ausbau besorgte
Christian Wolff,[14]
der damit in Deutschland zum beherrschenden Denker seines Jahrhunderts
wurde. Rationalismus hieß: die Welt mit Worten ausmessen – und das war
„Aufklärung“! Die zahllosen Adepten des ‚Wolff-Leibniz’schen Systems’
machten sich über jeden Winkel der Welt und der Vorstellung her und
meinten, eine Sache begriffen zu haben, sobald sie sie definieren
konnten. Seither bedeutet Vernunft in Deutschland: sehr, sehr viele
Wörter.
Kopernikanische Wende
Als Doktrin scheint Philosophie garnicht nötig,
sondern als Kritik.
Kant
Und dann kam Émile.
Immanuel Kants Kritiken gehen unmittelbar auf diesen Anstoß – nein: auf
diesen Stoß zurück. Die Aufklärung wandte sich auch hier gegen sich
selbst. Kant hatte Jahrzehnte lang selber das Wolff’sche System gelehrt;
unzufrieden zwar mit seinen schwachen Gründen, aber wo war die
Alternative? Bei Rousseau hat er den Anhaltspunkt gefunden, auf dem die
Vernunft neu bauen konnte: das ‚transzendentale Ich’ und seine Freiheit.[15]
Das war die „kopernikanische Wende“ der Philosophie, die sich seit
Descartes angebahnt hatte: Nicht die Äußerungen eines objektiv Seienden
sind Ursache unseres Wissens, sondern die eigenen Leistungen eines
Subjekts, dem nichts Gegebenes selbstverständlich ist und das sich
seiner guten Gründe auf Schritt und Tritt immer wieder versichern muß.
Kants Kritiken schlugen in Deutschland ein wie zuvor der Émile in Europa.
Eine systematische Gesamtdarstellung seiner Philosophie ist ihm nicht
mehr gelungen, sein Werk liegt in Einzelteilen und Bruchstücken vor.
Halbheiten und Widersprüche blieben da nicht aus und haben sogleich den
lebendigsten Teil der akademischen Jugend zum Selberdenken angespornt.
Ausgerech-net für die Pädagogik hatte Kant aus seiner Freiheitslehre am
wenigsten Konsequenzen gezogen. In seinen eignen Vorlesungen[16]
macht er sich zum Echo seines gehässigen Erzfeindes Herder: „Der Mensch
kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was
Erziehung aus ihm macht.“[17]
Die Radikalen unter Kants Anhängern hatten sich um das Philosophische Journal
gesammelt, das seit 1795 von Friedrich Immanuel Niethammer, seit 1797
gemeinsam mit Johann Gottlieb Fichte herausgegeben wurde und seinen
größten Ruhm, aber auch sein Ende im Atheismusstreit des Jahres
1798/99 finden sollte. Das war die erste wissenschaftliche Publikation,
die theoretische Fragen der Pädagogik in Eigenbeiträgen sowohl wie in
Rezensionen und Literaturberichten regelmäßig behandelt hat. Dort wurde
(m. W. erstmals) aus der offenkundigen Spannung zwischen ‚Freiheit’ und
‚Erziehung’ die Notwendigkeit abgeleitet, Pädagogik zu einer
systematischen Wissenschaft zu entwickeln.[18]
Das
neue Interesse an Pädagogik war nicht nur philosophisch. Die geistige
Situation Deutschlands wurde durch ein Phänomen geprägt, dessen Spuren
wir bis heute tragen: das Aufkommen eines „akademischen Proletariats“ –
Sturm und Drang und die Romantik wären ohne das gar nicht denkbar.
Die
deutschen Universitäten entließen weit mehr Absolventen, als das
bürgerlich unterentwickelte Land gebrauchen konnte. Die erste Station
auf dem Weg des Jungakademikers in eine öffentliche Anstellung – oder in
die Verlumpung – war regelmäßig der Posten eines Hauslehrers. Weder
Kant noch Hegel blieb sie erspart, und Hölderlin hat sie um den Verstand
gebracht. Doch Fichte
hatte etwas daraus gemacht. Er war in die Schweiz gegangen und hatte
die Gelegenheit genutzt, um die Bekanntschaft Pestalozzis zu suchen. Auf
dem Höhepunkt des Atheismusstreits konnte er daher schreiben, eine
Philosophie sei „nicht eher vollendet, bis sie pädagogisch wird“.[19] Oder anders, nur als vollendete Philosophie ist Pädagogik zu vertreten!
Freilich
nicht als eine positive Lehre, deren einzelne Sätze als
Verhaltensregeln taugen. „Unser philosophisches Denken bedeutet nichts
und hat nicht den mindesten Gehalt. Und es ist nicht einmal Mittel, das
Leben zu bilden. Es ist lediglich Mittel, das Leben zu erkennen.“ Der
Philosophie „Hauptnutzen ist negativ und kritisch. Ihr Einfluß auf die
Gesinnung des Menschengeschlechts ist, daß sie ihnen Kraft, Mut und
Selbstvertrauen beibringt, indem sie den Menschen auf seine eignen Füße
stellt.“[20]
In der Erziehung geht es darum, „die innere Kraft des Zöglings nur zu
entwickeln, nicht aber ihr die Richtung zu geben. Die Erziehung muß sich
erst bescheiden, mehr negativ zu sein als positiv; nur Wechselwirkung
mit dem Zögling, nicht Einwirkung auf ihn.“[21]
Die Entdeckung des Ästhetischen
Es gibt keine Wissenschaft
des Schönen, sondern nur Kritik.
Kant
Einer der ersten und eifrigsten Hörer Fichtes war Johann Friedrich Herbart [22] gewesen. Er hatte zu seinem engeren Kreis gehört, der Jenenser Gesellschaft freier Männer.
Von seiner Philosophie hat er sich bald abgewandt, aber seinem Weg zu
Pestalozzi ist er gefolgt. Er wurde Hauslehrer in Bern, und die Freude
daran hat ihn fürs Leben geprägt. Bei seiner ersten pädagogischen
Schrift handelt es sich um einen Kommentar zu Pestalozzis Idee eines ABC der Anschauung.[23]
Im Anhang zu deren 2. Auflage 1804 formuliert er, bevor er noch die
Allgemeine Pädagogik ‚aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet’ hatte,[24] seine pädagogische Grundeinsicht, die seither hätte Epoche machen sollen und es künftig sicher tut: Das Hauptgeschäft der Erziehung ist die ästhetische Darstellung der Welt.[25]
So schräg das noch heute klingt, so bieder lautet aber der erste Satz
seiner Abhandlung: „Man kann die eine und ganze Aufgabe der Erziehung in
dem Begriff Moralität fassen“. Die Aufgabe – Moralität; das
Geschäft – ästhetische Darstellung? Einen dieser Begriffe, oder alle
beide, muß Herbart wohl in einem sehr eignen Sinn verwenden.
‚Ästhetik’ ist, wie ‚Bildung’,[26] eine typisch-deutsche Prägung. Sie wurde von A. G. Baumgarten eingeführt. Das Werk, das diesen Titel trägt,[27]
ist ein charakteristisches Produkt der Wolff’schen Schule: Wörter
werden durch Wörter bestimmt. Ästhetik wird, der griechischen Wurzel
gemäß,[28]
als Wissenschaft des sinnlichen Erkennens definiert, aber darunter sind
sowohl die Theorie der schönen Künste als auch die „untere
Erkenntnislehre“, das Wissen von den Sinnesreizen gefaßt, und diese
Vieldeutigkeit blieb den ästhetischen Debatten bis heut erhalten. Kant
hat das Ästhetische in seine kritische Erkenntnistheorie aufgenommen und
in Gestalt der Urteilskraft als eine Art Mittelglied zwischen das
theoretische Vermögen (das auf Erkenntnis des Seienden gerichtet ist)
und das praktische Vermögen (das ‚aus Freiheit’ postuliert, was sein
soll) geschoben;[29]
ohne daß immer klar würde, ob es sich dabei um ein selbständiges
Drittes handelt oder um einen Übergang oder um eine Schnittmenge. Oder
womöglich um die höhere Einheit? (So hat Fichte sie genommen.)
„Urteilskraft ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken.“[30]
Was ist daran ästhetisch? Ästhetisch wird es, wenn das Allgemeine als
der Zweck, als die höhere Bestimmung des Besondern aufgefaßt wird:
„Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie,
ohne Vorstellung eines Zwecks, an ihm wahrgenommen wird.“[31]
Schönheit ist Zweckmäßigkeit ohne Zweck; oder schön ist, was als Zweck
seiner selbst erscheint – und so gerät das Ästhetische in ganz intime
Nähe zum ‚Sinn der Welt’! Denn immerhin erscheint unserm theoretischen
Verstand die ganze Natur „so, als ob“ sie zweckmäßig eingerichtet sei; so, daß immer eins genau zum andern paßt; so, als ob sie nach einem Plan gemacht ist.[32]
Das ist zunächst einmal eine nützliche Fiktion, wenn es darum geht, die
Dinge der Welt industriell brauchbar zu machen, und rechtfertigt sich
durch den Erfolg. Aber abgesehen davon? Abgesehen davon erscheint die
Zweckmäßigkeit der Welt ohne Zweck. Es ist eine ästhetische Idee, die
unserer Umgangssprache als Sinn geläufig ist. „Unter einer
ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der
Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend
ein bestimmter Gedanke, d. h. Begriff adäquat sein kann, die folglich
keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.“[33]
Die Einbildungskraft ist nämlich das „produktive Erkenntnisvermögen“,
ihr Geschäft ist die „Schaffung gleichsam einer andern Natur aus dem
Stoff, den ihr die wirkliche gibt.“[34]
Die andere, unstoffliche, überwirkliche ‚Natur’, das ist die Welt des
Sinns; des moralischen, des ästhetischen – gleichviel: „Das Schöne ist
das Symbol des Sittlichen.“[35]
Die Kritik der Urteilskraft
war ein Nachzügler, die dritte der Kritiken, und führte den Autor zu
Ergebnissen, die er nicht erwartet hatte. Den erwähnten Halbheiten und
Widersprüchen fügte sie das ihre hinzu. Die obige Darstellung ist nicht
bloß eine Raffung, sondern eine Interpretation. Andere sind möglich; ob
sie aber schlüssiger wären? Diese hier tut dem Geschmack des Autors
immerhin keine Gewalt: hatte er doch seinen Abfall vom
Wolff-Leibniz’schen System mit den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen[36]
eingeleitet, wo er sich – halb versuchsweise und tändelnd – an die
Kunst- und Schönheitsmetaphysik des Grafen Shaftesbury anschloß.[37] Jedenfalls wurde die Kritik der Urteilskraft zu so etwas wie der Geburtsakte von Romantik und ‚Wissenschaftslehre’.
Schillers Spieltrieb
Es gibt keinen andern Weg,
den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen,
als daß man denselben zuvor ästhetisch macht.
Schiller
Vermittelnd
trat Friedrich Schiller dazwischen. Sein Interesse am Ästhetischen ist
von vornherein nicht bloß theoretisch, sondern politisch und
pädagogisch. Seine Ästhetische Erziehung des Menschen entstand 1793/94 und rechtfertigt seine Abkehr von der (französischen) Revolution.[38] Die Kritik an der bürgerlichen
Gesellschaft ist ungebrochen, er knüpft weiterhin an Rousseau an: „Die
Kultur, weit davon entfernt, uns in Freiheit zu setzen, entwickelt mit
jeder Kraft, die sie in uns ausbildet, nur ein neues Bedürfnis,“[39]
das uns gefangen nimmt, indem es das System der Arbeitsteilung
hervorbringt, das den Menschen vereinseitigt und auf einen bestimmten
Beruf festlegt. „Wir sehen ganze Klassen von Menschen nur einen Teil
ihrer Anlagen entfalten, während dass die übrigen, wie bei verkrüppelten
Gewächsen, kaum in matter Spur angedeutet sind. Ewig nur an ein
einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der
Mensch selbst nur als ein Bruchstück aus“ und wird dabei „bloß zum
Abdruck seines Geschäfts“.[40]
Schiller erkennt aber auch den Fortschritt darin: „Die mannigfaltigen
Anlagen im Menschen zu entwickeln, war kein anderes Mittel, als sie
einander entgegenzusetzen. Dieser Antagonism der Kräfte ist das große
Instrument der Kultur. Einseitigkeit in Übung der Kräfte führt zwar das
Individuum unausbleiblich zum Irrtum, aber die Gattung zur Wahrheit.“[41]
Soll
nun im Gattungsinteresse das Individuum dazu verurteilt bleiben, „über
irgend einem Zwecke sich selbst zu versäumen“? Wenn die Kultur mit ihren
Künsten die Verkümmerung der Individuen unausweichlich machte, dann
gilt es, durch eine „höhere Kunst“ die Totalität der Person
wiederherzustellen.[42]
Wer soll das tun, und wie? Die Revolution hatte alle Hoffnung auf den
Staat gesetzt, aber die Menschen waren für die Freiheit noch nicht reif,
die Republik wurde zur „Tyrannei gegen das Individuum“, bis es sich am
Ende gar zur alten Unterdrückung zurück-sehnen mochte![43]
Der Staat fällt als Mittel der Befreiung aus. Umgekehrt, ein freier
Staat wird erst möglich, wenn die Individuen zur Freiheit gebildet sind.
„Man müßte also zu diesem Zwecke ein Werkzeug aufsuchen, welches der
Staat nicht hergibt.“ Da er selber Künstler war, mußte Schiller nicht
lange suchen: „Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst.“[44]
Die
Doppelnatur des Menschen, mal Natur-, mal Vernunftwesen, kommt in
seiner zwiespältigen Triebstruktur zum Ausdruck: Dem „sinnlichen Trieb“,
der auf die Befriedigung der Bedürfinisse in der Zeit gerichtet ist,
steht ein „Formtrieb“ gegenüber, der auf die – logische und moralische –
höhere Bestimmung des Menschen in der Ewigkeit zielt. Der eine kommt
aus dem prallen Leben, der andre reißt ihn über dessen Verstrickungen
hinaus. Nur seinem sinnlichen Trieb preisgegeben, bleibt der Mensch eine
Art Gemüse. Nur dem Formtrieb verfallen, erstirbt er dem Leben. Doch es
gibt ein Drittes, „in welchem beide verbunden wirken“: der Spieltrieb. [45]
Der Gegenstand des sinnlichen Triebs heißt Leben, der des Formtriebs
heißt Gestalt; „der Gegenstand des Spieltriebs wird also lebende Gestalt
heißen können – ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten
der Erscheinung und dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt,
zur Bezeichnung dient“.[46]
Im Spiel sind beide Naturen des Menschen zwanglos vereint, indem
„gerade das Spiel und nur das Spiel es ist, das ihn vollständig macht
und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet. Mit dem Angenehmen“ – dem
Gegenstand des Bedürfnisses, – „mit dem Guten und Vollkommenen“ – dem
Gegenstand des Formtriebs – „ist es dem Menschen nur ernst“, und wer
kann das aushalten? „Aber mit der Schönheit spielt er. Der Mensch soll
mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit
spielen. Er spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist,
und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“[47]
Dann – mit dem 19. Brief – bricht Schiller seinen Gedankengang plötzlich ab. Soeben hat er Fichtes „Wissenschaftslehre“ gelesen.[48]
Die beiden ‚Triebe’ läßt er nun beiseite, als legten sie einander
brach: „Die Entgegensetzung zweier Naturnotwendigkeiten gibt der
Freiheit ihren Ursprung”! Seither gibt es „in dem Menschen keine andere
Macht als seinen Willen“. Jene „mittlere Stimmung“, wo die Triebe
verstummen und der Mensch in seinen ursprünglichen „negativen Zustand
der bloßen Bestimmungslosigkeit“ zurückkehrt, diesen „Zustand der realen
und aktiven Bestimmbarkeit“ muß man „den ästhetischen heißen“. „In dem
ästhetischen Zustand ist der Mensch also Null“,
nämlich „an Inhalt völlig leer“, und findet sich in der Freiheit
wieder, „aus sich selbst zu machen, was er will. Das Vermögen, welches
ihm in der ästhetischen Stimmung zurückgegeben wird“, ist „als die
höchste aller Schenkungen zu betrachten“, und es ist „nicht bloß
poetisch erlaubt, sondern auch philosophisch richtig, wenn man die
Schönheit unsre zweite Schöpferin nennt.“[49]
Produktive Einbildungskraft
Das Anschauen, im Gegensatz zum Gefühl,
ist Tätigkeit.
J. G. Fichte
Das
war das erstemal, daß der Erziehung ein gesellschaftspolitischer Zweck
zugemutet wurde, und natürlich geschah es auf deutschem Boden, in
deutscher Sprache. Immerhin, Ort dieser Pädagogik ist der ästhetische
Zustand, und ihr Medium ist das Spiel – das wär so ein schlechter Ansatz
nicht gewesen. Das war es auch nicht, was den von Schiller namentlich
in Anspruch genommenen Fichte auf den Plan rief. Erst vor wenigen
Monaten hatte er Skandal gemacht, als er – der einzige namhafte Deutsche
– die französische Revolution auch nach dem jakobinischen Terror noch
uneingeschränkt gerechtfertigt hatte.[50] Sollte er sich jetzt als Zeugen für deren Vergeblichkeit aufbieten lassen? Für Schillers Horen
verfaßte er eine eigne ästhetische Abhandlung „Über Geist und Buchstab
in der Philosophie“ – die den politischen Streitpunkt nicht hinter dem
philosophischen versteckt: Nicht müssen die Menschen erst ästhetisch
gebildet werden, um sie zur Freiheit zu befähigen, sondern umgekehrt:
Erst müssen sie frei werden – von der materiellen Not zumal -, um zu
ästhetischer Bildung die Muße zu finden.
