Montag, 2. April 2018

Die Entdeckung des Ästhetischen.

Antje Wagler
Es gibt keine Wissenschaft
des Schönen, sondern nur Kritik.
Kant
Einer der ersten und eifrigsten Hörer Fichtes war Johann Friedrich Herbart [22] gewesen. Er hatte zu seinem engeren Kreis gehört, der Jenenser Gesellschaft freier Männer. Von seiner Philosophie hat er sich bald abgewandt, aber seinem Weg zu Pestalozzi ist er gefolgt. Er wurde Hauslehrer in Bern, und die Freude daran hat ihn fürs Leben geprägt. Bei seiner ersten pädagogischen Schrift handelt es sich um einen Kommentar zu Pestalozzis Idee eines ABC der Anschauung.[23] Im Anhang zu deren 2. Auflage 1804 formuliert er, bevor er noch die Allgemeine Pädagogik ‚aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet’ hatte,[24] seine pädagogische Grundeinsicht, die seither hätte Epoche machen sollen und es künftig sicher tut: Das Hauptgeschäft der Erziehung ist die ästhetische Darstellung der Welt.[25] So schräg das noch heute klingt, so bieder lautet aber der erste Satz seiner Abhandlung: „Man kann die eine und ganze Aufgabe der Erziehung in dem Begriff Moralität fassen“. Die Aufgabe – Moralität; das Geschäft – ästhetische Darstellung? Einen dieser Begriffe, oder alle beide, muß Herbart wohl in einem sehr eignen Sinn verwenden. 
 

‚Ästhetik’ ist, wie ‚Bildung’,[26] eine typisch-deutsche Prägung. Sie wurde von A. G. Baumgarten eingeführt. Das Werk, das diesen Titel trägt,[27] ist ein charakteristisches Produkt der Wolff’schen Schule: Wörter werden durch Wörter bestimmt. Ästhetik wird, der griechischen Wurzel gemäß,[28] als Wissenschaft des sinnlichen Erkennens definiert, aber darunter sind sowohl die Theorie der schönen Künste als auch die „untere Erkenntnislehre“, das Wissen von den Sinnesreizen gefaßt, und diese Vieldeutigkeit blieb den ästhetischen Debatten bis heut erhalten. Kant hat das Ästhetische in seine kritische Erkenntnistheorie aufgenommen und in Gestalt der Urteilskraft als eine Art Mittelglied zwischen das theoretische Vermögen (das auf Erkenntnis des Seienden gerichtet ist) und das praktische Vermögen (das ‚aus Freiheit’ postuliert, was sein soll) geschoben;[29] ohne daß immer klar würde, ob es sich dabei um ein selbständiges Drittes handelt oder um einen Übergang oder um eine Schnittmenge. Oder womöglich um die höhere Einheit? (So hat Fichte sie genommen.)

„Urteilskraft ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken.“[30] Was ist daran ästhetisch? Ästhetisch wird es, wenn das Allgemeine als der Zweck, als die höhere Bestimmung des Besondern aufgefaßt wird: „Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie, ohne Vorstellung eines Zwecks, an ihm wahrgenommen wird.“[31] Schönheit ist Zweckmäßigkeit ohne Zweck; oder schön ist, was als Zweck seiner selbst erscheint – und so gerät das Ästhetische in ganz intime Nähe zum ‚Sinn der Welt’! Denn immerhin erscheint unserm theoretischen Verstand die ganze Natur „so, als ob“ sie zweckmäßig eingerichtet sei; so, daß immer eins genau zum andern paßt; so, als ob sie nach einem Plan gemacht ist.[32] 


Das ist zunächst einmal eine nützliche Fiktion, wenn es darum geht, die Dinge der Welt industriell brauchbar zu machen, und rechtfertigt sich durch den Erfolg. Aber abgesehen davon? Abgesehen davon erscheint die Zweckmäßigkeit der Welt ohne Zweck. Es ist eine ästhetische Idee, die unserer Umgangssprache als Sinn geläufig ist. „Unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. h. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.“[33] Die Einbildungskraft ist nämlich das „produktive Erkenntnisvermögen“, ihr Geschäft ist die „Schaffung gleichsam einer andern Natur aus dem Stoff, den ihr die wirkliche gibt.“[34] Die andere, unstoffliche, überwirkliche ‚Natur’, das ist die Welt des Sinns; des moralischen, des ästhetischen – gleichviel: „Das Schöne ist das Symbol des Sittlichen.“[35] 

Die Kritik der Urteilskraft war ein Nachzügler, die dritte der Kritiken, und führte den Autor zu Ergebnissen, die er nicht erwartet hatte. Den erwähnten Halbheiten und Widersprüchen fügte sie das ihre hinzu. Die obige Darstellung ist nicht bloß eine Raffung, sondern eine Interpretation. Andere sind möglich; ob sie aber schlüssiger wären? Diese hier tut dem Geschmack des Autors immerhin keine Gewalt: hatte er doch seinen Abfall vom Wolff-Leibniz’schen System mit den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen[36] eingeleitet, wo er sich – halb versuchsweise und tändelnd – an die Kunst- und Schönheitsmetaphysik des Grafen Shaftesbury anschloß.[37] Jedenfalls wurde die Kritik der Urteilskraft zu so etwas wie der Geburtsakte von Romantik und ‚Wissenschaftslehre’.

[22] dt. Philosoph und Psychologe, 1776-1842 
[23] (1803) Herbart, Sämtliche Werke (Hg. Hartenstein) Bd. 11, Hbg./Lpzg. 1892 
[24] ders., Allgemeine Pädagogik, aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet (1806) in: aaO, Bd. 10, 1891; neu u. a.: (Hg. Holstein) Bochum 61983 
[25] Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung, 
[26] Die Unterscheidung zwischen Bildung und Ausbildung gibt es nur im Deutschen; sie stammt, nicht dem Wort, aber dem Sinn nach, von Fr. I. Niethammer (s. Anm. 18) 
[27] Alexander Gottlieb Baumgarten, Aesthetica, 2 Bde. Ff/O 1750/58 
[28] gr. aísthesis, Sinneswahrnehmung 
[29] Kritik der Urteilskraft in: Kant, Werke (Hg. Weischedel) Bd. 6, Ffm. 1968 
[30] ebd, S. 87 
[31] ebd, S. 155 
[32] ebd, S. 89. – Heute kommt uns die Natur eher als ein Reich der Vergeudung vor, wo auf 1000 Versuche kaum 1 Treffer gelingt. 
[33] ebd, S. 249f. 
[34] ebd, S. 250 
[35] ebd, S. 297 
[36] (1764) in: aaO, Bd. 2, S. 823-884 
[37] Anthony Ashley-Cooper, Earl of Shaftesbury (1671-1713); trug seine Philosophie in dichterischer Form vor; wurde von Francis Hutcheson (1694-1746) systematisiert: An den knüpft Kant an.  

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen