aus NZZ, 19. 11. 2013
Stadt ohne Gedächtnis
John M. Coetzees «Die Kindheit Jesu» vermeidet allegorische Höhenflüge
John M. Coetzees «Die Kindheit Jesu» vermeidet allegorische Höhenflüge
von Angela Schader · Sieht so das Paradies aus? Nirgends fällt ein böses Wort, alle begegnen einander mit Wohlwollen, keiner ist ohne Brot oder Obdach, kein Wunsch oder Begehren treibt die Menschen um. Oder sieht so die Hölle aus?
Die Jenseitsvorstellungen kommen nicht von ungefähr, wenn man das Szenario von J. M. Coetzees Roman «Die Kindheit Jesu» umreisst, obwohl der Handlungsort weiss Gott nichts Himmlisches oder Infernalisches an sich hat. Es ist eine Stadt namens Novilla, in der Spanisch gesprochen wird, in der Erwachsene zur Arbeit und Kinder zur Schule gehen; in deren Hafen Frachter mit tonnenweise Getreide einlaufen (woher kommen sie?), in der Flüchtlinge (woher kommen sie?) anstandslos aufgenommen und von anderen, früher eingetroffenen Flüchtlingen (woher kamen sie, und warum?) in den lokalen Alltag eingeschleust werden. Eine Stadt, in der die Nahrungsmittel billig, das Busfahren und die Abendschule unentgeltlich sind und Prostituierte als «Therapeutinnen» arbeiten.
J. M. Coetzee: Die Kindheit Jesu.
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2013. 288 S., Fr. 34.90.
Schöne neue Welt à la Huxley? Beileibe nicht.
Die Wohnsiedlungen sind monoton, die Zerstreuungen dünn gesät, im
Philosophiekurs an der Abendschule wird einlässlich die tiefschürfende
Frage behandelt, warum ein Stuhl ein Stuhl ist, die Diät ist, höflich
gesagt, farblos. Und statt wie bei Huxley mittels einer Glücksdroge bei
guter Laune gehalten zu werden, führen die Menschen, erinnerungslos und
mit neuen Namen, eine Art Schattenexistenz: ohne Wunsch, ohne Begehren,
mit nicht mehr Identität und eigener Geschichte, als ihnen in dieser
neuen Heimat zuteil wurde.
Rebellische Phantasie
Unter den Neuankömmlingen ist
einer, der noch nicht ganz - wie man in Novilla sagt - «reingewaschen»
ist; der, wiewohl nicht mehr ganz jung, weibliche Körper mit mehr als
nur interesselosem Wohlgefallen taxiert, der sich an den unrationellen
Arbeitsprozessen aufhält, der zumindest «die Erinnerung daran, eine
Erinnerung zu haben», in sich trägt. Simón lautet der Name, der ihm bei
seiner Ankunft verpasst wurde, David derjenige des kleinen Buben, den er
mit sich führt. Das Kind ist auf demselben Flüchtlingsschiff wie Simón
gereist und hat dort einen Beutel mit einem Brief verloren, der -
vielleicht - den Weg zu seiner Mutter gewiesen hätte; nun will Simón sie
aufspüren. Nicht auf gewöhnlichem Weg, sondern kraft des
unerschütterlichen Glaubens, er werde diese Frau, die er in seinem
ohnehin in Vergessenheit versunkenen Vorleben nie gesehen hat,
instinktiv erkennen.
«Erkennen» wird Simón - in aller
Keuschheit - eine junge Frau, Inés, die in wesentlich angenehmeren
Verhältnissen etwas ausserhalb der Stadt lebt; sie nimmt den kleinen
Buben nach kurzem Zaudern an und tauscht ihr Zuhause anstandslos gegen
Simóns dürftig möblierte Wohnung ein, während dieser in einem Schuppen
beim Hafen unterschlüpft. Der ältere Mann, die Jungfrau, das Kind: Ist
damit die im Titel verheissene Heilige Familie beisammen? Und von
welchen Sünden hätte der Knabe diese «reingewaschene» Welt zu erlösen,
in die es ihn verschlagen hat?