„Selbst
die Erkenntnis wird zunächst nicht um ihrer selbst willen, sondern für
einen Zweck außer ihr gesucht. Mit der Kargheit der Natur haben wir
nicht Zeit, bei der Betrachtung der Dinge um uns herum zu verweilen;
emsig fassen wir die brauchbaren Beschaffenheiten derselben auf, um
Nutzen
von ihnen zu ziehen. Das Menschengeschlecht muß erst zu einem gewissen
äußern Wohlstand und zur Ruhe gekommen sein, ehe dasselbe ohne Absicht
auf das gegenwärtige Bedürfnis – und selbst mit der Gefahr, sich zu
irren – beobachten, bei seinen Beobachtungen verweilen und unter dieser
müßigen und liberalen Betrachtung den ästhetischen Eindrücken sich
hingeben kann. Wenn es von der einen Seite nicht ratsam ist, die
Menschen freizulassen, ehe ihr ästhetischer Sinn entwickelt ist, so ist
es von der andern Seite unmöglich, diesen zu entwickeln, ehe sie frei
sind; und die Idee, durch ästhetische Erziehung den Menschen zur
Würdigkeit der Freiheit und mit ihr zur Freiheit selbst zu erheben,
führt uns im Kreise herum, wenn wir nicht vorher ein Mittel finden, in
Einzelnen aus der großen Menge den Mut zu erwecken, niemandes Herren und
niemandes Knecht zu sein“.[51]
Anders
als Schiller hat Fichte nie eines Fürsten Gunst erworben und hat das
Proletarierkind nie verleugnet. Die Lehre von den drei Trieben ähnelte
zu sehr den tatsächlichen Klassenverhältnissen – die Arbeit den einen,
das Denken den andern; dazwischen, spielend überlegen, der Artist. Zweck
der Arbeit und wahrer Reichtum war ihm vielmehr „die Muße, die Allen
nach vollbrachter Arbeit bleibt“, denn „in dieser Ruhe Eures Körpers
werdet Ihr, so Gott will, durch Langeweile genötigt werden, an Euern
Geist zu denken, zu bemerken, daß ihr einen habt“, heißt es noch in
seinen letzten Vorlesungen.[52] So unterscheidet sich der Sozialrevolutionär vom Höfling. Schiller hat seinen Aufsatz in den Horen nicht gebracht, Fichte mußte ihn Jahre später im Philosophischen Journal selbst veröffentlichen.[53]
Ein
philosophischer Unterschied war auch da. Fichte hatte die wie in
erratischen Brocken verstreut daliegende Kant’sche Kritik in der Wissenschaftslehre
radikalisiert und zu einem System gebildet. Die Lehre von den Vermögen
war eine Halbheit. „Alle besonderen Triebe und Kräfte im Menschen sind
lediglich besondere Anwendungen der einzigen unteilbaren Grundkraft im
Menschen“ – die indes nicht als eine bio- oder psychologische Tatsache
vor uns liegt: Wahrnehmbar ist immer nur ihre jeweilige Wirkung, und
„von dieser schließen wir auf die Ursache im selbsttätigen Subjekt
zurück, und lediglich auf diese Weise gelangen wir zur Idee vom Dasein
jenes Triebes“ – er wird nicht ‚erkannt’, sondern erschlossen.[54]
„Der
Strenge nach ist aller Trieb praktisch, da er zur Selbsttätigkeit
treibt, und in diesem Sinne gründet alles im Menschen sich auf den
praktischen Trieb, da nichts in ihm ist, außer durch Selbsttätigkeit.“[55]
Solange freilich die Notdurft den Menschen an sein Bedürfnis fesselt,
zielt der Trieb nur auf die ‚brauchbaren Beschaffenheiten’ der Dinge,
und macht bloß Erfahrung. „Sowie jene dringende Not gehoben ist und
nichts mehr uns treibt, den möglichen Geisteserwerb gierig
zusammenzuraffen, um ihn sogleich wieder für den notwendigen Gebrauch
ausgeben zu können, erwacht der Trieb nach Erkenntnis um der Erkenntnis
willen. Wir fangen an, unser geistiges Auge auf den Gegenständen
hingleiten zu lassen, und erlauben ihm, dabei zu verweilen; wir
betrachten sie von mehreren Seiten, ohne gerade auf einen möglichen
Gebrauch derselben zu rechnen; wir wagen die Gefahr einer zweifelhaften
Voraussetzung, um in Ruhe den richtigen Aufschluß abzuwarten. Wir wagen
es, etwas anzulegen an Versuche, die uns mißlingen können. Es entsteht
Liberalität der Gesinnung – die erste Stufe der Humanität. Unter dieser
ruhigen und absichtslosen Betrachtung der Gegenstände, indes unser Geist
sicher ist und nicht über sich wacht, entwickelt sich ohne alles unser
Zutun unser ästhetischer Sinn“ – zunächst noch am Leitfaden der
Wirklichkeit. Doch schließlich „erhebt sich denn bald die dadurch zum
Geist der Freiheit erzogene Einbildungskraft zur völligen Freiheit.
Einmal im Gebiet des ästhetischen Triebes angelangt, bleibt sie in
demselben, und stellt Gestalten dar, wie sie gar nicht sind, aber nach
der Forderung jenes Triebes sein sollten: und dieses freie
Schöpfungsvermögen heißt Geist. Der Geschmack beurteilt das Gegebene,
der Geist erschafft. Nur der Sinn für das Ästhetische ist es, der in
unserem Innern uns den ersten festen Standpunkt gibt.“[56]
Den
Seins-Urteilen des theoretischen Vermögens gehen die Sollens-Urteile
des praktischen Vermögens voran. Dem zu Grunde liegt die Urteilskraft –
als das Vermögen der qualifizierenden Anschauung. Sie ist schlechthin
produktiv: ihren Stoff und ihre Form gibt sie sich selbst; sie ist
einbildend. Alles, was wir vorfinden, begegnet uns als Etwas oder als
etwas Anderes. Daß es ist, haben wir nicht bestimmt, aber was es ist;
und anders ‚gibt es’ gar nichts.
„Die
Einbildungskraft setzt überhaupt keine feste Grenze; denn sie hat
selbst keinen festen Standpunkt. Nur die Vernunft setzt etwas Festes –
dadurch, daß sie erst selbst die Einbildungskraft fixiert.
