Mittwoch, 29. Oktober 2014
Verstopfen.
divinatrix
Es ist ein Fehler in unsern Erziehungen, daß wir gewisse Wissenschaften so früh anfangen, sie verwachsen so zu sagen in unsern Verstand, und der Weg zum Neuen wird gehemmt. Es wäre die Frage ob sich die Seelenkräfte nicht stärken ließen ohne sie auf eine Wissenschaft anzuwenden.
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Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, A
Mittwoch, 22. Oktober 2014
Kompetenzen: ein Sieg der Erbsenzähler.
aus nzz.ch, 22.10.2014, 05:30 Uhr
Genug der Literatur
Österreichs Mut zur Bildungslücke
«Literatur ist Teil der standardisierten Reifeprüfung, und das ist gut und genug so», liess Österreichs Unterrichtsministerin Gabriele Heinisch-Hosek unlängst verlautbaren. Es ging dabei wohlgemerkt um die Reifeprüfung im Fach Deutsch. Mehr noch als die Notwendigkeit einer solchen Klarstellung befremdet ihr Inhalt: Hier wird nicht über die Art und Weise verhandelt, wie mit Literatur umzugehen sei, und auch längst nicht mehr über Kanonfragen oder Ähnliches debattiert. Kritiker haben gefälligst froh zu sein, dass Literatur bei der Matura überhaupt irgendwie vorkommt, und damit basta.
Zu behaupten, das sei «gut so», ist mehr als kühn: So wurde den Maturanden beim missglückten Probegalopp für die nun trotz allem eingeführte österreichische Zentralmatura ein miserabler Text mit Nazi-Hautgout vorgelegt. Macht nichts, immerhin war's ein Stück Literatur, und mit Kontextfragen wollte man die Prüflinge ohnehin nicht behelligen: Nicht die deutsche oder österreichische (Literatur-)Geschichte stand bei der Reifeprüfung in Deutsch im Vordergrund, sondern das Thema «Verantwortung gegenüber Umwelt und Gesellschaft» bzw. der Drei-Schluchten-Staudamm in China. Auf diese Weise benutzt, wird Literatur schnell mehr als «genug so»: dann lieber gleich weg damit.
Ihre Herabstufung zum blossen Impulsgeber für Diskussionen über scheinbar Wichtigeres hat zwei Gründe: Zentralisierung und «Kompetenzorientierung». Vermeintlich altmodisches Wissen wird durch vermeintlich topaktuelle Fertigkeiten alias Kompetenzen aka Skills ersetzt. Diese sollen Jugendliche anhand möglichst leicht vergleichbarer schriftlicher Arbeiten beweisen. Dazu braucht es wiederum einen Textsorten-Kanon, dessen Beherrschung zum alleinigen Ziel des Deutschunterrichts in der Oberstufe geworden ist. Der Weg führt direkt in die pädagogische Steinzeit: «Skill» reimt sich auf Drill.
«Gut» ist in Österreich eine Lehrkraft dann, wenn sie ihre Schüler möglichst intensiv im Verfertigen der vom Ministerium festgelegten Textsorten trainiert. Lesen um des Lesens willen, das Wecken intellektueller Neugier, Lust an der Erkenntnis: Schnee von gestern. Die nun stupide einzuübenden Textsorten wirken noch dazu willkürlich zusammengeschustert und sind von fragwürdiger Relevanz. Leserbriefe mit geforderten 500 Wörtern Länge oder eine zu Matura-Ehren gelangte «Empfehlung» sorgen genauso für Kopfschütteln wie die plötzlich aufgetretene Notwendigkeit, alle Maturanden des Landes das Schreiben offener Briefe üben zu lassen. Der in Wien lehrende Bildungsforscher Stefan Hopmann bringt die Situation auf eine recht einfache Formel: Zentralisierte Testbarkeit und «Kompetenzgeschwurbel» sind mit der Erziehung zu selbständigem Denken nicht unter einen Hut zu bringen.
Blosse Spekulation ist vorerst, ob diese Misere nun ein Symptom intellektueller Unbedarftheit oder österreichischer Wurstigkeit ist, oder vielmehr Teil einer perfiden Strategie mit welchen Zielen auch immer. Wahrscheinlicher ist, dass wir bloss einen weiteren Sieg der Erbsenzähler erleben, denen zähl- und damit «evaluierbare» Quantität grundsätzlich lieber ist als die sperrige, recht schwer in ein Raster zu pressende Qualität. Zumindest die von den Lehrern anzuwendenden Beurteilungsraster mit 120 anzukreuzenden Kästchen pro Schülertext legen diesen Schluss nahe: Indem man es in lauter winzig kleine Teilurteile zerlegt und diese dann addiert, soll ein zwangsläufig subjektives Urteil in ein objektives verwandelt werden. Gut, dass Lehrer, die nächtelang über sinnlosen Tabellen brüten, keine Energie mehr zum Nachfragen haben.
Die österreichische IG Autoren fordert unterdessen, das Fach «Deutsch» – es hiess einmal verschämt «Unterrichtssprache» – in «Deutsch und Literatur» umzubenennen. Angesichts der nun einmal getroffenen Entscheidungen purer Etikettenschwindel. Der Gesundheit zuträglicher scheint es, dem von der Ministerin propagierten Mut zur Bildungslücke Positives abzugewinnen. So freut sich der Wiener Germanist Werner Michler öffentlich über das Verschwinden der Literatur aus der Schule, denn «vielleicht ist ihr damit ein guter Dienst geleistet, wenn man sieht, was dort an höchster Stelle mit ihr angestellt wird».
Nota. - Ich glaube, ich sagte es bereits. Als seinerzeit PISA die "Kompetenz zur Welterschließung" zum Maßstab erziehungswissenschaftlicher Wertung erhob, glaubten naive Unprofessionelle wie ich schon, mit dem quantifizierenden Abfragen von Wissenseinheiten solle es endlich ein Ende haben, und in den Blick- punkt geriete nun die gesamte (zu bildende) qualitative Persönlichkeit.
Pustekuchen. Indem sämtliche inhaltliche Bestimmung aus dem Zu-Lernenden ausgeschieden wurde, wur-de Alles einander gleichgemacht - und eo ipso erst recht quantifizier- und testbar. (Es scheinen aber auch personelle Veränderungen in den PISA-Stäben ihre Rolle gespielt zu haben. Nur erfährt die Öffentlichkeit davon nichts, weil PISA eine geheime Haupt- und Staatsaktion ist.)
JE
Das schrieb ich am 1. 2. 14:
Die Absicht ist ja löblich. Statt wie bisher mit Fleiß Daten zu speichern, sollen nun Fähigkeiten entwickelt werden. Die Crux ist nur - ob das gelang, lässt sich nicht prüfen, weil es sich nicht quantifizieren lässt. Und das geht nicht, weil es sich nicht... operationalisieren ließ. Mit andern Worten: Fähigkeiten lassen sich nicht lehren. Das System Schule ist nicht das Feld, wo sich Begabungen zu Fähigkeiten kultivieren können. Na ja, im günstigen Fall können sie es schon. Nur ist im System Schule der günstige Fall nicht die Regel, sondern die Ausnahme; nämlich wenn der Lehrer richtig gut ist.
Das System Schule favorisiert aber nicht die richtig guten Lehrer, sondern den Durchschnitt, und der wird gerade mal den Schülern gerecht, die selber Durchschnitt sind. Das ist ihnen ja nicht vorzuwerfen, aber es geht auf Kosten all der andern. Und daran wird sich nichts ändern, solange Schulen Schulen sind. JE
Montag, 20. Oktober 2014
"Eltern haben in der Schule nichts zu sagen"
"Eltern haben in der Schule nichts zu sagen"
Erziehungswissenschafterin
Wolf: Viele sozial benachteiligte Eltern fühlen sich von der Schule
übergangen und abgekanzelt - Kluft zwischen Stadt und Land
Innsbruck/Wien - Sozial benachteiligte Eltern fühlen sich von der Schule übergangen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Erziehungswissenschafterin Maria Wolf (Uni Innsbruck), für die sie Einzel- und Gruppeninterviews mit sozioökonomisch oder vom Bildungsverlauf benachteiligten Eltern geführt hat. Bei der Unterstützung für die Kinder gebe es zudem eine deutliche Kluft zwischen Stadt und Land.
