Sonntag, 22. Juni 2014

Verschwindet die Kindheit?

Ein großes deutsches Publikumsmagazin veröffentlichte vor nicht langer Zeit eine umfängliche Titelgeschichte, die in kräftigen, anschaulichen Worten das “Verschwinden der Kindheit” aus unseren Städten, Straßen, Wäldern, Feldern und Fluren beklagte. So sehr man ihr im Land des PISA-Krakeels jede denkbare Resonanz wünschen musste, hatte die Darstellung an einer bemerkenswerten Stelle ein Loch, und das erklärt vielleicht, warum sie so wenig gefunden hat.

Sie verschwieg nämlich den Beitrag der pädagogischen Zunft zu diesem traurigen Ergebnis.

Kindheitsbilder

Das Bild, das sich die Menschen vom Kindesalter gemacht haben, hat sich im Laufe unserer Geschichte immer wieder gewandelt. Aber nicht immer stetig und Schrittchen für Schrittchen. Es gab eine Zäsur. Der Begriff “das Kind” ist eine Schöpfung der Moderne. Vorher gab es nicht einmal das Wort. Im Mittelhochdeutschen bezeichnet daz kint ein Verwandtschaftsverhältnis und hat mit dem Lebensalter gar nichts zu tun. Dann – etwa in Wolfram von Eschenbachs Parzival – heißt kint ein jeder, der jünger ist als der andere, auch wenn er dreißig, vierzig ist. 


Aber nicht das Bild des Kindes ist durch die moderne, bürgerliche Gesellschaft zunächst neu entworfen worden. Es ist ein Gegenbild zu dem Erwachsenen. Das ist der arbeitsame, um seinen Erfolg im Leben ernstlich besorgte, eigenverantwortliche Berufsmensch. Kind ist, wer noch nicht erwachsen ist. Zunächst eine negative Bestimmung. Eine positive Bedeutung kommt mit Rousseau und den Romantikern hin- zu: Das Kind ist auch das, was der Erwachsene nicht mehr ist – und vermisst.

Seither wird über Kinder unter doppeltem Vorzeichen gesprochen: Es soll werden, wie die Erwachsenen sind. Und es soll sein können, was es selber ist – den Erwachsenen würde sonst etwas fehlen in ihrem Leben. Der erste Standpunkt ist der von Industrie, Erwerbswelt und Polizei. Der zweiten Meinung neigen die privaten Alltagsmenschen zu, Eltern, Onkel und Tanten und die Nachbarn.

Die pädagogische Erwerbsweise

Eine perfide Mittelstellung nimmt der Pädagogenstand ein, der aus der bürgerlichen Gesellschaft “erwachsen” ist: Das Kind soll sein, wie es ist, damit er es so machen kann, wie die Erwachsenen sind; und dabei seinen Lebensunterhalt verdienen. Je mehr er die Kinder infantilisiert, in seinen Anstalten von der Welt isoliert, behütet und entmächtigt, umso sicherer kann er die steuerzahlenden Erwachsenen von seiner Unverzichtbarkeit überzeugen. Die Erwerbspädagogen haben sich inzwischen selbst den Eltern als ihre Zensoren und Wegweiser aufgedrängt und sich zum Vorbild aufgeworfen: Einen “Führerschein für Eltern” forderte Klaus Hurrelmann – zertifiziert von erwerbsmäßigen Pädagogen, von wem sonst? Dass die Explosion der pädagogischen Berufe in den siebziger Jahren im Zeichen der Antiautorität ihren Anfang nahm, macht die Perfidie sinnfällig. Die Folgen beschreibt der “Stern” in starken Farben.

Doch nichts an dieser Entwicklung war selbstverständlich. So recht begonnen hat sie erst vor 290 Jahren: Da wurde – hier bei uns in Preußen! – zum ersten Mal in einem Land der Erde die allgemeine Schulpflicht eingeführt. Denn der berüchtigte Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. wünschte, dass seine Rekruten ihren Katechismus und das Dienstreglement selber lesen könnten. Es war aber mehr als nur eine Alphabetisierungs-Maßnahme, wenn er es auch nicht ahnte. Ebenfalls zum ersten Mal in der Welt waren nun nämlich Kinder nicht mehr das alleinige Privateigentum von Eltern, Gutsherren und Lehrmeistern, sondern erhielten eine eigene gesellschaftliche Stellung zugewiesen. Noch nicht als Subjekte ihrer Lebensführung, sondern als Objekte der Obrigkeit, aber immerhin.