Die Einbildungskraft ist ein Vermögen, das zwischen Bestimmung und
Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem und Unendlichem in der Mitte
schwebt.“ Was der reflektierende Verstand als seine Gegenstände
vorfindet, ist ihr Produkt: „Sie bringt dasselbe gleichsam während ihres
Schwebens und durch dieses Schweben hervor.“ Ohne sie gäbe es für uns
keine Wirklichkeit, zu der wir uns verhalten könnten, und insofern ist
die Wirklichkeit nicht ‚gegeben’, sondern gemacht. „Im praktischen Felde
geht die Einbildungskraft fort ins Unendliche, bis zu der schlechthin
unbestimmbaren Idee der höchsten Einheit, die nur nach der vollendeten
Unendlichkeit möglich wäre, welche selbst unmöglich ist.“ Nach ihrer
äußeren Grenze hin ist die Wirklichkeit daher problematisch. Doch auch
von ihrem Grunde her. Die produktive Einbildungskraft ist nichts anderes
als die Ichheit selbst, und auch die ist nicht ‚gegeben’, sondern
lediglich aus ihren Taten erschlossen: Weil wir wirklich anschauen,
müssen wir denken, daß wir es konnten; daß ein Vermögen da war vor der
Tat. Aber das ist ein „durch die Spontaneität des Reflexionsvermögens
künstlich hervorgebrachtes Faktum“. ‚Wirklich’ ist das Einbilden; das
vorauszusetzende ‚Subjekt’ ist ihm nachträglich hinzugedacht. „Das
Vorausgesetzte läßt sich nur durch das Gefundne, und das Gefundne läßt
sich nur durch das Vorausgesetzte erklären.“[57]
Das Ich ist keine vorfindliche Substanz; es ‚ist’ überhaupt nur, sofern es einbildet.
Indes,
das alles ist nur Philosophie. Fürs Leben bedeutet es fast gar nichts.
Doch gibt es eine Stelle, wo die Philosophie „übergeht“ ins wirkliche
Leben, und das ist „die Ästhetik“. Aus dem gewöhnlichen Gesichtspunkt
sowohl des Lebens als auch der reellen Wissenschaft erscheint die Welt
als gegeben, dem philosophischen Gesichtspunkt erscheint sie als
gemacht; „auf dem ästhetischen erscheint die Welt als gegeben, so als ob
wir sie gemacht hätten und wie wir sie machen würden.“[58]
Und zwar ist das die Stelle, wo sich die schöne Kunst befindet: Diese
„bildet nicht, wie der Gelehrte, nur den Verstand, oder wie der
moralische Volkslehrer, nur das Herz; sondern sie bildet den ganzen
vereinigten Menschen. Das, woran sie sich wendet, ist nicht der
Verstand, noch ist es das Herz, sondern es ist das ganze Gemüt. Sie
macht den transzendentalen Gesichtspunkt zu dem gemeinen.“[59]
Und wer wäre empfänglicher dafür als „unsere eigenen Kinder“, indem
ihnen „von Natur ein leichter Sinn beiwohnt für das Zeitliche“! [60] So soll man es auffassen, daß die Philosophie vollendet, nämlich pädagogisch wird.
Dies
sei „eine radikale Künstlerphilosophie“, wurde gesagt. „Und die
Romantiker verstanden sie und machten Fichte zu ihrem Propheten.“[61]
Die Brüder Schlegel waren in seinen Vorlesungen, auch Novalis und
Brentano. Und Hölderlin. „Ich bin überzeugt, daß der höchste Akt der
Vernunft, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist, und daß
Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind“, heißt es im
Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus. „Ehe wir die
Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk
kein Interesse, und umgekehrt: ehe die Mythologie vernünftig ist, muß
sich der Philosoph ihrer schämen.“[62]
Herbarts Geschmack
Der sittliche Geschmack ist nicht verschieden von
dem poetischen, musikalischen, plastischen Geschmack.
Joh. Fr. Herbart
Wie weit er den Begriff des Ästhetischen fasse, könne Schiller sich nicht einmal vorstellen, schrieb Fichte [63];
der Atheismusstreit hat ihn dann vom Wege abgebracht. Kant hatte die
Urteilskraft noch zu einem verschämten philosophischen Gottesbeweis
benutzt. Wir müßten so urteilen, als ob „in der Natur gar nichts ohne
Zweck sei. Allein, den Endzweck der Natur suchen wir in ihr vergeblich.“
Als dessen Gewährsmann dient ihm Gott: „Folglich müssen wir eine
moralische Weltursache (einen Welturheber) annehmen, um uns einen
Endzweck vorzusetzen.“[64]
Fichte hatte für diesen gewundenen „Schluß vom Begründeten auf den
Grund“, auf „ein besonderes Wesen als die Ursache desselben“, nur Spott
übrig: „Die moralische Ordnung ist das Göttliche, das wir
annehmen! Es wird konstruiert durch das Rechttun. Jene lebendige und
wirkende moralische Ordnung ist selbst Gott; wir bedürfen keines anderen
Gottes und können keinen andern fassen.“[65] Eine Moral, die auf einen Garanten für ihren Erfolg rechnet, ist keine.
Mit
dem Verzicht auf einen ‚Schöpfer’ ist freilich der Rangunterschied
zwischen Ethik und Ästhetik eingeebnet. Unsere Neigung, moralischen
Urteilen einen logisch höheren Wert zuzuschreiben als ästhetischen,
beruht auf einer heimlichen theologischen Prämisse: daß nämlich diese
den Absichten unseres Schöpfers gewissermaßen ‚näher stehen’ als jene.
Fällt diese Prämisse fort, unterscheiden sie sich nur noch hinsichtlich
ihres Anwendungsfelds; denn autonome Werturteile sind sie beide.
Johann
Friedrich Herbart hat diesen Schluß ausdrücklich gezogen. In unserem
Vorstellen kommen Bestimmungen vor, bei denen „das Denken nicht bei
bloßer Verdeutlichung still stehen kann“, sondern vielmehr „einen Zusatz
herbeiführt, der in dem Urteile des Beifallens oder Mißfallens
besteht“: Das gilt für Ethik und Ästhetik gleichermaßen; indem sie
gemeinsam auf „Wertbestimmungen durch Lob und Tadel beruhen“, fallen sie
„in eine Hauptklasse zusammen“. Dabei umfaßt der Begriff der Ästhetik
den weiteren Geltungsbereich, er bezieht sich auf alle denkbaren
Verhältnisse; die Ethik dagegen nur auf „gefallende und mißfallenden
Willensverhältnisse“. Ästhetik und praktische Philosophie verhalten sich
so zu einander, „daß jene die weitere, diese die engere Sphäre sei“.[66]
Das
spezifisch ästhetische Vermögen ist der Geschmack. „Nicht in der Masse,
sondern in den Verhältnissen liegt der ästhetische Wert.“[67]
Ge-schmack ist „nichts anderes als der allgemeine Name für die
Beurteilung einzelner Verhältnisse“. Das spezifisch moralische Vermögen
ist folglich sittlicher Geschmack. „Der sittliche Geschmack, als
Geschmack überhaupt, ist nicht verschieden von dem poetischen,
musikalischen, plastischen Geschmack. Aber spezifisch verschieden ist
der Gegenstand“: Was zu beurteilen ist, liegt „hier außer uns, dort in
uns selber“.[68]
Das Gute ist das „sittlich Schöne“, doch spricht der Geschmack jeweils
nur im einzelnen Fall, „in lauter absoluten Urteilen, ganz ohne Beweis.
Für verschiedene Gegenstände gibt es ebensoviele ursprüngliche Urteile,
die sich nicht aufeinander berufen, um logisch auseinander abgeleitet zu
werden.“[69] Sittliche Bildung ist Geschmacksbildung – und umgekehrt.
Allerdings
– eine Einbildungskraft kommt bei Herbart nicht vor; überhaupt kein
produktives Vermögen. „Die Vernunft vernimmt; und sie urteilt, nachdem
sie vernahm.“[70]
Das intellektive Vermögen des Menschen ist rein rezeptiv; Herbart hat
mit der kritischen Philosophie gebrochen! Es heißt, Herbart sei ein
realistischer Denker gewesen. Nur bedeutet das im philosophischen
Gebrauch so etwa das Gegenteil wie in der Umgangssprache. Hier beziehen
sich ‚Realismus’ und ‚Idealismus’ allein auf die Frage nach der Herkunft
unserer Erkenntnis. Realistisch heißt jene Lehre, wonach der
Erkenntnisvorgang in den Dingen selbst (lat. res) seinen Ausgang nimmt, indem sie ihre Qualitäten in unser Bewußtsein prägen. Zuerst hat Plato diese Lehre ausgesprochen. Seine Ideen waren ebenjene ‚Dinge’, die sich in unserm Geiste abbilden;[71] jeder ‚Realist’ ist immer auch irgendwie Platoniker. Idealistisch (von gr. ideîn,
sehen) heißt dagegen die Auffassung, wonach das Erkennen in einem Akt
des Erkennenden seinen Ursprung hat. Und ‚kritisch’ nannten Kant und
Fichte ihren Idealismus, weil sie diesen Akt nicht spekulativ behaupten,
sondern phänomenologisch ergründen wollten.[72]
Das Ding, in dem Herbarts Erkenntnis seinen Ausgang nimmt, nennt er ein Reale (Pl. die Realen).[73]
Es ist eine geistige Größe, ein „metaphysischer Punkt“ wie Leibniz’
Monade, und hat mit der materiellen Welt aber auch gar nichts zu tun:
„Diese Welt ist eine Scheinwelt. Sie gehorcht der Mathematik und lebt,
wie diese, von Widersprüchen. Als ein wahres Reales kann Materie
ebensowenig gedacht werden, wie Bewegung als ein wirkliches Geschehen;
aber die Gesetzmäßigkeit des Scheins aus dem Realen zu erklären, das
läßt sich leisten.“[74] Das erinnert stark an Platos Höhlengleichnis[75] und begründet die Kehrtwendung zur Leibniz’schen Spekulation – auf höherer Ebene. Doch während Plato uns an den Ideen immerhin ‚teilhaben’ ließ, bleiben uns Herbarts Realen so unzugänglich wie Kants Ding-an-sich.[76] Er müsse wohl den transzendentalen Gedanken nie ganz verstanden haben, mutmaßte Fichte.[77]
Tatsächlich hat er ihn für eine Art Skeptizismus höherer Ordnung
gehalten, durch den ein tüchtiger Kopf wohl hindurch gehen, wo er aber
nicht stehen bleiben mußte.[78]
Des Reflektierens müde, kehrte auch Herbart ‚hinter Sokrates zurück’.
Doch nicht (um, wie Nietzsche, die Metaphysik zu begraben) zum
bodenlosewigen Werden des Heraklit, sondern (um die Metaphysik zu
restaurieren) zum festen Halt am ewigen Sein der Eleaten;[79] mit trocknem Witz vorgetragen, aber blutig ernst gemeint.
Auf
seinen Schöpfer verzichtet das neubarocke System nicht: „Gott, das
reelle Zentrum aller praktischen Ideen und ihrer schrankenlosen
Wirksamkeit, der Vater der Menschen und das Haupt der Welt“.[80]
Nicht als vorgestellter Zeuge allgemeiner Zweckmäßigkeit ohne Zweck,
sondern als wirkende Kraft, deren „unfehlbarer Erfolg“ im Gemüt der
leibhaftigen Menschen „ebenso notwendig“ ist wie die ursächlichen
Wirkungen „in der Körperwelt“![81]
Wirksam
wurde Herbart nicht als Philosoph, sondern als Begründer der
wissenschaftlichen Psychologie und der wissenschaftlichen Pädagogik.