"Eltern haben in der Schule nichts zu sagen"
Innerhalb der interviewten Gruppe habe man auf eine Vielzahl an unterschiedlichen Lebensläufen geachtet, so Wolf. So habe man mit Alleinerziehern, Patchwork- sowie klassischen Familien, Migranten wie "Einheimischen" sowie Land- und Stadtbewohnern gesprochen. Auch arbeitslose Akademiker seien darunter gewesen. Ein roter Faden durchziehe die Berichte dabei, schreibt sie in einer Broschüre zum Thema: "Eltern haben in der Schule 'nichts zu sagen', obwohl sie von der Schule ständig eingeladen werden 'zu sprechen' und die Schule täglich Gesprächsthema zwischen Eltern und Kindern ist."
"Diese Eltern machen immer wieder die Erfahrung, dass sie vortragen können, was sie wollen - sie merken aber, dass sie damit keinen Erfolg haben", so Wolf. "Sie erfahren ein Machtgefälle zwischen Elternhaus und Schule." Dabei seien sie oft in der Zwickmühle, durchaus konstruktive Kritik vortragen zu wollen, gleichzeitig aber diese so formulieren zu müssen, dass "die Lehrerin nicht verärgert ist". In einem Interview habe eine Frau etwa gemeint: "Aber auf jeden Fall" müsse sie "beim Sprechen mit der Lehrerin immer 'Okay, Frau Lehrerin, du hast recht' sagen", bevor sie auch ihre Kritik äußere.
Abgekanzelt und ignoriert
Trotzdem würden sie regelmäßig abgekanzelt bzw. ignoriert, so Wolf. Sie erführen dabei regelmäßig - und das sei der zweite rote Faden in der Studie -, dass "in der Schule eine 'Kultur der Unfehlbarkeit' vorherrscht: Die Schule macht alles richtig". Konsequenz: Viele Eltern würden nach einmal fruchtlos geäußerter Kritik den Kontakt vermeiden.
Mit der Forschungsarbeit will Wolf auch das unterbelichtete Feld der Elternforschung in den Fokus rücken: "Die Schulpädagogik untersucht seit Jahrzehnten unterschiedliche Aspekte des Schulalltags: Didaktik, Schüler-Lehrer-Beziehung etc. Das ist auch gut. Lehrer können daher immer wieder auf Studien oder ihre gewerkschaftliche Vertretung zurückgreifen. Bei Eltern ist das anders: Es gibt kaum Studien, und die Elternvertretung wird nicht wirklich als solche wahrgenommen. Deren Aufgabe wird darin gesehen, das Buffet bei Schulveranstaltungen zu organisieren - einen Machtfaktor stellt sie nach Ansicht der Eltern nicht dar. Der Einfluss der Elternvertretung an den Schulen geht gegen null."
Übertritt von Volksschule
Überrascht war Wolf über die unterschiedlichen Fördermöglichkeiten zwischen Stadt und Land: "In der Stadt wird eine Infrastruktur angeboten mit Hortbetreuung, Schulen mit Nachmittagsbetreuung oder Lernhilfe. Wenn man am Land benachteiligt ist, kommt man da nicht raus." Eltern würden ihre Kinder zwar jährlich zur Lernhilfe am Nachmittag anmelden, diese komme aber nie zustande, da sich aufgrund der niedrigen Bevölkerungszahl zu wenige Kinder angemeldet hätten, heißt es in einem Interview. Und, so eine Mutter: "Ein Lehrer will ja auch am Nachmittag seine Freiheiten oder seine Freizeit haben. Und wenn da jetzt zehn Manderln sind von Kindern, wird sich der da nicht hinsetzen und mit den Kindern lernen."
Benachteiligung am Land
Übergangen fühlen sich viele Eltern am Land auch beim Schulwechsel nach der Volksschule - die Entscheidung für die Hauptschule bzw. Neue Mittelschule werde dabei oft als gegeben angesehen, zeigen manche Interviews. "Das ist automatisch gegangen. Weil wir dann nach XXX hergezogen sind, und da ist die Volksschule und Hauptschule eben gleich nebeneinander, und da ist überhaupt nie irgendwas geredet worden. Das ist das, was ich eigentlich auch nie verstanden habe. Das ist, wie wenn das normal gewesen wäre, automatisch. Da hat uns auch niemand informiert oder irgendwas ..."
Besonders betroffen davon sind Kinder von Eltern mit Migrationsgeschichte: "Viele Volksschullehrerinnen sagen immer: 'Ah, euer Kind kann nicht ein Gymnasium besuchen, es muss die Hauptschule besuchen' und so weiter. Kannst du mal Hauptschule besuchen ... Trotz lauter Noten mit Eins." Oder: "Sie hat komischerweise allen türkischstämmigen Mädchen die gleiche Schule empfohlen ..."
(APA)
Nota
Da mag sich ein Lehrer noch so mühen, an der Grundsituation wird er nichts ändern: Gegenüber Privatpersonen, die "immer nur an ihr eigenes Kind denken", vertritt er eine Institution, die ihrerseits das Große Ganze vertritt. Das ist ein Ungleichgewicht, das sich nicht aus der Welt schaffen lässt. Dass er sich im Gespräch als pädagogischer Experte gegenüber bloßen Dilettanten fühlt, weil er eine staatlich zertifizierte Ausbildung absolviert hat, kommt erschwerend hinzu, ist aber nicht der Kern des Problems (wenn's auch die Eltern am meisten wurmt). Die Schule ist selber das Problem und wird es immer bleiben, weil sie nur eine Notlösung ist und kein Ideal, an dessen Erfüllung sich arbeiten ließe.
JE
Samstag, 18. Oktober 2014
Blurp (ganz zentral).
Petra Dietz / pixelio.de
Eva Noll
Pressestelle
Bergische Universität Wuppertal
21.03.2014 10:37
Heterogenität, Intersektionalität und Diversity sind wichtige Trendthemen der Erziehungswissenschaft. „Für das Studium und die Praxis ist es heute zentral, diese pädagogischen Konzepte zu verstehen und die Begriffe richtig verwenden zu können“, sagt Dr. Katharina Walgenbach, Professorin für Gender und Diversity an der Bergischen Universität Wuppertal. In ihrem neuen Lehrbuch „Heterogenität – Intersektionalität – Diversity in der Erziehungswissenschaft“ erläutert sie die Herkunft der Themen und gibt einen Überblick über aktuellste Debatten und Anwendungsbereiche.
„Die pädagogischen Konzepte stammen aus unterschiedlichen Teildisziplinen: Heterogenität wird primär in der Schul- und der interkulturellen Pädagogik verhandelt, Intersektionalität in der Geschlechterpädagogik, Diversity insbesondere in der Sozial- und interkulturellen Pädagogik“, so Walgenbach. In ihrem Buch schafft sie Klarheit [ganz wichtig] in der Begriffskonfusion und sorgt für die richtige Anwendung [noch zentraler] in Studium und pädagogischer Praxis, heißt es in der Verlagsmitteilung.
Katharina Walgenbach studierte Pädagogik, Soziologie und Wirtschaft/Politik an der Pädagogischen Hochschule Kiel. 2004 promovierte sie an der Uni Kiel, der Titel ihrer Arbeit lautet „Weiße Identität, Geschlecht und Klasse“. Nach einer fünfjährigen Postdoc-Phase am Institut für Erziehungswissenschaft der Uni Gießen kam sie 2010 nach Wuppertal. Walgenbach ist Mitglied der Redaktion Jahrbuch Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft und war bis Anfang dieses Jahres Vorsitzende der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Soziale Heterogenität, Geschlechterforschung, Bildung und soziale Ungleichheiten sowie Jugendforschung.
Walgenbach, Katharina: Heterogenität – Intersektionalität – Diversity in der Erziehungswissenschaft, UTB 2014, 143 Seiten, 19,99 Euro.
