Dienstag, 3. Juni 2014

Vergesst PISA.

aus Die Presse, Wien, 21. 5. 2014
 
PISA: "Immer mehr Eltern boykottieren Tests"
Ein offener Protestbrief an den PISA-Koordinator Andreas Schleicher macht die Runde. Der in den USA lehrende Bildungswissenschaftler Heinz-Dieter Meyer hat ihn initiiert. Im Interview mit der "Presse" erklärt er, warum.

 

Die nächste Pisa-Runde soll ausgesetzt, die Kosten sollen transparent gemacht werden. Und die ökonomiegesteuerte OECD dürfe nicht zum „globalen Schiedsrichter über Mittel und Ziele von Bildung in der ganzen Welt“ werden: Das und mehr fordert der deutsche Bildungswissenschaftler Heinz-Dieter Meyer mit einer New Yorker Kollegin in einem offenen Brief. Derzeit warnt er in Indien vor PISA. „Die Presse“ hat mit ihm gesprochen.

Sie haben in Amerika das pisakritische Buch „PISA, Power and Policy“ veröffentlicht, nun fordern Sie die Aussetzung der nächsten PISA-Tests, Offenlegung der Testkosten etc. Wie kam es zu dem von Ihnen initiierten offenen Brief an PISA-Koordinator Andreas Schleicher?


Heinz-Dieter Meyer: Natürlich stand die kritische Auseinandersetzung in „PISA, Power and Policy“ am Anfang. Aber den Ausschlag für den Brief gab eine gewisse Arroganz des Herrn Schleicher beim Nicht-Antworten auf Kritik während einer Diskussion in Philadelphia Anfang April dieses Jahres im Zusammenhang mit der Jahreskonferenz der „american education research association“.

Liest man das Buch „PISA, Power and Policy“, hat man den Eindruck, dass wir diese Tests Amerika verdanken.

Die USA haben eine führende Rolle gespielt. Der Vorgänger von Andreas Schleicher, Malcolm Skilbeck, ein Professor für Erziehungswissenschaften aus Australien, hat nur ein halbes Jahrzehnt vor Schleicher die Art von Tests, die PISA dann institutionalisiert hat, abgelehnt, weil sie unvermeidlich oberflächlich und sensationsheischend sind. Skilbeck war ein Repräsentant der „sozial-demokratischen“ Linie in der OECD.


Was ist für Sie das Hauptproblem am öffentlichen Umgang mit den PISA-Ergebnissen?

Die Schwankungsbreite ist ein Problem, ein größeres Problem ist: Wenn man die Spitzen-Länder wegzählt und außerdem die Dritte-Welt-Länder wie Peru, dann bleibt ein großes Mittelfeld übrig, in dem sich die Punktunterschiede auf 20 bis 30 Punkte reduzieren. 20 Punkte aber ist, was Finnland ohne Änderungen seiner Bildungspolitik verloren hat. Much ado about nothing? Wer jemals mit quantitativen Daten gearbeitet hat, weiß, wie leicht sich statistische Artefakte als substantielle Ergebnisse präsentieren lassen. Die Abwesenheit kritischen Denkens in der Hochjubelung von PISA illustriert genau das, was PISA produzieren will: immer mehr Kinder des Technokratismus.

Ihr offener Brief nennt das „Race to the top“-Programm als Beispiel dafür, wie sich PISA auf die amerikanische Bildungspolitik auswirkt, worum genau handelt es sich da?

„Race to the top“ beinhaltet unter anderem, dass der Kurzschluss von den Multiple-choice-test-Ergebnissen von Schülern auf die Unterrichtsqualität ihres Lehrers institutionalisiert wird. Das Programm wird mit PISA und dem darin vermeintlich gezeigten Aufholbedarf der USA begründet. Seit „race to the top“ reißen die „high stakes standardized tests“ in Schulen nicht mehr ab. Schüler beklagen sich über unerträglichen Stress in den Testperioden, oft dauern diese Tests drei Tage lang, mit zwei- bis dreistündigen Tests. Immer mehr Eltern in den USA boykottieren die Tests und halten ihre Kinder an den Testtagen von der Schule fern.

Wer führt die PISA-Tests in Amerika durch?

Die Firma Pearson hat von der OECD den Vertrag zur Test-Vorbereitung 2015 erhalten. Das ist übrigens dieselbe Firma, die in New York State sämtliche Tests, sämtliche Test-Auswertungen und die kompensatorischen Interventionen auf Basis der Testergebnisse durchführt: alles gewinnorientiert.

Spätestens seit PISA gehören Lehrer in Österreich zur meistkritisierten Berufsgruppe. Wie erstrebenswert ist das Lehrersein in Amerika?

In den USA kann man grob sagen: Je mehr dort einem jungen Studierenden wirklich an Erziehung gelegen ist und je größer die Alternativen, desto unwahrscheinlicher ist es, dass er sich für den Lehrerberuf entscheidet, wegen der allgegenwärtigen Gängelei.

Offenbar gibt es nicht nur in den Schulen Unmut, vor Kurzem las ich den offenen Brief einer amerikanischen Kindergärtnerin, die ihren Job aufgegeben hat, weil schon im Kindergarten das Messen und Standardisieren anstelle des Kindes selbst in den Mittelpunkt rücke. Können Sie das nachvollziehen?

Ja, die Testerei geht im Kindergarten los, bevor die Kinder gelernt haben, zu spielen.

Sie sind gerade in Indien unterwegs – beruflich?

Ja, ich war in Bangalore auf einer Bildungs-Konferenz. Ich ermuntere die Inder, auch unter der neuen Regierung bei ihrem „Nein“ zu PISA zu bleiben.

Die österreichische Bildungsministerin hat angekündigt, wegen eines Datenlecks beim Institut BIFIE, das die Vortests für PISA 2015 durchführen hätte sollen, die Teilnahme Österreichs am PISA-Test 2015 ausfallen zu lassen.* Freut Sie das?

Probleme wie beim BIFIE illustrieren, dass PISA eine riesige Datenmaschinerie ist. Bis jetzt hat kaum jemand der OECD genauer auf die Finger geguckt. Ich glaube, das wird sich ändern.

*) Ist schon wieder zurückgenommen. JE

ZUR PERSON

Heinz-Dieter Meyer ist studierter Soziologe und Bildungswissenschaftler mit Schwerpunkt Bildungspolitik. Er lehrt an der State University of New York.

Undemokratisch,
bildungsverengend,nicht aussagekräftig: Das sind die Hauptvorwürfe gegen PISA in dem am 6. Mai veröffentlichten „Offenen Brief an Andreas Schleicher“. Auch zwei Österreicher gehören zu den Erstunterzeichnern: der Philosoph Konrad Paul Liessmann und Bildungswissenschaftler Stefan Hopmann (beide von der Universität Wien). 


Unterschrieben werden kann der offene Brief an Schleicher im Internet: bildung-wissen.eu.



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