Donnerstag, 26. Februar 2015

Betragen mangelhaft.

So lustig wie in dieser Szene aus «Conducta» geht es im kubanischen Schulalltag mitnichten immer zu.
aus nzz.ch, 26. 2. 2015


«Conducta»
Kummerbub mit engagierter Pädagogin

von Geri Krebs 

Der kubanische Schulalltag beginnt in jeder Schule des Landes morgens mit einem ewiggleichen Ritual, das sich so oder ähnlich auch in manch anderem Land Lateinamerikas abspielt: dem gemeinsamen Absingen der Nationalhymne. Doch dann folgt mit dem Ruf: «Pioniere für den Kommunismus, wir werden sein wie der Che», des Rituals zweiter Teil, der eine Exklusivität der sozialistischen Karibikinsel darstellt. «Aha, dann werden sie uns ja wohl bald einen argentinischen Pass geben», feixt daraufhin einer der kindlichen Protagonisten gegenüber seinem Klassenkameraden, darauf anspielend, dass der kubanische Revolutionsheld Ernesto «Che» Guevara Argentinier war und dass heute der Besitz eines ausländischen Passes in Kuba mit Privilegien verbunden ist, die dem normalsterblichen Kubaner verwehrt sind.

Abwesenheit der Ideologie

Die geschilderte Szene in «Conducta» ist der einzige Moment in diesem zweiten langen Kinospielfilm des 1961 in Havanna geborenen Ernesto Daranas, der eine direkte Anspielung auf die offizielle Ikonografie eines politischen Systems darstellt, dessen Gegenwart mit Wandbildern, Slogans oder Propagandaplakaten unverändert den Alltag von elf Millionen Kubanern dominiert. Man kann diese konsequente Abwesenheit der offiziellen Ideologie in «Conducta» als starkes Signal lesen für die Abrechnung mit den Zuständen in einem einst als Modell gepriesenen Land, dessen Zustand nach über einem Vierteljahrhundert des Sich-Durchwurstelns dem des Zusammenbruchs gleicht.

Im Zentrum von «Conducta» steht der elfjährige Chala (stark: Armando Valdés Freire), der als Kind seiner alkoholkranken und medikamentenabhängigen Mutter Sonia (Yuliet Cruz) in einer elenden Behausung im Zentrum Havannas lebt, die sechste Klasse der Primarschule absolviert und dort von der etwa sechzigjährigen Carmela (Alina Rodriguez) unterrichtet wird. Diese ist eine Pädagogin mit Herz und Seele, die nicht auf den Mund gefallen ist und mit ihrer Aufopferungsbereitschaft eigentlich in die offiziell herrschende Ideologie passen würde. Seinen Vater hat Chala nie gekannt, doch möglicherweise ist Ignacio (Armando Miguel Gomez) sein Erzeuger, ein Überlebenskünstler aus der Nachbarschaft, der sich mit dem Organisieren illegaler Hundekämpfe durchschlägt und auf dessen Hunde Chala in seiner Freizeit aufpasst – wenn er sich nicht seiner Lieblingsbeschäftigung widmet, der Zucht von Tauben in einem Verschlag auf dem Dach. Mit dem Flattern von Tauben in Grossaufnahmen eröffnet «Conducta» visuell und rhythmisch kraftvoll, und auch das kubanische Originalplakat zum Film zeigt den Knaben mit einem dieser Vögel, die international als Friedenssymbol verstanden werden und die ausserdem in den afrokubanischen Religionen eine wichtige Rolle spielen.

Der Schweizer Verleih übersetzt «Conducta» mit «Das Verhalten» – was insofern zutrifft, als im Film dem Protagonisten die Versetzung in eine sogenannte «escuela de conducta» droht, eine geschlossene Internatsschule für Kinder, die man bei uns mit dem Etikett «verhaltensauffällig» versehen würde. Andererseits aber wäre die Übersetzung «Betragen» wohl zutreffender, ein Terminus, der auch bei uns früher in den Schulzeugnissen mit einer Note versehen wurde und der im kubanischen Schulsystem immer noch existiert – und so kann eine ungenügende Note in Betragen einen Schüler in die berüchtigte «escuela de conducta» bringen.

Es gab sie immer schon in Kuba, diese Zustände der Marginalität, in denen sich «Conducta» bewegt, und das kubanische Kino hat auch wiederholt davon erzählt. Anders ist an «Conducta» in dieser Hinsicht die Offenheit und die totale Illusionslosigkeit, mit der hier das Leben einer Handvoll von Bewohnern Havannas gezeigt wird, die versuchen, in einer aufs reine Überleben sich konzentrierenden Gesellschaft irgendwie ein Auskommen zu finden. Und es ist erstaunlich, wie viele systembedingte Kalamitäten in diesem Plot versammelt werden: Da ist etwa das Mädchen Yeni, das – spiegelbildlich zu Chala – nur seinen Vater hat und mit diesem als «illegale Einwanderin aus den Ostprovinzen» in einer Bretterhütte direkt an den Bahngleisen lebt und das mit dem Vater zusammen gegen Ende des Films so erbarmungslos in seine Heimatprovinz deportiert wird, wie auch Carmela aus dem Schuldienst gedrängt wird, weil sie sich zu sehr mit den Bürokraten angelegt hat, die hier das Sagen haben.



Wider die offizielle Propaganda

Doch nicht nur in den Hauptsträngen der Handlung geschehen Dinge, die in Kuba eigentlich gar nicht geschehen dürften, so man der offiziellen Propaganda Glauben schenken würde. So ist «Conducta» beispielsweise der erste kubanische Film, in dem die Rede davon ist, dass es in dem Land politische Gefangene gibt – einer von Chalas Klassenkameraden erwähnt, dass sein Vater als solcher im Gefängnis sitze, und einige Szenen später sieht man, wie der Knabe den Vater eines Tages unverhofft in die Arme schliessen kann, als dieser überraschend aus der Haft entlassen wurde.

Begeisterungsstürme in Kuba

In Kuba haben im Laufe des letzten Jahrzehnts schon mehrfach populäre Spielfilme, in denen kindliche Hauptdarsteller ihr beachtliches Können unter Beweis stellten, beim einheimischen Publikum Furore gemacht. So etwa «Viva Cuba!» von Juan Carlos Cremata (2005) oder «Habanastation» von Ian Padrón (2011), zwei Filme, die zwar eine beachtliche internationale Festivalkarriere erreichten, es jedoch nie ins hiesige Kino schafften. Der starke sozialkritische Unterton dieser Filme, die ebenfalls von in marginalen Verhältnissen lebenden Kindern handelten, geht in «Conducta» allerdings weit über das hinaus, was man bisher kannte. Das dürfte auch der Grund sein dafür, dass der Film – der in den kubanischen Kinos bereits vor Jahresfrist Furore machte und im vergangenen Dezember am Filmfestival Havanna von der internationalen Jury mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde – in Kuba für ähnliche Begeisterungsstürme sorgte wie zwei Jahrzehnte zuvor Tomás Gutiérrez Aleas und Juan Carlos Tabíos «Fresa y Chocolate». Kino als Ventil für aufgestauten Unmut in einem Land, dessen Medien unverändert unter einer eisernen Zensur leiden, funktioniert immer noch gut.

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