Wer wird Millionär - oder was ist ein gebildeter Mensch?
Der «Wissensgesellschaft» droht die Bildung abhandenzukommen. Denn Bildung ist mehr als Faktenwissen und «skills». Man muss selber denken können.
Von Claudia Wirz
Google und das Internet haben die Welt revolutioniert. Bald, vielleicht in ein paar wenigen Jahren schon, werden wir alle mit «Google Glass» unterwegs sein, ob wir es wollen oder nicht. So jedenfalls prophezeite es vergangene Woche der deutsche Philosoph und Publizist Richard David Precht vor vollen Rängen in der Aula der Universität Zürich. Die Google-Brille werde so sicher auf die Nase von jedermann kommen wie das Smartphone jede Hand- oder Jackentasche erobert habe.
Der «Wissensgesellschaft» droht die Bildung abhandenzukommen. Denn Bildung ist mehr als Faktenwissen und «skills». Man muss selber denken können.
Von Claudia Wirz
Google und das Internet haben die Welt revolutioniert. Bald, vielleicht in ein paar wenigen Jahren schon, werden wir alle mit «Google Glass» unterwegs sein, ob wir es wollen oder nicht. So jedenfalls prophezeite es vergangene Woche der deutsche Philosoph und Publizist Richard David Precht vor vollen Rängen in der Aula der Universität Zürich. Die Google-Brille werde so sicher auf die Nase von jedermann kommen wie das Smartphone jede Hand- oder Jackentasche erobert habe.
Das geballte Wissen der Menschheit, ja der «Wissensgesellschaft», wird dann über dieses kleine Wundergerät quasi direkt an die Köpfe montiert. Ein kleiner Schritt nur noch, und aus dem Brillengestell wird eine diskrete Kontaktlinse. Und dies, so Precht, bedeute zuerst einmal den sicheren Tod jeder Quizshow vom Schlage des Formats «Wer wird Millionär?». Und danach müsse auch die Schule völlig neu gedacht werden, weil Lehrer und Schüler an den gleichen Orten im Internet googeln würden (NZZ vom 2. 11. 13).
Warum soll dem Bildungsschwärmer
ob solcherlei Perspektiven nicht das Herz lachen? Könnte er gegen diese
technologische Demokratisierung des Weltwissens tatsächlich einen
Einwand haben? Die Antwort ist Ja. Denn Wissen und Bildung sind zwei
verschiedene Dinge. Sie widersprechen sich zwar nicht direkt, aber
grundsätzlich ist Wissen auch ohne Bildung möglich - und dank den
technologischen Hilfsmitteln war dieser Zustand noch nie so einfach zu
erreichen wie heute. Wissen wird einfach ausgelagert, in ein technisches
Gerät zum Beispiel. Er ist also mehr als ein Hirngespinst, der
«ungebildete Gelehrte», den der Philosoph Peter Bieri alias Pascal
Mercier beschreibt. Wer Wissen bloss konsumiert, aber nie gelernt hat,
sich darauf einzulassen, selber darüber nachzudenken, es zu reflektieren
und zu hinterfragen, ist eben höchstens wissend, aber nicht gebildet.
Jäger und Sammler
Die «Wissensgesellschaft» hat sich
von der unterhaltsamen Quizshow bis hin zum 100 000 Franken teuren
Executive MBA daran gewöhnt, Wissen mit Bildung zu verwechseln
beziehungsweise gleichzusetzen. Und das - naturgemäss fragmentarische -
Wissen muss nützlich sein. Es gibt Standards und Instrumente, um Bildung
dieser Art zu messen, zu prüfen und je nach «setting» mit Geld, Titeln
oder Zertifikaten auszuzeichnen. Der Bologna-Prozess ist ebenso ein Kind
dieses Geistes wie der zurzeit allgegenwärtig zu hörende Appell zum
lebenslangen Lernen. Hier wie dort wird das Lernen bzw. die Bildung zur
«bilanzierbaren Kennzahl des Humankapitals» (Konrad Paul Liessmann)
gemacht. Man soll lernen, um nützliche Kompetenzen und
Schlüsselqualifikationen zu erwerben. Wer aus Spass an der akademischen
Freude und Freiheit «zweckfreie» Bildung betreibt, erntet in der
Generation der Punkte- und Titelsammler oft Verständnislosigkeit. Denn
wozu braucht der Mensch unnütze Bildung, wenn er zweckdienliches,
zertifiziertes Wissen haben kann?
Die Bildungsexplosion
Mit diesem Verständnis von Bildung
hat sich die «Wissensgesellschaft» weit von früheren Bildungsidealen
entfernt. Während das klassische Bildungsideal die harmonische und
gesamtheitliche kulturelle Entwicklung des Individuums anstrebte und die
Formung einer autonomen, selbst denkenden, sich selbst bildenden
Persönlichkeit zum Ziel hatte, fördert die heutige «Vermessung» der
Bildung mittels Kompetenzen, Standards, Punkten und Zertifikaten eher
die Konformität statt die Individualität der Wissensträger. Akademische
Titel scheinen das Curriculum in einer Zeit verschärften Wettbewerbs
besonders trefflich zu schmücken und sind für immer mehr Menschen zum
Objekt der Begierde geworden, was man an der weltweit wachsenden
Akademisierung ablesen kann. Ob und inwiefern diese «Bildungsexplosion»
die Qualität der institutionalisierten Bildung beschädigt, sei
dahingestellt; die wiederholten Plagiatsfälle der letzten Jahre lassen
allerdings tief blicken.
Ein Erstabschluss auf
Hochschulebene reicht heute oft nicht mehr, um auf dem Arbeitsmarkt
«fit» zu bleiben. Das Wissen der «Wissensgesellschaft» verliert rasch an
Wert. Es braucht stets neue Nahrung in Form von Weiterbildung und
Spezialwissen. Die Angebotspalette ist unüberschaubar, die Preise sind
stattlich, und die Hochschulen mischen in diesem riesigen Markt
prominent mit. Gerade aber hier lohnt es sich, im klassischen Sinne
gebildet zu sein. Denn durch die Tugend des Selberdenkens hat der
Gebildete auch ohne Google-Brille ein taugliches Instrument, um sich in
diesen komplexen Verhältnissen zurechtzufinden.
ebd.:
Mehr Titel - mehr Bildung?
Die zunehmende Akademisierung wirft die Frage auf, was Bildung eigentlich ist
Die zunehmende Akademisierung wirft die Frage auf, was Bildung eigentlich ist
von Claudia Wirz · Die
Kurven in der Grafik sind eindrücklich. Die Menschen in der Schweiz
werden immer gebildeter. Gebildeter im Sinne zertifizierter und
standardisierter Bildungsaktivitäten. Seit Jahren schon wächst auch
hierzulande die Anzahl der Personen mit tertiärem Abschluss, und ein
Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen.
Eine wachsende Kaste
Im Jahr 2022 werden 400 000
Personen in der Schweiz einen Hochschulabschluss haben, wie uns die
Bildungsstatistiker vorrechnen. Irgendwann zwischen 2020 und 2022 wird
es unter den 25- bis 64-Jährigen mehr Personen mit Tertiärabschluss
geben als solche, die einen Lehrabschluss als höchste Ausbildung
vorweisen können. Diese Aussichten sind gute Kunde für die Verfechter
der Idee des «lebenslangen Lernens». Denn Bildung folgt zu einem guten
Teil dem Matthäus-Prinzip, wie Forschungen belegen: Wer hat, dem wird
gegeben. Das heisst: Akademiker und Personen mit höheren
Bildungsabschlüssen bilden sich eher «lebenslang» weiter als andere.
Vielleicht erwerben sie im Laufe ihrer Karriere ein CAS, DAS oder gar
einen MAS oder MBA, vielleicht im Sinne einer persönlichen
Weiterentwicklung, gewiss aber mit Blick auf berufliches Fortkommen.
Bildung und Weiterbildung haben also etwas «Ständisches». Der Berner
Professor und Bildungssoziologe Rolf Becker hält das Konzept des
lebenslangen Lernens deshalb auch nicht für geeignet, um bestehende
soziale Ungerechtigkeiten auszuräumen; die Ungleichheiten würden im
Gegenteil noch akzentuiert.
Der ungebildete Akademiker
Neben der quantitativen stellt
sich die qualitative Frage. Bedeutet die Bildungsexplosion in Form von
Abschlüssen und Zertifikaten, dass die Gesellschaft insgesamt gescheiter
geworden ist? Damit steht die Frage im Raum, was Bildung überhaupt ist.
Ihr Konzept unterliegt einem steten Wandel, weshalb es eine
abschliessende Definition nicht geben kann. Aber ein Vergleich mit
anderen Bildungsidealen ist möglich. So zeigt sich, dass das von der
OECD propagierte lebenslange Lernen von der klassischen Bildungsidee
Humboldtscher Prägung weit entfernt ist.
Die Ausrichtung von Bildung auf
Spezialwissen und Arbeitsmarktfähigkeit verfolgt andere Ziele als das
humanistische Ideal, das mit Bildung die ganzheitliche geistige Formung
des Individuums anstrebt. «Die Zertifizierungsrate sollte man nicht mit
tatsächlich gebildeten Menschen verwechseln», schreibt der Soziologe
Hans-Peter Müller und zeichnet das Bild vom akademisierten, aber
ungebildeten Menschen (NZZ vom 18. 7. 13). Titel schliessen Bildung im
klassischen Sinne aber nicht aus. Jeder kann sie erwerben - in
Wahrnehmung der Eigenverantwortung, sofern man ebendiese einmal gelernt
hat. Ein Zertifikat fürs Curriculum wird es dafür allerdings nicht
geben.
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