Donnerstag, 21. November 2013

Die Kindheit Jesu.



aus NZZ, 19. 11. 2013

Stadt ohne Gedächtnis
John M. Coetzees «Die Kindheit Jesu» vermeidet allegorische Höhenflüge

von Angela Schader · Sieht so das Paradies aus? Nirgends fällt ein böses Wort, alle begegnen einander mit Wohlwollen, keiner ist ohne Brot oder Obdach, kein Wunsch oder Begehren treibt die Menschen um. Oder sieht so die Hölle aus?

Die Jenseitsvorstellungen kommen nicht von ungefähr, wenn man das Szenario von J. M. Coetzees Roman «Die Kindheit Jesu» umreisst, obwohl der Handlungsort weiss Gott nichts Himmlisches oder Infernalisches an sich hat. Es ist eine Stadt namens Novilla, in der Spanisch gesprochen wird, in der Erwachsene zur Arbeit und Kinder zur Schule gehen; in deren Hafen Frachter mit tonnenweise Getreide einlaufen (woher kommen sie?), in der Flüchtlinge (woher kommen sie?) anstandslos aufgenommen und von anderen, früher eingetroffenen Flüchtlingen (woher kamen sie, und warum?) in den lokalen Alltag eingeschleust werden. Eine Stadt, in der die Nahrungsmittel billig, das Busfahren und die Abendschule unentgeltlich sind und Prostituierte als «Therapeutinnen» arbeiten. 

J. M. Coetzee: Die Kindheit Jesu.  
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2013. 288 S., Fr. 34.90.

Schöne neue Welt à la Huxley? Beileibe nicht. Die Wohnsiedlungen sind monoton, die Zerstreuungen dünn gesät, im Philosophiekurs an der Abendschule wird einlässlich die tiefschürfende Frage behandelt, warum ein Stuhl ein Stuhl ist, die Diät ist, höflich gesagt, farblos. Und statt wie bei Huxley mittels einer Glücksdroge bei guter Laune gehalten zu werden, führen die Menschen, erinnerungslos und mit neuen Namen, eine Art Schattenexistenz: ohne Wunsch, ohne Begehren, mit nicht mehr Identität und eigener Geschichte, als ihnen in dieser neuen Heimat zuteil wurde.

Rebellische Phantasie

Unter den Neuankömmlingen ist einer, der noch nicht ganz - wie man in Novilla sagt - «reingewaschen» ist; der, wiewohl nicht mehr ganz jung, weibliche Körper mit mehr als nur interesselosem Wohlgefallen taxiert, der sich an den unrationellen Arbeitsprozessen aufhält, der zumindest «die Erinnerung daran, eine Erinnerung zu haben», in sich trägt. Simón lautet der Name, der ihm bei seiner Ankunft verpasst wurde, David derjenige des kleinen Buben, den er mit sich führt. Das Kind ist auf demselben Flüchtlingsschiff wie Simón gereist und hat dort einen Beutel mit einem Brief verloren, der - vielleicht - den Weg zu seiner Mutter gewiesen hätte; nun will Simón sie aufspüren. Nicht auf gewöhnlichem Weg, sondern kraft des unerschütterlichen Glaubens, er werde diese Frau, die er in seinem ohnehin in Vergessenheit versunkenen Vorleben nie gesehen hat, instinktiv erkennen.

«Erkennen» wird Simón - in aller Keuschheit - eine junge Frau, Inés, die in wesentlich angenehmeren Verhältnissen etwas ausserhalb der Stadt lebt; sie nimmt den kleinen Buben nach kurzem Zaudern an und tauscht ihr Zuhause anstandslos gegen Simóns dürftig möblierte Wohnung ein, während dieser in einem Schuppen beim Hafen unterschlüpft. Der ältere Mann, die Jungfrau, das Kind: Ist damit die im Titel verheissene Heilige Familie beisammen? Und von welchen Sünden hätte der Knabe diese «reingewaschene» Welt zu erlösen, in die es ihn verschlagen hat?

