Dienstag, 5. November 2013

Ungebildete Wissensgesellschaft.

aus NZZ, 6. 11. 2013

Wer wird Millionär - oder was ist ein gebildeter Mensch?
Der «Wissensgesellschaft» droht die Bildung abhandenzukommen. Denn Bildung ist mehr als Faktenwissen und «skills». Man muss selber denken können. 


Von Claudia Wirz

 Google und das Internet haben die Welt revolutioniert. Bald, vielleicht in ein paar wenigen Jahren schon, werden wir alle mit «Google Glass» unterwegs sein, ob wir es wollen oder nicht. So jedenfalls prophezeite es vergangene Woche der deutsche Philosoph und Publizist Richard David Precht vor vollen Rängen in der Aula der Universität Zürich. Die Google-Brille werde so sicher auf die Nase von jedermann kommen wie das Smartphone jede Hand- oder Jackentasche erobert habe. 

Das geballte Wissen der Menschheit, ja der «Wissensgesellschaft», wird dann über dieses kleine Wundergerät quasi direkt an die Köpfe montiert. Ein kleiner Schritt nur noch, und aus dem Brillengestell wird eine diskrete Kontaktlinse. Und dies, so Precht, bedeute zuerst einmal den sicheren Tod jeder Quizshow vom Schlage des Formats «Wer wird Millionär?». Und danach müsse auch die Schule völlig neu gedacht werden, weil Lehrer und Schüler an den gleichen Orten im Internet googeln würden (NZZ vom 2. 11. 13).

Warum soll dem Bildungsschwärmer ob solcherlei Perspektiven nicht das Herz lachen? Könnte er gegen diese technologische Demokratisierung des Weltwissens tatsächlich einen Einwand haben? Die Antwort ist Ja. Denn Wissen und Bildung sind zwei verschiedene Dinge. Sie widersprechen sich zwar nicht direkt, aber grundsätzlich ist Wissen auch ohne Bildung möglich - und dank den technologischen Hilfsmitteln war dieser Zustand noch nie so einfach zu erreichen wie heute. Wissen wird einfach ausgelagert, in ein technisches Gerät zum Beispiel. Er ist also mehr als ein Hirngespinst, der «ungebildete Gelehrte», den der Philosoph Peter Bieri alias Pascal Mercier beschreibt. Wer Wissen bloss konsumiert, aber nie gelernt hat, sich darauf einzulassen, selber darüber nachzudenken, es zu reflektieren und zu hinterfragen, ist eben höchstens wissend, aber nicht gebildet.

Jäger und Sammler

Die «Wissensgesellschaft» hat sich von der unterhaltsamen Quizshow bis hin zum 100 000 Franken teuren Executive MBA daran gewöhnt, Wissen mit Bildung zu verwechseln beziehungsweise gleichzusetzen. Und das - naturgemäss fragmentarische - Wissen muss nützlich sein. Es gibt Standards und Instrumente, um Bildung dieser Art zu messen, zu prüfen und je nach «setting» mit Geld, Titeln oder Zertifikaten auszuzeichnen. Der Bologna-Prozess ist ebenso ein Kind dieses Geistes wie der zurzeit allgegenwärtig zu hörende Appell zum lebenslangen Lernen. Hier wie dort wird das Lernen bzw. die Bildung zur «bilanzierbaren Kennzahl des Humankapitals» (Konrad Paul Liessmann) gemacht. Man soll lernen, um nützliche Kompetenzen und Schlüsselqualifikationen zu erwerben. Wer aus Spass an der akademischen Freude und Freiheit «zweckfreie» Bildung betreibt, erntet in der Generation der Punkte- und Titelsammler oft Verständnislosigkeit. Denn wozu braucht der Mensch unnütze Bildung, wenn er zweckdienliches, zertifiziertes Wissen haben kann?

Die Bildungsexplosion

Mit diesem Verständnis von Bildung hat sich die «Wissensgesellschaft» weit von früheren Bildungsidealen entfernt. Während das klassische Bildungsideal die harmonische und gesamtheitliche kulturelle Entwicklung des Individuums anstrebte und die Formung einer autonomen, selbst denkenden, sich selbst bildenden Persönlichkeit zum Ziel hatte, fördert die heutige «Vermessung» der Bildung mittels Kompetenzen, Standards, Punkten und Zertifikaten eher die Konformität statt die Individualität der Wissensträger. Akademische Titel scheinen das Curriculum in einer Zeit verschärften Wettbewerbs besonders trefflich zu schmücken und sind für immer mehr Menschen zum Objekt der Begierde geworden, was man an der weltweit wachsenden Akademisierung ablesen kann. Ob und inwiefern diese «Bildungsexplosion» die Qualität der institutionalisierten Bildung beschädigt, sei dahingestellt; die wiederholten Plagiatsfälle der letzten Jahre lassen allerdings tief blicken.