Aber leider hing eins am andern, und das hat die Sache verdorben. Am
wirksamsten wurde seine Pädagogik durch das Falscheste daran. Das war
die Scheidung in einen ‚praktischen’ Teil – der den Zweck darstellt:
„die ästhetische Auffassung der umgebenden Welt“[82] – und einen davon unabhängigen theoretischen Teil, der die Methode
begründet – seine rationalistische Psychologie: „Psychologische
Pädagogik ist rein theoretisch. Sie macht jedes schlechte Verfahren und
sein Wirken ebenso begreiflich als das rechte. So ist sie jedem
brauchbar. Er mag nun seine Zwecke bestimmen, wie er immer will.“[83]
Herbart hat die englische Assoziations- psychologie in Deutschland
eingeführt, allerdings mit einem charakteristischen Zusatz. Er hat sie
dynamisch gemacht – aber vor allem mechanisch, das heißt
mathematisierbar. „Das Merken beruht auf der Kraft einer Vorstellung
gegen die andern, welche ihr weichen sollen, also teils auf ihrer
absoluten Stärke, teils auf der Leichtigkeit des Zurückweichens der
übrigen.“[84]
Vorstellungen gelten ihm als ‚Massen’, die einander verdrängen oder an
einander anknüpfen können, als hätten sie ‚Haken und Ösen’. Das
Verdrängen und Verknüpfen der Vorstellungen steuern – das wäre die
technische Seite der pädagogischen Arbeit.[85]
Herbart
blieb stets ein Gegner der Institution Schule, sein Ideal war der im
familiären Alltag ästhetisierend wirksame Hauslehrer. Solche Feinheiten
bekümmerten die Herbartianer nicht mehr.[86]
Der Zweck der Pädagogik stand fest; Moralität, was sonst? Und die
Methode mußte ja, wenn sie wissenschaftlich war, überall dieselbe sein!
Mit ihrer Pedantisierung des Wie, der technischen Seite der Pädagogik –
ohne Rücksicht auf das Was als ihrem Sinn – begründeten sie die Lernschule
in Deutschland, wie wir sie bis heute kennen. Dem Standesbedürfnis der
Lehrer war das recht. Das wissenschaftliche Interesse an der Pädagogik
hat entweder philosophische oder beschäftigungspolitische Gründe; und wo
nicht die philosophischen vorwalten, tun’s die andern. Denen verdanken
wir die Technologisierung der Pädagogik zur ‚Methode’ und die
leviathanische Erfassung des Heranwachsens durch die Staatsorgane ebenso
wie das akademische Bastardfach ‚Erziehungswissenschaft’ als ihr
Feigenblatt; und unsern Platz auf der Pisa-Skala sowieso.
Noch
eine jede pädagogische Reformbewegung mußte damit beginnen, die Frage
nach dem Was der Erziehung, als ihrem Rechtsgrund, neu aufzuwerfen.
Geschmacksbildung – das ist das Was der Pädagogik, die ästhetische
Darstellung der Welt ist ihr Wie: Herbarts elementare Einsicht
freizulegen unterm technokratischen Gestrüpp, das aus seiner radikal
verfehlten Metaphysik wuchert – das ist die Aufgabe des fälligen
pädagogischen Neuanfangs. Die ästhetische Auffassung der Pädagogik läßt
sich allein kritisch begründen; allerdings auch nur sie.
Anmerkungen
[1] J. F. Herder, Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, (1784-91) Darmstadt 1966
[2] J.J. Rousseau, Émile ou De l’éducation (Amsterdam 1762); dt. Emil oder Über die Erziehung, Paderborn 1971
[3] ebd, S. 72f.
[4] Herder aaO, S. 228; 227
[5] neben Johann Georg Hamann und Friedrich Heinrich Jacobi
[6] s. hierzu J. Ebmeier, Die Grenzen der pädagogischen Vernunft in PÄD Forum: unterrichten erziehen, Heft 3/03, S. 173f.
[7] Benedictus (Baruch) de Spinoza, holländischer Philosoph und Optiker; 1632-1677
[8] Die sich-selber-zur-Welt-ausdehnende denkende Substanz ist niemand anders als ‚Gott’, deus sive natura, und „die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist dasselbe (idem est) wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge“; in: Spinoza, Ethica ordine geometrico demonstrata, (dt./lat.): Die Ethik, Stgt. 1977 (Reclam), II. Teil, 7. Lehrsatz; S. 122f.
[9] Gottfried Wilhelm Leibniz, dt. Philosoph und Mathematiker; 1646-1716
[10] Leibniz, Neues System der Natur in: ders., Fünf Schriften zur Logik und Metaphysik, Stgt. 1966 (Reclam), S. 23
[11] ebd, S. 42
[12] von gr. monás: Einheit
[13] Leibniz aaO, S. 33
[14]
1679 bis 1754; 1740 von Friedrich d. Gr. auf seinen Lehrstuhl in Halle
zurückberufen, von dem ihn 1723 die Pietisten vertrieben hatten.
[15] s. Ernst Cassirer, Kant und Rousseau in: ders., Rousseau, Kant, Goethe, Hbg. 1991 (PhB)
[16]
die so ‚eigen’ allerdings nicht waren; er folgte dabei den Lehrbüchern
anderer Autoren. Sie dürften auch vor dem Erscheinen der Kritiken
entstanden sein.
[17] Immanuel Kant, Über Pädagogik, Werke (Hg. Weischedel), Bd. XII, S. 699
[18] Herr Ritter: Kritik der Pädagogik zum Beweis der Notwendigkeit einer allge-meinen Erziehungswissenschaft
in: Philosophisches Journal, Bd. VIII., 2. Heft (Jena 1798); bei dem
Verf. handelt es sich wohl nicht um Johann Wilhelm R., der sich damals
in Jena aufhielt und dem Kreis um Fichte und die Romantiker angehörte. –
Der Heraus-geber Niethammer selbst wurde mit dem Pamphlet Der Streit des Philanthropinismus und der Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts
(1808; neu: Wein-heim 1968) zum Begründer des sog. Neuhumanismus, der
dann das deutsche Gymnasium beherrschte; da hatte er sich von der
kritischen Philosophie schon abgewandt.
[19] Rückerinnerungen, Antworten, Fragen (März 1799) in: J. G. Fichte, Gesamtausgabe, II. Abt. (Nachlaß) Bd. 5; Stuttgart 1979, S. 125
[20] ebd . S. 118; 122f.
[21] J. G. Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre in: Philosophisches Journal, Bd. VI (1797); neu: Sämtliche Werke Bd. I, Berlin 1971, S. 507
[22] dt. Philosoph und Psychologe, 1776-1842
[23] (1803) Herbart, Sämtliche Werke (Hg. Hartenstein) Bd. 11, Hbg./Lpzg. 1892
[24] ders., Allgemeine Pädagogik, aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet (1806) in: aaO, Bd. 10, 1891; neu u. a.: (Hg. Holstein) Bochum 61983
[25] Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung,
[26]
Die Unterscheidung zwischen Bildung und Ausbildung gibt es nur im
Deutschen; sie stammt, nicht dem Wort, aber dem Sinn nach, von Fr. I.