Kontakt:
Prof. Dr. Katharina Walgenbach
Fachbereich Bildungs- und Sozialwissenschaften
Telefon 0202/439-2302
E-Mail walgenbach@uni-wuppertal.de
Nota.
Das lag schon zu lange bei mir auf Halde, nun will ich es Ihnen nicht länger vorenthalten.
JE
Pressestelle
Bergische Universität Wuppertal
21.03.2014 10:37
Heterogenität, Intersektionalität und Diversity sind wichtige Trendthemen der Erziehungswissenschaft. „Für das Studium und die Praxis ist es heute zentral, diese pädagogischen Konzepte zu verstehen und die Begriffe richtig verwenden zu können“, sagt Dr. Katharina Walgenbach, Professorin für Gender und Diversity an der Bergischen Universität Wuppertal. In ihrem neuen Lehrbuch „Heterogenität – Intersektionalität – Diversity in der Erziehungswissenschaft“ erläutert sie die Herkunft der Themen und gibt einen Überblick über aktuellste Debatten und Anwendungsbereiche.
„Die pädagogischen Konzepte stammen aus unterschiedlichen Teildisziplinen: Heterogenität wird primär in der Schul- und der interkulturellen Pädagogik verhandelt, Intersektionalität in der Geschlechterpädagogik, Diversity insbesondere in der Sozial- und interkulturellen Pädagogik“, so Walgenbach. In ihrem Buch schafft sie Klarheit [ganz wichtig] in der Begriffskonfusion und sorgt für die richtige Anwendung [noch zentraler] in Studium und pädagogischer Praxis, heißt es in der Verlagsmitteilung.
Katharina Walgenbach studierte Pädagogik, Soziologie und Wirtschaft/Politik an der Pädagogischen Hochschule Kiel. 2004 promovierte sie an der Uni Kiel, der Titel ihrer Arbeit lautet „Weiße Identität, Geschlecht und Klasse“. Nach einer fünfjährigen Postdoc-Phase am Institut für Erziehungswissenschaft der Uni Gießen kam sie 2010 nach Wuppertal. Walgenbach ist Mitglied der Redaktion Jahrbuch Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft und war bis Anfang dieses Jahres Vorsitzende der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Soziale Heterogenität, Geschlechterforschung, Bildung und soziale Ungleichheiten sowie Jugendforschung.
Walgenbach, Katharina: Heterogenität – Intersektionalität – Diversity in der Erziehungswissenschaft, UTB 2014, 143 Seiten, 19,99 Euro.
Kontakt:
Prof. Dr. Katharina Walgenbach
Fachbereich Bildungs- und Sozialwissenschaften
Telefon 0202/439-2302
E-Mail walgenbach@uni-wuppertal.de
Nota.
Das lag schon zu lange bei mir auf Halde, nun will ich es Ihnen nicht länger vorenthalten.
JE
Donnerstag, 16. Oktober 2014
Nur Gattungen, keine Individuen.
Ein Schullehrer und Professor kann keine Individuen erziehn, er erzieht bloß Gattungen. Ein Gedanke, der sehr viele Beherzigung und Auseinandersetzung verdient.
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Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, H
Dienstag, 14. Oktober 2014
Gemeinsam lernen oder auch nicht.
aus Die Presse, Wien, 14.10.2014 | 12:10 |
Gesamtschule:
„Der Schuss geht vielleicht nach hinten los“
Roland
Grabner ist der österreichweit erste Professor für Begabungsforschung.
Im Interview spricht er über den Umgang mit Heterogenität in der Klasse.
Von Rosa Schmidt-Vierthaler
DiePresse.com: Sie haben einen neuen Lehrstuhl für Begabungsforschung inne. Wie stark hängen Begabung und Schulerfolg zusammen?
Sie untersuchen das ganze Spektrum von Lernstörungen bis hin zur Hochbegabung. Brauchen besonders starke und besonders schwache Schüler ähnliche Rahmenbedingungen?
Als Lehrperson hat man stets eine heterogene Gruppe vor sich. Schüler unterscheiden sich nicht nur in Bezug auf die Intelligenz, sondern auch in Motivation, Interessen, Vorwissen und anderen Lernvoraussetzungen. Je besser man auf diese Individuellen Voraussetzungen im Unterricht eingehen kann, desto besser werden die Schüler auf allen Ebenen davon profitieren. Es reicht nicht, dass sich Unterricht am fiktiven Durchschnittsschüler orientiert. Sondern es bedarf eines individualisierten Unterrichts, in dem der Lehrer versucht, die Schüler dort zu fördern, wo sie sich aktuell befinden.
Das würde wohl jeder Lehrer gern machen. Es ist aber nicht so einfach in einer Klasse mit 30 Schülern.
Das ist schon immer eine große Herausforderung gewesen. Nicht nur in Bezug darauf, dass ein Teil der Schüler vielleicht hochbegabt ist oder ein Teil speziellen Förderbedarf hat. Entscheidend ist, dass auch neue didaktische Methoden eingesetzt werden, mit denen die Lehrpersonen den Lernfortschritt der Schüler besser verfolgen und den Unterricht entsprechend anpassen können.
Kann man sagen, dass begabtere Schüler mit offenem Lernen besser zurecht kommen und weniger Begabte einen festeren Rahmen brauchen?
Im Durchschnitt sprechen die Befunde dafür. Bei Begabteren scheint die Gestaltung des Unterrichts weniger Einfluss auf ihren Lernerfolg zu haben als bei weniger Begabten. Die scheinen eher von strukturiertem Unterricht zu profitieren. Das ist ein Befund aus der Lernforschung, der sich immer wieder zeigt.
Sollte man dann nicht versuchen, die Klassen so homogen wie möglich zu halten?
Die Schwierigkeit liegt darin, homogene Klassen zu bilden. Denn selbst, wenn man einen engen IQ-Bereich voraussetzen würde, unterscheiden die Schüler sich in ihrem Begabungsprofil und anderen bedeutsamen Lernvoraussetzungen. Selbst in Klassen oder Schulen für Hochbegabte sind die Lehrpersonen mit heterogenen Lerngruppen konfrontiert. Die Homogenisierung ist äußerst plausibel, wenn man wirklich homogene Lerngruppen hat - und da bringt sie sicherlich auch Erfolge. Allerdings scheitert es dann doch an der praktischen Umsetzung.
Was bedeutet das für die Gesamtschuldiskussion?
Im Bezug auf die Gesamtschule sollte man bedenken: Wenn man einfach die Schulform ändert, ohne den Unterricht zu ändern, also die Lehrer mit der Unterstützung ausstattet, die sie brauchen, dann wird sich der Lernerfolg vermutlich nicht stark verbessern. Vielleicht geht der Schuss sogar nach hinten los. In einer Gesamtschule hätten wir natürlich eine etwas höherer Heterogenität, die besondere Anforderungen an die Lehrenden stellt. Wenn die Lehrer keine Möglichkeit haben, damit umzugehen, sei es, weil ihnen die Unterstützung fehlt, weil Personal fehlt, weil sie nicht die Kompetenzen haben, dann wird das auch nicht besonders zielführend sein. Für den Lernerfolg ist wichtiger, was im Unterricht passiert, als die konkrete Schulform. Lernwirksamen Unterricht gibt es genauso in Gesamtschulen wie in anderen Schulformen. Es scheint an der Zeit zu sein, die Aufmerksamkeit auf einen konstruktiven Umgang mit Heterogenität zu richten.
Roland
Grabner (39) ist ein österreichischer Psychologe und
Neurowissenschaftler. Seit Herbst 2014 hat er den österreichweit ersten
Lehrstuhl für Begabungsforschung an der Universität Graz inne. In seinem
Forschungsbereich wird er sich dem ganzen Spektrum kognitiver Begabung
widmen: Von der Lernstörungen bis hin zur Hochbegabung.
Nota.
So richtig wie am ersten Tag bleiben die Einwände, die Johann Friedrich Herbart, der Begründer der wissenschaftlichen Pädagogik, schon vor 200 Jahre gegen die Schule als solche hatte...
JE
Nota.