Die Antwort liegt - für einen Autor von Coetzees Format - fast zu nah. Brillant, erratisch und eigenwillig, behauptet das Kind Individualität und Kreativität in einer konformen, sedierten Gesellschaft, der sich auch Simón zunehmend angleicht. Vor allem unter der Obhut Inés', die ihn verwöhnt und vergöttert, kann der Kleine die überlebensgrossen Selbstprojektionen, in denen sich die kindliche Phantasie so gern ergeht, nach Belieben ausspinnen; in der Schule attestiert man ihm Verhaltensstörungen sowie ein «Defizit im Zusammenhang mit symbolischen Aktivitäten» (zu Deutsch: Er scheint unfähig, mit Schrift und Zahlen umzugehen) und will ihn in eine geschlossene Lehranstalt relegieren. Jenes «Defizit» macht sich auch bemerkbar, als Simón den Buben mit einer zerfledderten, in der Leihbibliothek ausgegrabenen Kinderausgabe des «Don Quijote» zum Lernen verlocken will: Mit grosser Selbstverständlichkeit übernimmt David die Weltsicht des Ritters von der traurigen Gestalt - sogar im Blick auf die Illustrationen des Buches: «Es ist keine Windmühle, es ist ein Riese!», wütet er gegen Simóns Berichtigung an: «Es ist nur auf dem Bild eine Windmühle!»

Coetzee ist wohltuend sparsam mit den Signalen, die den Titel des Romans validieren sollen. Da ist ein-, zweimal ein kindlicher Blick, den Simón nicht zu fassen und einzuordnen vermag; oder die Tatsache, dass David plötzlich das Lesen und Schreiben beherrscht, sich jedoch mit einer Rechenaufgabe - bezeichnenderweise geht es darin um Fische, deren Zahl sich unter Christi Hand auch plötzlich wandeln konnte - schwertut; und dass er in derselben Szene den diktierten Satz «Ich muss die Wahrheit sagen» als «Ich bin die Wahrheit» niederschreibt. So geht Davids Charakterbild kaum über das eines phantasievollen, eigensinnigen, dabei auch manchmal unmanierlichen oder verängstigten Kindes hinaus. Coetzee umgeht zudem ein allzu direktes Sicheinlassen auf die Figur, indem er Simón ins Zentrum der Handlung rückt und den Knaben nur mittelbar durch die Beobachtungen und Reflexionen seines Protagonisten zeigt.

Nicht im metaphysischen Ausgriff kommt der Roman also zu sich, sondern vielmehr in der Art, wie Coetzee mit dem blassen, spröden Kolorit umgeht, das ihm die selbstgeschaffene Erzählwelt an die Hand gibt. Wo zu biederer Vernunft dressierte Akteure mit gedämpfter Erlebnisfähigkeit und ohne eigene Vergangenheit den Handlungsort besetzen, sind weder hochfliegende Diskussionen noch dramatische Gefühlsregungen möglich; wo die Sinne darben, darf eine stimmige Schilderung nicht zu viel Kontur und Farbe annehmen. Coetzees Darstellung hebt diese Defizite ins Bewusstsein, ohne selber öde zu wirken; sie legt banale wie auch erratische Handlungselemente mit stets derselben beherrschten Geste aus, was auf paradoxe Weise zugleich beruhigt und irritiert. So ergibt sich auch jenes seltsame Oszillieren des Handlungsorts zwischen Diesseits und Jenseits - eine Zone, die Coetzee mit ähnlich kargen Mitteln schon vor zehn Jahren in «Elizabeth Costello» skizziert hat.

Purgatorium der Klischees

«Ist das die Vorstellung, die sich einer davon macht, wie die Hölle für einen Schriftsteller aussehen wird, oder wenigstens das Purgatorium: ein Purgatorium der Klischees?» So bäumt sich in jenem Buch die Schriftstellerin Elizabeth Costello gegen das ihr zugemutete Umfeld auf. Im Blick auf Novilla und seine Bewohner hat man das Gefühl, Coetzee habe seine Hauptfiguren - und sich selbst - genau diesem lauen Purgatorium ausgesetzt; zur religiösen Dimension des Wortes passt der Ausdruck «reingewaschen» ebenso wie der Verweis auf das «neue Leben», dem David, Simón und Inés am Ende des Romans entgegengehen. Allein, der Schluss lässt vermuten, dass dies neue Leben eines ist, das sich in nichts von demjenigen in Novilla unterscheiden wird. Mehr als Davids irrlichternden Geist werden die Erwachsenen auch dort nicht haben, ihnen den Weg zu erleuchten.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen