Johann Friedrich Herbart hat es nicht verhindern können – sein Widersacher Friedrich Daniel Schleiermacher hat im Lauf des 19. Jahrhunderts den Sieg davon getragen, die Schule wurde zur Regel und
Haubinda
Die Institution Schule wucherte, in der Lehrerschaft wuchs ein Heer von interessierten Befugten heran, die die Rede über Kinder und ihre Erziehung unter sich monopolisierte: Kein Philosoph ließ sich seither noch maßgeblich zu pädagogischen Themen vernehmen, als wäre das Schmuddelkram, den ein anständiger Mann jenen überlässt, die damit ihren Lebensunterhalt erwerben. Allenfalls Nietzsches Hohn auf den “Bildungsphilister” hat – mittelbar – noch in die Pädagogik hineingewirkt.
1898 trat in Berlin-Steglitz mit dem “Wandervogel” die deutsche Jugendbewegung ins Leben, und im selben Jahr unternahm Hermann Lietz im thüringischen Haubinda mit den Vorbereitungen zum seinem ersten Landschulheim – unter ausdrücklichem Rückgriff auf J. G. Fichtes “Reden an die deutsche Nation” – die erste praktische Realisierung der deutschen Reformpädagogik.
Der Lehrer und Kunsthistoriker Alfred Lichtwark,
1852-1914, war ein bedeutender Museumsmann, der als erster die Moderne
nach Deutschland holte (Cl. Monet in der Hamburger Kunsthalle), und war
theoretisch und praktisch (Liebermann-Villa) der maßgebliche Erneuerer
der Gartenbaukunst: Die Stadt- und Volksparks des 20. Jahrhunderts
verdanken ihm ihr Gesicht. Vor allem wurde er aber zu einem Pionier der
Reformpädagogik. 1896 gründete er in Hamburg die Lehrervereinigung zur Pflege der künstlerischen Bildung und wurde zum Wortführer der “Kunsterziehungsbewegung”: Erziehung zur Kunst, Erziehung als Kunst!
Die nachstehenden Auszüge aus seiner Rede auf dem 2. Kunsterziehungstag in Weimar 1903 klingen nach hundert Jahren noch – nein: wieder ganz frisch.
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Es
ist ein Verhängnis, daß alle dauernden Einrichtungen, die das
Menschengeschlecht in den Dienst des Lebens stellt, die Neigung haben,
im Laufe der Zeit sich selber Zweck
zu werden. Wozu sie ursprünglich bestimmt waren, gerät in
Vergessenheit, denn die Menschen, in deren Hände die Ausübung gelangt
war, wachsen zu einem Stande zusammen, der sich absondert, im Gefühl
eigenen Rechts sich dem Volke gegenüberstellt und sich endlich, wenn
seine Macht herangewachsen ist, aus Helfern in Herren verwandelt. Auch
die Schule ist dem lastenden Gesetz unterworfen. Freilich nicht in der
Theorie, die mit dem Spruch “nicht für die Schule, sondern für das
Leben” prunkt. Wohl aber in der Praxis, die sich so leicht bereit zeigt,
es umgekehrt zu halten.
Es geht ums Ganze
Da sich jede Tagung nur mit einem Ausschnitt beschäftigen kann, erscheint es geboten, immer wieder darauf hinzuweisen, daß wir das Ganze der Schule im Auge haben. Es handelt sich nicht darum, die Schule mit neuen Stoffen zu belasten, wo sie unter der Last des Stoffes schon zusammenbricht, sondern ein neues Unterrichtsprinzip zu beraten, das nicht für diesen oder jenen Unterrichtsgegenstand, sondern für die ganze Erziehung gilt. Da aber an einem einzelnen Punkte angesetzt wurde, ist der Hinwies auf das Ganze hier und da überhört worden, und es darf nicht wundernehmen, daß die Absichten des Kunsterziehungstages gelegentlich verkannt wurden. Wer eine Zeitlang an irgendeiner Stätte mitgewirkt hat, weiß aus Erfahrung, daß nichts so schwer verstanden wird wie ganz einfache Gedanken.
Das ist nicht durch Reglemente und lernbare Methodik zu erreichen. Unterrichten, erziehen ist eine Kunst. Der Lehrer sollte eine künstlerische Persönlichkeit sein, und alle Lehrer, deren wir leuchtenden Blickes aus unserer eigenen Kindheit gedenken, sind es gewesen. Zum Lehrerberuf gehört eine besondere Begabung. Wer sie nicht in sich fühlt, sollte die Hand davon lassen, er würde sich und seine Schüler unglücklich machen. Aber die Frage nach der Begabung ist bei der Zulassung zum Lehrerberuf noch nicht üblich, und die Erfahrung lehrt immer wieder, daß ganz oder halb unbewußt sehr geringschätzende Vorstellungen herrschen. Ich habe mehr als einmal erlebt, daß, wenn ein als Mensch hervorragender Lehrer in einer Gesellschaft von Männern anderer Berufe Aufsehen erregt hat, nachher Äußerungen laut wurden, die das allgemeine Vorurteil grell beleuchteten. Wie schade, daß er Lehrer ist, hieß es. Er ist ja viel zu gut dafür. Ja, es ist oft genug vorgekommen, daß aus diesem Gefühl heraus der Versuch gemacht wurde, einen Lehrer, dessen Charakter und Begabung Eindruck gemacht hatten, in einen anderen Beruf zu “befördern”. Wie ein Schuljunge, der gesund und frisch ist, in Deutschland den Eindruck des Ungehörigen macht, so pflegt ein Lehrer von freiem, heiteren Wesen und überragendem Geist und Charakter auch in den herrschenden Ständen als ein Widersinn.
Der Lehrer, ein Künstler
Die Einheit der künstlerischen Erziehung, die nicht als ein äußerliches Schmuckstück für Festtage gedacht ist, sondern als eine das Leben gestaltende Entwicklung der künstlerischen Anlagen, liegt zuoberst in der Persönlichkeit des Lehrers. Was er im Schüler ausbilden will, muß zuerst in ihm selbst Leben und Gestalt gewonnen haben. Auf Unterricht kann man sich von Tag zu Tag vorbereiten, auf die Ausübung einer erzieherischen Tätigkeit nicht. Nicht energisch genug können wir betonen, daß bei jeder Art künstlerischer Erziehung der gute Wille, der nicht nach der Befähigung fragt und auf Grund eilfertiger “Vorbereitung” hastig ans Werk geht, nur Unheil anrichtet.
Alle Schulreform sollte bei der Auswahl und Bildung der Lehrkräfte einsetzen. Nur wenn wir den Lehrer als Künstler auffassen und ihn als Künstler wirken lassen, werden die Übelstände verschwinden, die heute mit Mißtrauen gegen die Schule erfüllen. Nur der Lehrer kann die Schule retten.
*) aus: Die Einheit der künstlerischen Erziehung, Rede
auf dem 2. Deutschen Kunsterziehungstag; gehalten am 11. 10. 1903 in
Weimar; vollständiger Wortlaut (u. a.) in: Wilhelm Flitner (Hg.), Die
deutsche Reformpädagogik – die Pioniere der pädagogischen Bewegung,
Stuttgart 1982; S. 110-119
Redaktion: J. Ebmeier
Dezember 17, 2008
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