So richtig wie am ersten Tag bleiben die Einwände, die Johann Friedrich Herbart, der Begründer der wissenschaftlichen Pädagogik, schon vor 200 Jahre gegen die Schule als solche hatte...
JE
Montag, 13. Oktober 2014
Und können mehr, als man denkt.
aus nzz.ch, 13.10.2014, 13:10 Uhr
Granth Thakkar,
13-jähriges Mathematik-Genie aus Indien
13-jähriger Inder ist Weltmeister im Kopfrechnen
Bei dieser Weltmeisterschaft ist Köpfchen gefragt. Taschenrechner und andere Hilfsmittel sind tabu. Ein 13-Jähriger aus Indien holt den Titel.
(dpa) Während andere Schüler über knifflige Mathe-Aufgaben stöhnen, können Rhea Shah und Granth Thakkar nicht genug davon bekommen. Achtstellige Zahlen miteinander multiplizieren, Wochentage des vergangenen Jahrhunderts bestimmen oder Quadratwurzeln aus mehrstelligen Zahlen ziehen – alles kein Problem. «Zahlen sind unsere Leidenschaft. Wir lieben es, zu rechnen», sagen die beiden 14 und 13 Jahre alten Inder. Dafür brauchen sie weder Taschenrechner noch Papier oder Stift. Gerechnet wird im Kopf.
40 Mathematik-Talente aus 18 Ländern
Die Leidenschaft zahlt sich aus: Bei der 6. Weltmeisterschaft im Kopfrechnen holte Granth Thakkar als einer der jüngsten Teilnehmer am Wochenende in Dresden den Weltmeistertitel in der Gesamtwertung. Der 13-Jährige löste die meisten Aufgaben fehlerfrei und in kürzester Zeit. «Ich bin glücklich, glücklich, glücklich», sagte Granth nach der Entscheidung der Jury. Während der Wettbewerbe sei er ein wenig unsicher gewesen, ob er es tatsächlich schaffen würde. Rhea Shah wurde Weltmeisterin in der Einzelkategorie Wurzelziehen
Zweiter in der Gesamtwertung wurde Marc Jornet Sanz aus Spanien, gefolgt von dem Japaner Chie Ishikawa. Insgesamt traten 40 Mathematik-Talente aus 18 Ländern gegeneinander an. Der jüngste Teilnehmer war ein zehn Jahre alter Inder, der älteste ein 80-jähriger Franzose. Die Weltmeisterschaft im Kopfrechnen findet alle zwei Jahre statt.
Obwohl Granth Thakkar bereits mehrere Weltrekorde holte, freute er sich über seinen ersten Titel als weltbester Kopfrechner. Schon am Wochenende zuvor hatte er eine Goldmedaille bei der Junior-Kopfrechenweltmeisterschaft in Bielefeld geholt. Organisator und Jurymitglied Ralf Laue sprach von einem «echten Überflieger».
Kopfrechnen in Indien weit verbreitet
Mit elf Jahren nahm Granth zum ersten Mal an einer Olympiade teil, mittlerweile hat er sich an den Erfolg gewöhnt. «Ich bin natürlich stolz. Aber mit der Zeit wird das irgendwie normal.» Der jüngste Weltmeister der Geschichte ist er dennoch nicht. Bei der Kopfrechnen-WM 2010 gewann die damals elfjährige Priyanshi Somani – ebenfalls aus Indien.
Dort sei Kopfrechnen weiter verbreitet als hier, erläuterte Ralf Laue. Es gebe zahlreiche Wettbewerbe im Kopfrechnen, die Disziplin sei schon bei den Jüngsten populär.
Dabei steckt nicht nur Talent, sondern vor allem jede Menge Übung hinter den Rechenkünsten, verrät die Trainerin des indischen Teams, Gwendolen Noronha. An normalen Tagen paukt sie mit ihren Schützlingen vier bis fünf Stunden. Vor Wettkämpfen wie der Weltmeisterschaft können es bis zu zwölf Stunden sein. «Man braucht nicht als Genie geboren zu werden», ist die 26-Jährige überzeugt. Genug vom Rechnen haben die Mathe-Fans nach diesem straffen Programm nicht. «Ferien brauche ich nach der WM nicht, im Gegenteil», sagte Rhea strahlend.
Taschenrechner, Papier und Stift tabu
Zwei Tage brüteten die Rechenkünstler in einem Prüfungssaal der Technischen Universität Dresden über den Aufgaben. Taschenrechner sowie Papier und Stift waren tabu, nur das konkrete Endergebnis durfte notiert werden. Unter anderem mussten achtstellige Zahlen miteinander multipliziert, zehnstellige Zahlen addiert oder kalendarische Daten dem jeweiligen Wochentag zugeordnet werden. Was wird der 22. Juli 2051 für ein Wochentag sein?, hiess es da. Oder: was ist die Wurzel aus 342624? Zudem mussten die Kandidaten knifflige Überraschungsaufgaben lösen.
Jeder Kopfrechner habe seine eigene Methode, erklärte Laue. Viele trainierten zunächst mit einem Abakus, einer Rechenmaschine mit kleinen Kugeln. Nach einiger Zeit brauche man die Maschine nicht mehr, es reiche, sich die Aufgabe bildlich vorzustellen: «Wie ein Klavierspieler, der irgendwann nicht mehr auf die Noten schauen muss.» Eine anderer Trick sei es, sich für eine Kombination von zwei bis drei Zahlen ein Bild vorzustellen und daraus Geschichten zu entwickeln.
König der Primzahlen
Bei öffentlichen Rechen-Shows gaben die «Superhirne» Kostproben ihres Könnens und verrieten ihre Methoden, sich lange Kolonnen von Zahlen und Begriffen einzuprägen. Ein achtjähriger Schüler aus Indien, der allerdings nicht zur offiziellen WM antrat, ordnete einen Rubik-Zauberwürfel mit verbundenen Augen. Mit dabei war auch der Niederländer Willem Bouman. Der 75-Jährige ist in der Szene als König der Primzahlen bekannt. Wenn er eine Handynummer sieht, zerlegt er sie gern in ihre Primzahlen – in Sekundenschnelle.
Granth Thakkar dagegen mag am liebsten Quadratwurzeln. Wenn der 13-Jährige nicht gerade rechnet, bleibt manchmal auch Zeit für das, was er normale Sachen nennt, Schach spielen zum Beispiel. Sein Hobby will der Zahlenakrobat später nicht zum Beruf machen. Stattdessen träumt er davon, Astronaut zu werden. «Ich stelle es mir toll vor, in den Weltraum zu fliegen.»
Nota.
Können mehr, als man denkt - das ist der Sinn dieses Eintrags. Dass so viele Kinder ganz vorn bei dieser Weltmeisterschaft abschneiden, bedeutet nicht, dass Kinder besser kopfrechnen können als Erwachsene. Wer mathematische Begabung hat, wird, wenn er erwachsen wird, Mathematik studieren. Da kann er Kopfrechnen nicht viel brauchen, und schon gar nicht hat er Zeit, für Wettbewerbe zu trainieren. Kopfrechnen ist ein Kinderspaß - sofern es einem (oder, wer hätte das gedacht, einer) Spaß macht. Das ist der Sinn der Meldung: Es gibt Kinder, denen macht das Kopfrechnen so viel Spaß, dass sie es bis zum Weltmeister bringen. Es muss nicht Nintendo sein.
JE
Sonntag, 12. Oktober 2014
Verschulung und Massenakademisierung.
aus FAZ, 12.10.2014
Buchbesprechung
von Heinz Schlaffer
...Nida-Rümelin führt den „Bologna-Irrtum“ auf ein falsches Verständnis des amerikanischen Vorbilds zurück.
Dort besucht die große Mehrheit der Studenten lediglich allgemeinbildende Colleges, deren Niveau dem der deutschen Oberstufe, nicht dem der deutschen Universität entspreche. Dem wissenschaftlichen Studium widmen sich in den Vereinigten Staaten weniger als zehn Prozent eines Jahrgangs, weshalb das europäische Ziel, mehr als fünfzig Prozent eines Jahrgangs zum akademischen Studium zu bewegen, auf einer Fehlplanung beruhe. Deren ökonomische und soziale Folgen demonstriert Nida-Rümelin an Statistiken und Schaubildern.
Um die Zielvorgaben der OECD zu erfüllen, leiten und verleiten die Bildungsinstitutionen, so ergeben Nida-Rümelins Berechnungen, doppelt so viele Jugendliche zum Studium, als die Wirtschaft benötigt. Die Folgen werden sichtbar: Fehlende Facharbeiter sind nicht durch Bachelor-Absolventen zu ersetzen; die Quote der Studienabbrecher liegt bei dreißig Prozent, da selbst die verminderten Anforderungen wissenschaftlicher Fächer für eine große Zahl von Abiturienten zu hoch sind. Hätten die Enttäuschten und Getäuschten eine berufliche Ausbildung im dualen System oder an einer Fachhochschule gewählt, so hätte ihr erwachsenes Leben nicht mit einer Niederlage begonnen.
Vielleicht steht aber hinter den Empfehlungen der OECD (E bedeutet Economic) eine ökonomische Überlegung: Die Ablösung von Wissen durch Kompetenz, von Sprachbeherrschung durch Präsentationsfähigkeit, von Fachstudium durch Kombination von Modulen schafft einen neuen Typus des Arbeitnehmers. Er muss für schnell wechselnde, unvorhersehbare Zwecke verfügbar und brauchbar sein, wobei das Festhalten an bestimmten, ernsthaft angeeigneten Inhalten, wie es früher die Bildungseinrichtungen forderten, nur hinderlich wäre. In der neuesten Technik des Unterrichts und des Vortrags, der Powerpoint-Präsentation, entdeckt Liessmann die Absicht, das selbständige, stets von Zweifeln begleitete Mitdenken auf die Zustimmung zu autorisierter Information zu reduzieren: „Bilder, Graphiken, Diagramme, Schautafeln tun so, als wäre jede Diskussion darüber hinfällig.“
...
Buchbesprechung
von Heinz Schlaffer
Julian Nida-Rümelin: Der Akademisierungswahn. Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2014. 253 S., br.,. 16,- Euro.
Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2014. 191 S., geb., 17,90 Euro.
Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2014. 191 S., geb., 17,90 Euro.
...Nida-Rümelin führt den „Bologna-Irrtum“ auf ein falsches Verständnis des amerikanischen Vorbilds zurück.
Dort besucht die große Mehrheit der Studenten lediglich allgemeinbildende Colleges, deren Niveau dem der deutschen Oberstufe, nicht dem der deutschen Universität entspreche. Dem wissenschaftlichen Studium widmen sich in den Vereinigten Staaten weniger als zehn Prozent eines Jahrgangs, weshalb das europäische Ziel, mehr als fünfzig Prozent eines Jahrgangs zum akademischen Studium zu bewegen, auf einer Fehlplanung beruhe. Deren ökonomische und soziale Folgen demonstriert Nida-Rümelin an Statistiken und Schaubildern.
Um die Zielvorgaben der OECD zu erfüllen, leiten und verleiten die Bildungsinstitutionen, so ergeben Nida-Rümelins Berechnungen, doppelt so viele Jugendliche zum Studium, als die Wirtschaft benötigt. Die Folgen werden sichtbar: Fehlende Facharbeiter sind nicht durch Bachelor-Absolventen zu ersetzen; die Quote der Studienabbrecher liegt bei dreißig Prozent, da selbst die verminderten Anforderungen wissenschaftlicher Fächer für eine große Zahl von Abiturienten zu hoch sind. Hätten die Enttäuschten und Getäuschten eine berufliche Ausbildung im dualen System oder an einer Fachhochschule gewählt, so hätte ihr erwachsenes Leben nicht mit einer Niederlage begonnen.
Vielleicht steht aber hinter den Empfehlungen der OECD (E bedeutet Economic) eine ökonomische Überlegung: Die Ablösung von Wissen durch Kompetenz, von Sprachbeherrschung durch Präsentationsfähigkeit, von Fachstudium durch Kombination von Modulen schafft einen neuen Typus des Arbeitnehmers. Er muss für schnell wechselnde, unvorhersehbare Zwecke verfügbar und brauchbar sein, wobei das Festhalten an bestimmten, ernsthaft angeeigneten Inhalten, wie es früher die Bildungseinrichtungen forderten, nur hinderlich wäre. In der neuesten Technik des Unterrichts und des Vortrags, der Powerpoint-Präsentation, entdeckt Liessmann die Absicht, das selbständige, stets von Zweifeln begleitete Mitdenken auf die Zustimmung zu autorisierter Information zu reduzieren: „Bilder, Graphiken, Diagramme, Schautafeln tun so, als wäre jede Diskussion darüber hinfällig.“
...
Donnerstag, 9. Oktober 2014
Eltern können schlechter lesen als Kinderlose.
aus DiePresse.com, 09.10.2014 | 09:54 |
"Erwachsenen-PISA": Kinderlose können besser lesen
Personen ohne Kinder erzielten bei der OECD-Studie in allen Bereichen bessere Ergebnisse als Eltern. Vor allem Mütter schneiden schlecht ab.
Schlechte Nachrichten für Mütter und Väter bringt die OECD-Studie "Programme for the International Assessment of Adult Competencies" (PIAAC). Ein Ergebnis des so genannten "Erwachsenen-PISA" ist nämlich, dass Personen mit Kindern in allen Bereichen schlechtere Ergebnisse erzielt haben als Kinderlose. Dieses - für viele wohl überraschende- Ergebnis zeigt eine Detailanalyse der Statistik Austria. Bei der Studie wurden Personen im Alter zwischen 16 und 65 Jahren im Lesen, in Alltagsmathematik und im Problemlösen getestet.
Die ersten Ergebnisse der Studie, deren Fokus auf der Überprüfung von für Beruf und Alltag relevanten Schlüsselkompetenzen liegt, wurden im Oktober 2013 präsentiert. Dabei zeigte sich, dass fast eine Million Menschen in Österreich nur über eine geringe Lesekompetenz verfügt. International schnitten die Österreicher dabei durchschnittlich ab: Im Lesen liegen wir leicht unter dem OECD-Schnitt, in der Mathematik leicht darüber und beim Problemlösen im Schnitt.
Männer schneiden besser ab
In einem Sammelband werden nun Details analysiert - mit zum Teil überraschenden Ergebnissen: So erreichten bei PIAAC Männer zwar in allen drei Kompetenzbereichen bessere Leistungen - im Lesen und im Problemlösen ist der Geschlechterunterschied aber etwa wesentlicher geringer als die Leistungsunterschiede zwischen Kinderlosen und Personen mit Kindern, analysieren Elisabeth Ponocny-Seliger (Gender Research) und Ivo Ponocny (Modul University).
So zeigte sich etwa beim Lesen ein vierfach größerer Unterschied zugunsten der Kinderlosen (16 Punkte) als zwischen Männern und Frauen (vier Punkte), beim Problemlösen war er doppelt so groß (20 Punkte zugunsten der Kinderlosen bzw. neun Punkte zugunsten der Männer). In der Alltagsmathematik sind die Unterschiede (Geschlechter: 13 Punkte; Kinderlose vs. Personen mit Kindern: zwölf Punkte) praktisch gleich groß.
Bei Vätern ist das Bild uneinheitlich
Beim Lesen zeigt sich etwa, dass bis zum Alter von 35 Jahren die Unterschiede zwischen Kinderlosen und Eltern sowohl bei Frauen als auch bei Männern deutlich ausgeprägt sind, bei Frauen noch stärker. Mütter schneiden also am schlechtesten ab. Während der Unterschied zwischen Müttern und kinderlosen Frauen dann bis 65 Jahre bestehen bleibt, ist das Bild bei den Männern uneinheitlich: Bei den 45-bis 54-Jährigen überholen die Väter ihre kinderlosen Geschlechtsgenossen, um etwas später wieder leicht hinter diese zurückzufallen.