Die Antwort liegt - für einen
Autor von Coetzees Format - fast zu nah. Brillant, erratisch und
eigenwillig, behauptet das Kind Individualität und Kreativität in einer
konformen, sedierten Gesellschaft, der sich auch Simón zunehmend
angleicht. Vor allem unter der Obhut Inés', die ihn verwöhnt und
vergöttert, kann der Kleine die überlebensgrossen Selbstprojektionen, in
denen sich die kindliche Phantasie so gern ergeht, nach Belieben
ausspinnen; in der Schule attestiert man ihm Verhaltensstörungen sowie
ein «Defizit im Zusammenhang mit symbolischen Aktivitäten» (zu Deutsch:
Er scheint unfähig, mit Schrift und Zahlen umzugehen) und will ihn in
eine geschlossene Lehranstalt relegieren. Jenes «Defizit» macht sich
auch bemerkbar, als Simón den Buben mit einer zerfledderten, in der
Leihbibliothek ausgegrabenen Kinderausgabe des «Don Quijote» zum Lernen
verlocken will: Mit grosser Selbstverständlichkeit übernimmt David die
Weltsicht des Ritters von der traurigen Gestalt - sogar im Blick auf die
Illustrationen des Buches: «Es ist keine Windmühle, es ist ein Riese!»,
wütet er gegen Simóns Berichtigung an: «Es ist nur auf dem Bild eine
Windmühle!»
Coetzee ist wohltuend sparsam mit
den Signalen, die den Titel des Romans validieren sollen. Da ist ein-,
zweimal ein kindlicher Blick, den Simón nicht zu fassen und einzuordnen
vermag; oder die Tatsache, dass David plötzlich das Lesen und Schreiben
beherrscht, sich jedoch mit einer Rechenaufgabe - bezeichnenderweise
geht es darin um Fische, deren Zahl sich unter Christi Hand auch
plötzlich wandeln konnte - schwertut; und dass er in derselben Szene den
diktierten Satz «Ich muss die Wahrheit sagen» als «Ich bin die
Wahrheit» niederschreibt. So geht Davids Charakterbild kaum über das
eines phantasievollen, eigensinnigen, dabei auch manchmal unmanierlichen
oder verängstigten Kindes hinaus. Coetzee umgeht zudem ein allzu
direktes Sicheinlassen auf die Figur, indem er Simón ins Zentrum der
Handlung rückt und den Knaben nur mittelbar durch die Beobachtungen und
Reflexionen seines Protagonisten zeigt.
Nicht im metaphysischen Ausgriff
kommt der Roman also zu sich, sondern vielmehr in der Art, wie Coetzee
mit dem blassen, spröden Kolorit umgeht, das ihm die selbstgeschaffene
Erzählwelt an die Hand gibt. Wo zu biederer Vernunft dressierte Akteure
mit gedämpfter Erlebnisfähigkeit und ohne eigene Vergangenheit den
Handlungsort besetzen, sind weder hochfliegende Diskussionen noch
dramatische Gefühlsregungen möglich; wo die Sinne darben, darf eine
stimmige Schilderung nicht zu viel Kontur und Farbe annehmen. Coetzees
Darstellung hebt diese Defizite ins Bewusstsein, ohne selber öde zu
wirken; sie legt banale wie auch erratische Handlungselemente mit stets
derselben beherrschten Geste aus, was auf paradoxe Weise zugleich
beruhigt und irritiert. So ergibt sich auch jenes seltsame Oszillieren
des Handlungsorts zwischen Diesseits und Jenseits - eine Zone, die
Coetzee mit ähnlich kargen Mitteln schon vor zehn Jahren in «Elizabeth
Costello» skizziert hat.
Purgatorium der Klischees
«Ist das die Vorstellung, die sich
einer davon macht, wie die Hölle für einen Schriftsteller aussehen
wird, oder wenigstens das Purgatorium: ein Purgatorium der Klischees?»
So bäumt sich in jenem Buch die Schriftstellerin Elizabeth Costello
gegen das ihr zugemutete Umfeld auf. Im Blick auf Novilla und seine
Bewohner hat man das Gefühl, Coetzee habe seine Hauptfiguren - und sich
selbst - genau diesem lauen Purgatorium ausgesetzt; zur religiösen
Dimension des Wortes passt der Ausdruck «reingewaschen» ebenso wie der
Verweis auf das «neue Leben», dem David, Simón und Inés am Ende des
Romans entgegengehen. Allein, der Schluss lässt vermuten, dass dies neue
Leben eines ist, das sich in nichts von demjenigen in Novilla
unterscheiden wird. Mehr als Davids irrlichternden Geist werden die
Erwachsenen auch dort nicht haben, ihnen den Weg zu erleuchten.
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