Ein Erstabschluss auf Hochschulebene reicht heute oft nicht mehr, um auf dem Arbeitsmarkt «fit» zu bleiben. Das Wissen der «Wissensgesellschaft» verliert rasch an Wert. Es braucht stets neue Nahrung in Form von Weiterbildung und Spezialwissen. Die Angebotspalette ist unüberschaubar, die Preise sind stattlich, und die Hochschulen mischen in diesem riesigen Markt prominent mit. Gerade aber hier lohnt es sich, im klassischen Sinne gebildet zu sein. Denn durch die Tugend des Selberdenkens hat der Gebildete auch ohne Google-Brille ein taugliches Instrument, um sich in diesen komplexen Verhältnissen zurechtzufinden.




ebd.:

Mehr Titel - mehr Bildung?
Die zunehmende Akademisierung wirft die Frage auf, was Bildung eigentlich ist

von Claudia Wirz · Die Kurven in der Grafik sind eindrücklich. Die Menschen in der Schweiz werden immer gebildeter. Gebildeter im Sinne zertifizierter und standardisierter Bildungsaktivitäten. Seit Jahren schon wächst auch hierzulande die Anzahl der Personen mit tertiärem Abschluss, und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen.

Eine wachsende Kaste

Im Jahr 2022 werden 400 000 Personen in der Schweiz einen Hochschulabschluss haben, wie uns die Bildungsstatistiker vorrechnen. Irgendwann zwischen 2020 und 2022 wird es unter den 25- bis 64-Jährigen mehr Personen mit Tertiärabschluss geben als solche, die einen Lehrabschluss als höchste Ausbildung vorweisen können. Diese Aussichten sind gute Kunde für die Verfechter der Idee des «lebenslangen Lernens». Denn Bildung folgt zu einem guten Teil dem Matthäus-Prinzip, wie Forschungen belegen: Wer hat, dem wird gegeben. Das heisst: Akademiker und Personen mit höheren Bildungsabschlüssen bilden sich eher «lebenslang» weiter als andere. Vielleicht erwerben sie im Laufe ihrer Karriere ein CAS, DAS oder gar einen MAS oder MBA, vielleicht im Sinne einer persönlichen Weiterentwicklung, gewiss aber mit Blick auf berufliches Fortkommen. Bildung und Weiterbildung haben also etwas «Ständisches». Der Berner Professor und Bildungssoziologe Rolf Becker hält das Konzept des lebenslangen Lernens deshalb auch nicht für geeignet, um bestehende soziale Ungerechtigkeiten auszuräumen; die Ungleichheiten würden im Gegenteil noch akzentuiert.

Der ungebildete Akademiker

Neben der quantitativen stellt sich die qualitative Frage. Bedeutet die Bildungsexplosion in Form von Abschlüssen und Zertifikaten, dass die Gesellschaft insgesamt gescheiter geworden ist? Damit steht die Frage im Raum, was Bildung überhaupt ist. Ihr Konzept unterliegt einem steten Wandel, weshalb es eine abschliessende Definition nicht geben kann. Aber ein Vergleich mit anderen Bildungsidealen ist möglich. So zeigt sich, dass das von der OECD propagierte lebenslange Lernen von der klassischen Bildungsidee Humboldtscher Prägung weit entfernt ist.

Die Ausrichtung von Bildung auf Spezialwissen und Arbeitsmarktfähigkeit verfolgt andere Ziele als das humanistische Ideal, das mit Bildung die ganzheitliche geistige Formung des Individuums anstrebt. «Die Zertifizierungsrate sollte man nicht mit tatsächlich gebildeten Menschen verwechseln», schreibt der Soziologe Hans-Peter Müller und zeichnet das Bild vom akademisierten, aber ungebildeten Menschen (NZZ vom 18. 7. 13). Titel schliessen Bildung im klassischen Sinne aber nicht aus. Jeder kann sie erwerben - in Wahrnehmung der Eigenverantwortung, sofern man ebendiese einmal gelernt hat. Ein Zertifikat fürs Curriculum wird es dafür allerdings nicht geben.

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