Niethammer (s. Anm. 18)
[27] Alexander Gottlieb Baumgarten, Aesthetica, 2 Bde. Ff/O 1750/58
[28] gr. aísthesis, Sinneswahrnehmung
[29] Kritik der Urteilskraft in: Kant, Werke (Hg. Weischedel) Bd. 6, Ffm. 1968
[30] ebd, S. 87
[31] ebd, S. 155
[32] ebd, S. 89. – Heute kommt uns die Natur eher als ein Reich der Vergeudung vor, wo auf 1000 Versuche kaum 1 Treffer gelingt.
[33] ebd, S. 249f.
[34] ebd, S. 250
[35] ebd, S. 297
[36] (1764) in: aaO, Bd. 2, S. 823-884
[37]
Anthony Ashley-Cooper, Earl of Shaftesbury (1671-1713); trug seine
Philosophie in dichterischer Form vor; wurde von Francis Hutcheson
(1694-1746) systematisiert: An den knüpft Kant an.
[38] Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In einer Reihe von Briefen, zuerst erschienen in Schillers Zs. Horen; hier zit. nach: Fr. Schiller, Ausgewählte Werke Bd. 6, Stuttgart 1950 (Cotta)
[39] ebd, S. 250
[40] ebd, S. 252f.
[41] ebd., S. 257
[42] ebd, S. 259
[43] ebd, S. 259-261 (7. Brief)
[44] ebd, S. 263
[45] ebd, S. 285
[46] ebd, S. 287
[47] ebd, S. 290f.
[48] Fichtes Grundlagen der gesamten Wissenschaftslehre erschienen seit dem Frühjahr 1794 bogenweise als Handschrift für seine Zuhörer. Neu: Hamburg 1979 (PhB); auch in: Fichte, Sämtliche Werke Bd. I, Berlin 1971. – Beide waren Professoren in Jena, Schiller für Geschichte, Fichte für Philosophie.
49] Schiller aaO, S. 305-310
[50] Der Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution waren 1793 zwar anonym erschienen, aber Fichtes Verfasserschaft war ein offenes Geheimnis; in: ders., SW Bd. VI
[51] ders., Über Geist und Buchstab in der Philosophie; SW Bd. VIII, S. 286f.
[52] System der Rechtslehre (1812), SW Bd. X, S. 543; 537
[53] in Bd. IX (1798)
[54] Über Geist und Buchstab…, aaO, S. 278f.
[55] aaO, S. 279
[56] aaO, S. 288-291
[57] J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, (PhB) S. 136-139; 145
[58] ders., Wissenschaftslehre nova methodo, Hbg. 1982 (PhB), S. 244
59] ders., System der Sittenlehre, SW Bd. IV, S. 353
[60] ders., 2. Rede an die deutsche Nation, SW Bd. VII, S. 287
[61] Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, Bd. II; Mchn 1948; S. 501
[62] hier zit. nach: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke,
Ffm. 1961; S. 1015f. Die Verfasserschaft des ‚Systemprogramms’ ist ein
echt romantisches Mysterium. Es ist in der Handschrift Hegels
überliefert, aber als Autor kommt nur einer in Frage, der unterm Einfluß
Fichtes und des Jenaers Kreises stand – also Hegels Zimmernachbarn
Schelling oder Hölderlin.
[63] Fichte an Schiller, 27. 7. 1795; in: Fichte, Briefe, Bln. (O) 1986, S. 154
[64] Kant, Kritik der Urteilskraft; aaO, S. 417; 413
[65] Fichte, Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung (1798) in Philosophisches Journal Bd. VIII (1798); neu: SW Bd. V, S. 186; 185
[66] ders., Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie (1813); Hamburg 1993, S. 52; 50; 143; 53
[67] ders., Allgemeine Pädagogik…, hier zit. nach: (Hg. Holstein) Bochum 983, S. 103
[68] ders., Allgemeine praktische Philosophie (1808) in: SW Bd. 8, Hamburg 1890, S. 29; 23
[69] ders., Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung; hier zit. nach: Gerhard Müßener (Hg.), S. 108
[70] ebd, S. 107
71] Phaidon IV, 72e-74a
[72]
Mit dem kritischen (‚transzendentalen’) Idealismus ist übrigens eine
andere als eine rein ‚materialistische’, streng auf Erfahrungstatsachen
gegründete Naturwissenschaft nicht vereinbar; geschweige denn eine
übersinnliche ‚Weltursache’.
[73] Herbart, Hauptpunkte der Metaphysik (1806), SW Bd. 3, 1884
[74] ders., Einleitung in die Philosophie, S. 330
[75] Politeia VII, 514a-518b
[76] Streng genommen handelt es sich also gar nicht mal um ‚Realismus’; vgl. W. Windelband/H. Heimsoeth, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen 1950, S. 488
[77] F. an Schelling am 22. 10. 1799; Briefe, S. 270
[78] Herbart, Einleitung…, S. 66-80
[79] gr. Philosophenschule im süditalienischen Elea, im 5. Jhdt. v. Chr.: Xenophanes, Parmenides, Zenon
[80] Herbart, Die ästhetische Darstellung…, S. 118
[81] ebd, S. 103
[82] ebd, S. 115
[83] ders., Aphorismen zur Pädagogik, SW Bd. 11, 1892; S. 430
[84] ders., Allgemeine Pädagogik, S. 89
[85]
H. hat diese technische Seite in einem Gebäude von mathematischen
Gleichungen formalisiert; gemäß dem über Leibniz von Descartes
übernommenen Wissenschaftsprogramm. Vgl. Lehrbuch zur Psychologie (1816); SW Bd. 5, 1886; S. 15-36
[86] an ihrer Spitze Tuiscon Ziller (1817-1882) und Wilhelm Rein (1847-1929)
Zuerst erschienen in PÄD Forum: unterrichten erziehen, Heft 5/31 (Oktober 2003)