Kinder als Gefahr
"In der jüngeren Generation macht es nicht mehr das Geschlecht aus, sondern die Bedingungen rundherum", meinte Ponocny-Seliger. Als Erklärung für die Kompetenzrückstände der Personen mit Kindern führt sie zwei Argumente an: "Einerseits sind Kinder eine riesige Gefahr, aus der Bildungslaufbahn hinausgekickt zu werden. Und Kinder binden Zeit - diese Zeit geht für den Kompetenzerwerb verloren." Wobei man das nicht falsch verstehen dürfe: Durch Kinder erwerbe man durchaus Kompetenzen, aber eben nicht jene, die bei PIAAC abgefragt würden.
Die geringeren Unterschiede zwischen Kinderlosen und Eltern in der älteren Generation erklärt Ponocny-Seliger einerseits damit, dass die Kinder in diesem Alter im Regelfall außer Haus seien, und andererseits mit der unterschiedlichen Sozialisation. Diese Generation habe ein ganz anderes Bildungssystem durchlaufen und sei etwa nicht unter dem ständigen Druck zur Fortbildung gestanden.
Vergleich mit andere Ländern
In anderen Staaten ergibt sich ein unterschiedliches Bild: Bis zum Alter von 35 Jahren haben zwar auch in Frankreich die Kinderlosen die Nase vorn. Bereits mit 35 Jahren nivellieren sich aber die Unterschiede, bei den Älteren erzielen dann sogar die Personen mit Kindern höhere Werte. Ähnlich ist die Lage in Finnland, wo zwar junge Frauen mit Kindern leistungsmäßig massiv abfallen, ab ca. 45 Jahren aber keine Geschlechter- oder Fertilitätseffekte mehr zu verzeichnen sind.
(APA/Red.)
"Erwachsenen-PISA": Kinderlose können besser lesen
Personen ohne Kinder erzielten bei der OECD-Studie in allen Bereichen bessere Ergebnisse als Eltern. Vor allem Mütter schneiden schlecht ab.
Schlechte Nachrichten für Mütter und Väter bringt die OECD-Studie "Programme for the International Assessment of Adult Competencies" (PIAAC). Ein Ergebnis des so genannten "Erwachsenen-PISA" ist nämlich, dass Personen mit Kindern in allen Bereichen schlechtere Ergebnisse erzielt haben als Kinderlose. Dieses - für viele wohl überraschende- Ergebnis zeigt eine Detailanalyse der Statistik Austria. Bei der Studie wurden Personen im Alter zwischen 16 und 65 Jahren im Lesen, in Alltagsmathematik und im Problemlösen getestet.
Die ersten Ergebnisse der Studie, deren Fokus auf der Überprüfung von für Beruf und Alltag relevanten Schlüsselkompetenzen liegt, wurden im Oktober 2013 präsentiert. Dabei zeigte sich, dass fast eine Million Menschen in Österreich nur über eine geringe Lesekompetenz verfügt. International schnitten die Österreicher dabei durchschnittlich ab: Im Lesen liegen wir leicht unter dem OECD-Schnitt, in der Mathematik leicht darüber und beim Problemlösen im Schnitt.
Männer schneiden besser ab
In einem Sammelband werden nun Details analysiert - mit zum Teil überraschenden Ergebnissen: So erreichten bei PIAAC Männer zwar in allen drei Kompetenzbereichen bessere Leistungen - im Lesen und im Problemlösen ist der Geschlechterunterschied aber etwa wesentlicher geringer als die Leistungsunterschiede zwischen Kinderlosen und Personen mit Kindern, analysieren Elisabeth Ponocny-Seliger (Gender Research) und Ivo Ponocny (Modul University).
So zeigte sich etwa beim Lesen ein vierfach größerer Unterschied zugunsten der Kinderlosen (16 Punkte) als zwischen Männern und Frauen (vier Punkte), beim Problemlösen war er doppelt so groß (20 Punkte zugunsten der Kinderlosen bzw. neun Punkte zugunsten der Männer). In der Alltagsmathematik sind die Unterschiede (Geschlechter: 13 Punkte; Kinderlose vs. Personen mit Kindern: zwölf Punkte) praktisch gleich groß.
Bei Vätern ist das Bild uneinheitlich
Beim Lesen zeigt sich etwa, dass bis zum Alter von 35 Jahren die Unterschiede zwischen Kinderlosen und Eltern sowohl bei Frauen als auch bei Männern deutlich ausgeprägt sind, bei Frauen noch stärker. Mütter schneiden also am schlechtesten ab. Während der Unterschied zwischen Müttern und kinderlosen Frauen dann bis 65 Jahre bestehen bleibt, ist das Bild bei den Männern uneinheitlich: Bei den 45-bis 54-Jährigen überholen die Väter ihre kinderlosen Geschlechtsgenossen, um etwas später wieder leicht hinter diese zurückzufallen.
Kinder als Gefahr
"In der jüngeren Generation macht es nicht mehr das Geschlecht aus, sondern die Bedingungen rundherum", meinte Ponocny-Seliger. Als Erklärung für die Kompetenzrückstände der Personen mit Kindern führt sie zwei Argumente an: "Einerseits sind Kinder eine riesige Gefahr, aus der Bildungslaufbahn hinausgekickt zu werden. Und Kinder binden Zeit - diese Zeit geht für den Kompetenzerwerb verloren." Wobei man das nicht falsch verstehen dürfe: Durch Kinder erwerbe man durchaus Kompetenzen, aber eben nicht jene, die bei PIAAC abgefragt würden.
Die geringeren Unterschiede zwischen Kinderlosen und Eltern in der älteren Generation erklärt Ponocny-Seliger einerseits damit, dass die Kinder in diesem Alter im Regelfall außer Haus seien, und andererseits mit der unterschiedlichen Sozialisation. Diese Generation habe ein ganz anderes Bildungssystem durchlaufen und sei etwa nicht unter dem ständigen Druck zur Fortbildung gestanden.
Vergleich mit andere Ländern
In anderen Staaten ergibt sich ein unterschiedliches Bild: Bis zum Alter von 35 Jahren haben zwar auch in Frankreich die Kinderlosen die Nase vorn. Bereits mit 35 Jahren nivellieren sich aber die Unterschiede, bei den Älteren erzielen dann sogar die Personen mit Kindern höhere Werte. Ähnlich ist die Lage in Finnland, wo zwar junge Frauen mit Kindern leistungsmäßig massiv abfallen, ab ca. 45 Jahren aber keine Geschlechter- oder Fertilitätseffekte mehr zu verzeichnen sind.
(APA/Red.)
Mittwoch, 8. Oktober 2014
Sind nicht alle Weicheier.
aus Badische Zeitung, 8. 10. 2014
NEU IM KINO: Die berührende Berlin-Odyssee "Jack"
Die erstaunliche Kraft eines Kindes
von Gabriele Schoder
Jack gibt es wirklich. Einen Jungen diesen Namens und eine sekundenkurze Begegnung mit dem Regisseur. Edward Berger erzählte davon bei der Freiburg-Premiere seines Dramas, das im Februar die Berlinale begeisterte und jetzt in unsere Kinos kommt: Er kickte er mit seinem Sohn im Garten, als ein Junge am Zaun vorbeilief, die beiden winkten, lachten, grüßten sich, und der andere ging fröhlich weiter, den wippenden Schulranzen auf dem Rücken. Berger wunderte sich, wieso ein Kind am Sonntagnachmittag mit dem Ranzen durch die Gegend marschiert, und der Sohn erzählte ihm, das sei sein Schulkamerad Jack, der sei am Wochenende immer bei seiner Mutter und gerade wieder auf dem Rückweg ins Heim.
So leichtfüßig, zuversichtlich, beherzt? Berger hätte erwartet, dass ein Heimkind sich mit gesenktem Kopf zu seiner Zwangsbleibe schleppen würde. Die Freude und federnde Energie, die dieser fremde Junge ausstrahlte: Das war die Initialzündung für seinen Film. Die Handlung erfand er dann (mit Co-Autorin Nele Mueller-Stöfen) völlig frei – aber wie sollte er einen Jack finden? Das Casting lief monatelang ohne Erfolg. Bis, am letzten Tag – Berger: "als allerletzter, regennass und im roten Ferrari-T-Shirt" ein zehnjähriger Berliner aufkreuzte, der noch nie vor der Kamera gestanden hatte und schon in der ersten Improvisation alle verblüffte mit seiner Wucht und Präsenz.
