Achtjähriges Gymnasium, erhöhter Leistungsdruck und Lehrermangel:
Schule macht Schüler oft krank, warnt der Berufsverband der Kinder- und
Jugendärzte. Was tun?
Von Ines Alwardt
Wäre da nicht immer wieder dieses Gefühl in ihr hochgekrochen,
das sich erst langsam ihre Gedanken und dann ihr ganzes Leben
einverleibte, wahrscheinlich hätte Melanie Heuer sich die letzten zwei
Jahre irgendwie durchgequält. Aber das Gefühl, das auszusprechen sie
vermeidet, ging nicht weg. Es kam immer öfter. Und irgendwann ließ die
Angst sie nicht mehr los. Es ist Mittwochabend, kurz nach sieben, als Melanie Heuer Zeit
hat für ein Gespräch. Das Cheerleading-Training fällt an diesem Tag aus.
Heuer, die eigentlich anders heißt, ist 16 Jahre alt und geht in die zehnte Klasse eines Gymnasiums. Wo, das spielt in dieser Geschichte keine Rolle. Denn solche Geschichten wie die von Melanie Heuer spielen überall. Deshalb soll sie hier nur ein Beispiel sein. Für das, was die
Schule anrichten kann. Dafür, wie sie Kinder und Jugendliche mitunter
belastet und krank macht. Denn wer sich durch die vielen Studien und
Befragungen der letzten Jahre ackert, erkennt eine gemeinsame Tendenz.
Und die macht nur wenig Hoffnung für die Zukunft: "Viele der
gesundheitlichen Störungen von Schülern,
vor allem solche psychischer oder psychosomatischer Art, hängen eng mit
dem System Schule zusammen", sagt der Bildungs- und
Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann von der Hertie School of
Governance in Berlin. Das seelische Leid der Schüler nimmt zu Auch deshalb lädt der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) an diesem Wochenende zum 20. Jugendkongress nach Weimar. Man könnte sagen, er trifft sich da zu einer Art Krisensitzung. "Schule macht krank?!?" lautet das Thema - und es kann wohl eher als Antwort denn als Frage verstanden werden. Die Welle ist längst in die Praxen der Kinderärzte übergeschwappt
- und sie betrifft alle Altersstufen. "Unser Problem ist die zunehmende
Zahl der sogenannten neuen Kinderkrankheiten", klagt Uwe Büsching,
Kinderarzt in Bielefeld und Vorstand im BVKJ. Nicht mehr akute
Kinderkrankheiten wie Masern, Röteln und Mumps seien heute das Problem,
sondern die steigende Zahl an Depressionen, Angst- und Schlafstörungen
sowie psychosomatischen Störungen. Das achtjährige Gymnasium G8,
Inklusion, Lehrermangel - all das ist in den Augen der Ärzte ein Grund
dafür, dass das seelische Leid der Schüler zunimmt. Jeder dritte Schüler klagt über Kopfschmerzen, Schlafprobleme, Gereiztheit Melanie Heuer ist eine gute Schülerin.
Sie sagt sich das in letzter Zeit wieder öfter. Doch immer noch leidet
sie unter der Vorstellung, nicht gut genug zu sein. In zwei Jahren wird
sie im G8 Abitur machen. Vor ein paar Monaten noch war ihr allein der
Gedanke daran zu viel. Alles war zu viel. Das Cheerleading. Die
Klausuren. Die Schule. "Ich dachte einfach nur: Ich kann nicht mehr!",
erzählt sie. Eigentlich machte ihr niemand Druck, eigentlich war es auch
nicht nötig: Dennoch kreisten ihre Gedanken fast zwanghaft um die
nächsten Termine, die nächsten Klausuren, die nächsten Noten. Bis es
nicht mehr ging, sie sich nur noch selbst runtermachte - für alles, was
sie nicht geschafft hatte. Oder, noch schlimmer: für das, was sie hätte
besser machen können. Fast jeder dritte Schüler klagt laut einer Umfrage der Krankenkasse DAK aus dem Jahr 2013 über Kopfschmerzen, Schlafprobleme, Gereiztheit oder Niedergeschlagenheit. Vor allem Mädchen sind betroffen, 40
Prozent der Schülerinnen geben sogar an, mehrmals in der Woche unter
psychosomatischen Beschwerden zu leiden. Eine Studie des Landesamts für
Statistik in Thüringen kommt zu dem Schluss, dass sich die Fälle von
Asthma bei Achtklässlern in den letzten sechs Jahren mehr als verdoppelt
haben. Auch die Anzahl der Verhaltensauffälligkeiten ist
rapide angestiegen. Für die Kinder- und Jugendärzte sind das alarmierende Zeichen.
Seit Jahren kämpfen deutschlandweit Elternverbände für die Abschaffung
des G8, kritisieren Experten, dass Schüler zu wenig Freizeit haben, um
sich zu entspannen und ihre Persönlichkeit auszubilden. Das sieht auch
Rainer Schmidt so, der Geschäftsführer eines Lernförderzentrums in
Gelsenkirchen namens "eLZet!". Er sagt: "Kinder, die früher toleriert
wurden, werden heute mit Medikamenten ruhig gestellt." Vielfach kuriere
man an Symptomen herum; was dahinterstecke, werde viel zu
wenig hinterfragt. Verantwortlich sind auch die Eltern Dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der kurzen
Gymnasialzeit, dem steigenden Leistungsdruck und den Erkrankungen, liegt
für Bildungswissenschaftler Hurrelmann auf der Hand. Eine wichtige
Rolle spiele auch ein Punkt, den vor allem Eltern nicht gerne hören:
"Besonders belastend ist für Kinder das schwelende Gefühl, es könnte
etwas schiefgehen", sagt Hurrelmann. Dass sie sitzen bleiben oder den
Abschluss nicht schaffen. Verantwortlich dafür seien auch die Eltern: "70
Prozent von ihnen erwarten, dass das Kind das Abitur macht", sagt er.
Diese Erwartungen machten die Kinder sich zu eigen. "Und wer sie nicht
erfüllt, fühlt sich als Versager." Bei Melanie Heuer hat die Mutter eingegriffen und für ihre Tochter einen Termin beim Therapeuten gemacht. Trotzdem ist die Schule
für Heuer bis heute oft ein Kampf. Ob ihre Eltern ihr Druck machen
wegen schlechter Noten? Nein. Es sei es andersrum: "Ich setze mich unter
Druck, weil ich Angst habe, dass ich keine Eins kriege", sagt sie. Dann
macht sie eine Pause, bevor sie sagt: "Und davor, dass alle von mir
enttäuscht sind."
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