Dienstag, 10. Juni 2014

Wozu die Kunst gut ist.

Musische Erziehung: nur gut gemeint oder doch bedeutend für die Persönlichkeitsentwicklung?
aus nzz.ch, 10. Juni 2014, 05:30

Kulturelle Bildung
Die Epidemie mit grossem K



In einer Tanzklasse lernst du nicht einfach tanzen, sondern du kannst dort dein Leben ändern – mit dieser emphatischen Botschaft konfrontiert der Choreograf und Tanzpädagoge Royston Maldoom gern seine Schüler. 2003 holte er 250 Kinder und Jugendliche verschiedener Nationen zusammen, um mit ihnen die Aufführung von Igor Strawinskys Ballett «Le sacre du printemps» einzustudieren. Die meisten Heranwachsenden kamen von Berliner Schulen, die als Problemfälle berüchtigt waren, mit klassischer Musik und künstlerischem Tanz hatten sie nichts am Hut. Maldoom gelang das Unwahrscheinliche: Mit Leidenschaft, Autorität und Vertrauen in die Fähigkeiten seiner Zöglinge formte er ein geschlossen agierendes Ensemble, das in der sechswöchigen Probe sogar Spass an der Sache bekam.

Maldoom hatte Erfahrung mit solchen Projekten; für das Orchester – die Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle – war es die erste volkspädagogische Initiative. Der Dokumentarfilm «Rhythm is it!» hielt das Gelingen der Arbeit fest, verschwieg auch die Disziplin-, Motivations- und sonstigen Schwierigkeiten nicht, feierte aber vor allem, wie sich junge bildungsferne Menschen ganz unerwartet für ein gemeinschaftliches Tanz-Kunstwerk ins Zeug legen.

«Rhythm is it!» wurde zum Manifest der Kulturellen Bildung (mit grossem K). Der Film verband schulische Ausbildung und Kulturpädagogik zu einem Zeitpunkt, als die Ergebnisse der Pisa-Studien viele Schulpolitiker bewogen, verstärkt auf mathematische, technische und naturwissenschaftliche Fächer zu setzen. Am Fach Deutsch interessierte fast nur noch die Stärkung der Lesekompetenz, weniger der Erwerb literarischer Kenntnisse. Gegen die amusische Tendenz der Gesellschaft legte «Rhythm is it!» Berufung ein, als Zeugnis dafür, wie bedeutsam Tanz für die Persönlichkeitsentwicklung sein kann. Leistungswille, Disziplin, Selbstbewusstsein, Sinn für Ästhetik – all das vermag ein enthusiastischer Choreograf in Schülern anzuspornen. Ehrlicherweise muss man zugeben: Nicht in allen Eleven, letztlich haben wir es doch mit einer Auswahl zu tun.

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Im Jahre zehn des Bestehens von «Rhythm is it!» wirkt der Film noch immer frisch. Das liegt an der Sinnlichkeit des Gezeigten. Tanz spricht den Körper an, die Lust am Lernen geht einher mit der Lust an Bewegung. Die Schüler können sich ausagieren, sich vom Rhythmus mitnehmen lassen. Ihr Lernen ist kein primär kognitiver Akt – und insofern vom Schulunterricht doch sehr verschieden. Weil sich diese Differenz nicht leugnen lässt, man der Kulturellen Bildung aber mehr als bloss kunsterzieherische Qualität zusprechen möchte, kam das Argument der sekundären Wirkungen zum Zuge: Demnach hebt das frühkindliche Hören klassischer Musik die Intelligenz, Theater spielen stärkt kommunikative Kompetenz und sozialen Sinn, Musizieren im Orchester wirkt integrativ, das Beherrschen eines Instruments (Üben, üben!) fördert die Konzentrationsfähigkeit und so fort.

Den Künsten eine Leistung aufzubürden, die ihnen fremd ist, hat nicht erst seit Schillers «Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen» Tradition. Schönheit macht frei? Diese Ansicht des idealistischen Dichters lässt sich empirisch so wenig belegen wie der heute beliebte Glaube, Mozart hören mache Kinder schlau. Die Verfechter Kultureller Bildung leisteten ihrer Sache einen Bärendienst, als sie der Kulturvermittlung zweckrationale Funktionen zuschrieben. Unter dieser Vorgabe reicht es nämlich nicht mehr, um des Singens willen zu singen, des Malens wegen zu malen oder aus Freude am Rollenspiel die Bretter der Bühne für die Welt zu nehmen. Dann müssen sich die Künste durch Zusatznutzen legitimieren. Und die Kulturelle Bildung muss sich anhören, sie sei bloss gut gemeint – das Gegenteil von Kunst.

Ihrem Prosperieren tut das keinen Abbruch. Jedes grosse Orchester unterhält heute irgendein «Education»-Projekt, Theater suchen das Gespräch mit dem Publikum oder gehen an die Schulen, in Wolfenbüttel sitzt eine Akademie und in Essen ein Rat für Kulturelle Bildung. Allein das Feuilleton hält hartnäckig auf Distanz. Es müssen schon Knaller des Kalibers von «Rhythm is it!» sein, damit ein Projekt der Kulturellen Bildung in der überregionalen Presse Beachtung findet. Der Begriff als solcher ist auch gar zu blöd. Unter «musischer Erziehung» vermochte man sich noch etwas halbwegs Trennscharfes vorzustellen. Aber «Kulturelle Bildung» ist wie ein breitgetretener Quark, worin Mythen («Kinder sind kreativ»), der erweiterte Kulturbegriff der 1970er Jahre und die Interessen der Kulturwirtschaft zusammenfliessen.




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