Es brauchte noch weitere hundert Jahre mehr, dass Pädagogik in den Rang einer Wissenschaft erhoben wurde. Man mag fragen, ob ihr das am Ende bekommen ist; doch zunächst war es eine gewaltige Aufwertung der Kindheit, als 1806 Johann Friedrich Herbarts “Allgemeine Pädagogik” erschien. Sie gilt als Gründungsakte der Erziehungswissenschaften. Freilich war Herbart zeitlebens ein erklärter Gegner der Schule. Und zwar aus denselben Gründen, die heute noch gelten. 


Die Bürokratisierung der Welt…
 
Jedes Kind bräuchte einen Lehrer, der auf seine ganz eigenen Möglichkeiten und Lebensumstände eingeht. Der Unterricht in einem großen Klassenverband wird sich immer an einem Durchschnitt orientieren müssen – und zwangsläufig das Mittelmaß belohnen (der Grund, warum Mädchen schon immer bessere Schüler waren als Jungen). Individuelle Abweichungen werden dis- kriminiert. Zweitens fördert die künstliche massenhafte Zusammenballung vieler Kinder nicht deren gute Eigenschaften, sondern ihre schlechten, die sie bekanntlich auch haben. Folglich ist der Lehrer viel zu sehr von Ordnungs- und Disziplinierungsarbeiten in Anspruch genommen, um sich seiner pädagogischen Aufgabe angemessen zu widmen. Schließlich, aber nicht zuletzt neigen die Institution Schule und der Berufsstand, den sie hervorbringt, dazu, ihre besondern Eigeninteressen zu entwickeln, die den Erziehungszwecken regelmäßig in die Quere kommen.

Dabei hat Herbart nicht ahnen können, welche Explosion die pädagogische Erwerbsweise im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts durchmachen würde. Wenn die Ausdehnung der Öffentlichen Dienste immer tiefer in den Gesellschaftskörper hinein das probate Mittel zum wohlfahrtsstaatlichen Streamlining des Kapitalismus – und also seiner Behauptung gegen die Weltrevolution war, so waren Bildungs- und Erziehungsaufgaben der ausgezeichnete Ort, um die intellektuell regsamsten und sozial dynamischsten Elemente der unteren Klassen – namentlich des untergehenden klassischen Kleinbürgertums – als eine ausgehaltene Intelligentsia zweiter Wahl, als ein prolétariat impérial an Vater Staats Futterkrippe zu binden. Im Prozess der Bürokratisierung der Welt waren die Pädagogiker der Stoßtrupp.


Das allein macht deutlich, warum jede flickschusternde Instandhaltungsrenovierung am bestehenden Bildungssystem Augenwischerei bleiben muss. Das Problem ist überhaupt kein ‘pädagogisches’. Es ist ein sozial-, ja ein ordnungspolitisches. Es ist das Ausufern der verwaltenden (Un)Tätigkeiten in die letzten Winkel des privaten Lebens hinein. “Leviathan bei den Kleinen” müsste eine empirische Beschreibung der heutigen Kindheit, wie der “Stern” sie begonnen hat, überschrieben sein.

… tabu!

Allerdings ist auch heute noch nicht klar, was die Alternative wäre. Schließlich hat ja auch Herbart die Kröte schlucken und die Schule als ein ‘unvermeidliches Übel’ akzeptieren müssen. Aber das ist, nicht wahr, ein ganz anderer Ausgangspunkt, um über das Verschwinden der Kindheit nachzudenken, als das kaninchenmäßige Starren auf die Institution Schule. Freilich hängen da massenhaft Arbeitsplätze dran – aber das ist ja gerade der härteste Kern des Problems! Aber er ist tabu.

Und nun stelle man sich vor, die behördliche Erfassung und fachmäßige Verfassung der Kindheit – oder dessen, was davon übrig bleibt – würde nun auch noch auf den ganzen Tag ausgedehnt! Eben hatte man den deutschen Pädagogikern bescheinigt: Eure Schulen taugen nicht viel – und prompt fordern sie (noch) mehr Macht! 


Aber die Geschichte hat ihre eigenen Ironien. Das totalitäre Wuchern der bürokratischen Lebensweise widerspricht inzwischen nicht nur dem gesunden Menschenverstand und der Nächstenliebe der Alltagsleute. Auch die – computerisierte – Industrie und das Erwerbsleben brau chen heute immer weniger den räson- nierenden, vorsich tig den Vorteil be- rechnenden und ge sellschaftlich kor- rekten Sachbear- beiter, sondern – wieder – den frohen, neugierigen, wagemutigen Eroberer, der zum Unternehmer taugt, weil er als Kind die Freuden des Unternehmens kennen gelernt hat. Nicht die weitere, womöglich ganztägige Verschulung, sondern die Entpädagogisierung der Kindheit ist daher das Gebot der Zeit.

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