Ivo Pietzcker ist der Glücksfall dieses Films. Mit seinem Gesicht, das so gar nicht gefällig ist, aber glaubhaft und schön in Ernst und Einsamkeit, Sehnsucht und Enttäuschung. Er allein trägt die Geschichte – und umgekehrt inszeniert "Jack" auch nur ihn. Kameramann Jens Harant drehte fast das gesamte Drama auf den Knien, um nie von oben herab, sondern auf Augenhöhe dieses Kind zu zeigen, auf dessen Schultern alle Verantwortung lastet, weil keiner da ist, der sie trüge. Schon gar kein Vater. Jack kennt seinen nicht, auch nicht den seines sechsjährigen Bruders Manuel (Georg Arms). Sanna, die Mutter (Luise Heyer), liebt ihre Jungs, aber sie ist mit ihren immerhin 26 Jahren nicht halb so erwachsen wie Jack. Und sowieso meistens weg, zum Arbeiten oder bei einem neuen Liebhaber.
So hält Jack den Laden allein am Laufen, schon morgens im Sauseschritt zwischen Frühstückmachen und Schulbeginn. Als er einmal das Badewasser für Manuel zu heiß einlaufen lässt, verbrüht sich der Kleine, die kindliche Familie muss zum Jugendamt – und Jack ins Heim. Er ersehnt die Ferien, aber die Mutter vertröstet ihn am Telefon: Ich hol dich ein paar Tage später ab, das macht doch nichts, mein Schatz, oder? Doch vorher wird Jack von einem anderen Jungen übel drangsaliert und des Fernglases beraubt, das ihm sein Bettnachbar über die Ferien dagelassen hat, der größte, vielleicht einzige Beweis von Freundschaft und Sympathie, den Jack je erlebt hat. Er schlägt verzweifelt zu – und muss fliehen. Zuhause ist die Tür verschlossen, Sanna weg, der Schlüssel nicht im Versteck und der Bruder bei einer Freundin geparkt.
Jack macht sich auf die Suche nach der Mutter, mit Manuel im Schlepptau. Ihre Odyssee zeigt ein Berlin jenseits allen Hauptstadtglanzes, aber auch ohne Plattenbautristesse oder Underdogkriminalität. Diese Stadt ist einfach ein großer, unwirtlicher Ort, in dem streunende Kids nicht weiter auffallen – sie könnte auch in jedem anderen Land liegen. Dazu passt, dass der Wahlberliner Regisseur, der 1970 in Wolfsburg geboren wurde und in New York studierte, auf Berlinismen oder Türksprech konsequent verzichtet. Er macht keine Schublade auf, in die sein Film einsortiert werden könnte.
Warum Jack nicht zerbricht? Weil er funktionieren muss. Essen organisieren und einen Platz zum Schlafen. Ex-Freunde der Mutter aufspüren, die noch einen Schlüssel haben könnten. Zuversicht ausstrahlen. Anrufen, auch wenn immer nur die ewig gleiche muntere Ansage auf ihrem Handy zu hören ist. An der Tür klingeln, auch wenn die immer zu ist. Dann halt nochmal einen Zettel ins leere Schlüsselversteck legen. Durchhalten.
Klar kommen die Erwachsenen schlecht weg in diesem Film. Totalausfälle wie jener Ex der Mutter, der in einer grotesk überzeichneten Szene völlig drogenlethargisch vor sich hin stiert, sind die wenigsten. Aber selbst der eine, der sich ein wenig kümmert um die Jungs, hat dann doch keine bessere Idee, als sie zur Polizei zu fahren. Wen haben sie eigentlich noch, auf den Verlass ist? Manuel hat Jack, und Jack – sich selbst. Auf eine seiner Nachrichten an Sanna schreibt er: "Wir suchen dich. Wir brauchen" – "dich", erwartet der Kinozuschauer, aber Jack schreibt "den Schlüssel".
Er weiß, dass nur er der Schlüssel seiner Zukunft sein kann. Und wenn er am Ende eine Entscheidung trifft, kühl, einsam, hart, dann ist das kein deprimierendes Finale dieses berührenden, bestürzenden Films. Vielmehr Ausdruck der unzerstörbaren Kraft eines Kindes. Sie mag im real scheiternden Leben die absolute Ausnahme sein, aber Kino ist ja immer "bigger than life". Jack, den Ivo Pietzcker so hinreißend verkörpert, ist nicht bloß ein vernachlässigter, unglücklicher Bub, sondern ein junger Westernheld der neuen Lesart, Bruder jener starken Mädchen aus Filmen wie "True Grit" oder "Winter‘s Bone": Von den Eltern ist nichts mehr zu erwarten, aber die Kinder gehen ihren Weg alleine.
"Jack" von Edward Berger kommt morgen in die Kinos. (Ab sechs Jahren)
NEU IM KINO: Die berührende Berlin-Odyssee "Jack"
Die erstaunliche Kraft eines Kindes
von Gabriele Schoder
Jack gibt es wirklich. Einen Jungen diesen Namens und eine sekundenkurze Begegnung mit dem Regisseur. Edward Berger erzählte davon bei der Freiburg-Premiere seines Dramas, das im Februar die Berlinale begeisterte und jetzt in unsere Kinos kommt: Er kickte er mit seinem Sohn im Garten, als ein Junge am Zaun vorbeilief, die beiden winkten, lachten, grüßten sich, und der andere ging fröhlich weiter, den wippenden Schulranzen auf dem Rücken. Berger wunderte sich, wieso ein Kind am Sonntagnachmittag mit dem Ranzen durch die Gegend marschiert, und der Sohn erzählte ihm, das sei sein Schulkamerad Jack, der sei am Wochenende immer bei seiner Mutter und gerade wieder auf dem Rückweg ins Heim.
So leichtfüßig, zuversichtlich, beherzt? Berger hätte erwartet, dass ein Heimkind sich mit gesenktem Kopf zu seiner Zwangsbleibe schleppen würde. Die Freude und federnde Energie, die dieser fremde Junge ausstrahlte: Das war die Initialzündung für seinen Film. Die Handlung erfand er dann (mit Co-Autorin Nele Mueller-Stöfen) völlig frei – aber wie sollte er einen Jack finden? Das Casting lief monatelang ohne Erfolg. Bis, am letzten Tag – Berger: "als allerletzter, regennass und im roten Ferrari-T-Shirt" ein zehnjähriger Berliner aufkreuzte, der noch nie vor der Kamera gestanden hatte und schon in der ersten Improvisation alle verblüffte mit seiner Wucht und Präsenz.
Ivo Pietzcker ist der Glücksfall dieses Films. Mit seinem Gesicht, das so gar nicht gefällig ist, aber glaubhaft und schön in Ernst und Einsamkeit, Sehnsucht und Enttäuschung. Er allein trägt die Geschichte – und umgekehrt inszeniert "Jack" auch nur ihn. Kameramann Jens Harant drehte fast das gesamte Drama auf den Knien, um nie von oben herab, sondern auf Augenhöhe dieses Kind zu zeigen, auf dessen Schultern alle Verantwortung lastet, weil keiner da ist, der sie trüge. Schon gar kein Vater. Jack kennt seinen nicht, auch nicht den seines sechsjährigen Bruders Manuel (Georg Arms). Sanna, die Mutter (Luise Heyer), liebt ihre Jungs, aber sie ist mit ihren immerhin 26 Jahren nicht halb so erwachsen wie Jack. Und sowieso meistens weg, zum Arbeiten oder bei einem neuen Liebhaber.
So hält Jack den Laden allein am Laufen, schon morgens im Sauseschritt zwischen Frühstückmachen und Schulbeginn. Als er einmal das Badewasser für Manuel zu heiß einlaufen lässt, verbrüht sich der Kleine, die kindliche Familie muss zum Jugendamt – und Jack ins Heim. Er ersehnt die Ferien, aber die Mutter vertröstet ihn am Telefon: Ich hol dich ein paar Tage später ab, das macht doch nichts, mein Schatz, oder? Doch vorher wird Jack von einem anderen Jungen übel drangsaliert und des Fernglases beraubt, das ihm sein Bettnachbar über die Ferien dagelassen hat, der größte, vielleicht einzige Beweis von Freundschaft und Sympathie, den Jack je erlebt hat. Er schlägt verzweifelt zu – und muss fliehen. Zuhause ist die Tür verschlossen, Sanna weg, der Schlüssel nicht im Versteck und der Bruder bei einer Freundin geparkt.
Jack macht sich auf die Suche nach der Mutter, mit Manuel im Schlepptau. Ihre Odyssee zeigt ein Berlin jenseits allen Hauptstadtglanzes, aber auch ohne Plattenbautristesse oder Underdogkriminalität. Diese Stadt ist einfach ein großer, unwirtlicher Ort, in dem streunende Kids nicht weiter auffallen – sie könnte auch in jedem anderen Land liegen. Dazu passt, dass der Wahlberliner Regisseur, der 1970 in Wolfsburg geboren wurde und in New York studierte, auf Berlinismen oder Türksprech konsequent verzichtet. Er macht keine Schublade auf, in die sein Film einsortiert werden könnte.
Warum Jack nicht zerbricht? Weil er funktionieren muss. Essen organisieren und einen Platz zum Schlafen. Ex-Freunde der Mutter aufspüren, die noch einen Schlüssel haben könnten. Zuversicht ausstrahlen. Anrufen, auch wenn immer nur die ewig gleiche muntere Ansage auf ihrem Handy zu hören ist. An der Tür klingeln, auch wenn die immer zu ist. Dann halt nochmal einen Zettel ins leere Schlüsselversteck legen. Durchhalten.
Klar kommen die Erwachsenen schlecht weg in diesem Film. Totalausfälle wie jener Ex der Mutter, der in einer grotesk überzeichneten Szene völlig drogenlethargisch vor sich hin stiert, sind die wenigsten. Aber selbst der eine, der sich ein wenig kümmert um die Jungs, hat dann doch keine bessere Idee, als sie zur Polizei zu fahren. Wen haben sie eigentlich noch, auf den Verlass ist? Manuel hat Jack, und Jack – sich selbst. Auf eine seiner Nachrichten an Sanna schreibt er: "Wir suchen dich. Wir brauchen" – "dich", erwartet der Kinozuschauer, aber Jack schreibt "den Schlüssel".
Er weiß, dass nur er der Schlüssel seiner Zukunft sein kann. Und wenn er am Ende eine Entscheidung trifft, kühl, einsam, hart, dann ist das kein deprimierendes Finale dieses berührenden, bestürzenden Films. Vielmehr Ausdruck der unzerstörbaren Kraft eines Kindes. Sie mag im real scheiternden Leben die absolute Ausnahme sein, aber Kino ist ja immer "bigger than life". Jack, den Ivo Pietzcker so hinreißend verkörpert, ist nicht bloß ein vernachlässigter, unglücklicher Bub, sondern ein junger Westernheld der neuen Lesart, Bruder jener starken Mädchen aus Filmen wie "True Grit" oder "Winter‘s Bone": Von den Eltern ist nichts mehr zu erwarten, aber die Kinder gehen ihren Weg alleine.
"Jack" von Edward Berger kommt morgen in die Kinos. (Ab sechs Jahren)
Dienstag, 7. Oktober 2014
Pädagogik ist nur so ein Wort.
Schweden
Schulpflicht auf zwölf Jahre verlängern
Als
Mittel gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit könnten junge Schweden
bald zwölf statt wie bisher neun Jahre in die Schule gehen müssen.
Schulpflicht bis zur Matura? Was für viele Schüler ein Albtraum ist, könnte in Schweden bald Realität werden. Sozialdemokraten und Grüne, die derzeit in Stockholm über die Bildung einer Minderheitsregierung verhandeln, wollen die Schulpflicht nämlich von neun auf zwölf Jahre verlängern. Weitere Eckpunkte der geplanten Schulreform sind höhere Lehrerlöhne und eine geringere Klassenschülerzahl.
(APA)
Nota.
Kein Platz für sie auf dem Arbeitsmarkt? Dann tun wir sie eben unter eine Käseglocke. Sollt mal sehn, wie scharf die hinterher aufs Arbeiten sind! (Notfalls hilft der Ethikunterricht nach.)
JE
Montag, 6. Oktober 2014
Neugierig machen.
Neugier verbessert das Gedächtnis
Neugier verbessert unser Erinnerungsvermögen – und das auch für völlig andere Dinge als die, die uns neugierig machen. Verantwortlich dafür ist das Belohnungssystem des Gehirns, haben US-Forscher nun herausgefunden: Befriedigte Neugier sorgt für ein regelrechtes Erfolgserlebnis. Dieser Mechanismus könnte auch bei langweiligem Unterrichtsstoff und bei Gedächtnisproblemen helfen, schreiben die Wissenschaftler im Fachmagazin "Neuron".
Gehirnaktivität bei spannenden Quizfragen
Die Forscher ließen die Studienteilnehmer zunächst bewerten, wie neugierig sie auf die Antworten bestimmter Quizfragen waren. Diese Antworten erhielten die Probanden erst nach einer Pause von 14 Sekunden, während der sie ein Bild eines neutralen Gesichts zu sehen bekamen – ohne jeden Zusammenhang zur Frage. Anschließend überraschten die Forscher die Versuchspersonen mit einem Gedächtnistest über diese Gesichter. Erst danach fragten sie die Erinnerung an die Quizfragen ab. An verschiedenen Punkten während der Studie zeichneten die Wissenschaftler außerdem die Gehirnaktivität mittels Magnetresonanz-Tomographie auf.
Im Quiz-Test zeigten die Probanden deutlich bessere Ergebnisse, wenn eine Frage sie besonders neugierig gemacht hatte – ganz den Erwartungen der Forscher entsprechend. Überraschend waren jedoch die Erinnerungen an die Gesichter: Auch hier verbesserte sich das Gedächtnis, wenn zuvor die Neugier auf die Quizantwort geweckt war.
Erfolgserlebnis im Informations-Strudel
"Neugier könnte das Gehirn in einen Zustand versetzten, in dem es jegliche Information lernen und behalten kann – wie ein Strudel, der alles, was man eigentlich lernen will, aufsaugt, aber auch alles darum herum," erklärt Erstautor Gruber. Dieser Neugier-Zustand produziert keinesfalls flüchtige Effekte: Noch 24 Stunden später behielten die Versuchspersonen die gelernten Informationen besser im Gedächtnis.
Spannend oder langweilig? Neugier hilft gleichermaßen beim Lernen interessanter und unbedeutender Informationen.
Bessere Motivation auch bei langweiligen Themen
Dieses Belohnungssystem, so zeigten die Scans ebenfalls, arbeitet bei geweckter Neugier offenbar eng mit dem Hippocampus zusammen. Diese Hirnregion ist verantwortlich für neu angelegte Erinnerungen und zeigte ebenfalls gesteigerte Aktivität bei neugierigen Versuchspersonen. "Neugier zieht also das Belohnungssystem heran, Interaktionen zwischen dem Belohnungssystem und dem Hippocampus versetzen das Gehirn in einen Zustand, in dem man besser Informationen aufnimmt und behält, selbst wenn diese Information weniger interessant oder wichtig ist", fasst Studienleiter Charan Ranganath zusammen.
Diese Erkenntnisse könnten das Lernen von langweiligem Material in Zukunft erleichtern: Lehrer, Dozenten und Ausbilder müssten lediglich die Neugier der Schüler mit einem Thema wecken, das sie bereits von sich aus interessant finden. Darüber hinaus haben die Forschungsergebnisse auch medizinische Bedeutung: Mit zunehmendem Alter lassen die Dopamin-basierten Schaltkreise im Gehirn oft in ihren Funktionen nach – die Parkinson-Krankheit etwa steht mit einer niedrigeren Dopamin-Ausschüttung im Zusammenhang. Das Verständnis des Zusammenhangs zwischen Motivation und Erinnerung könnte letztendlich auch dazu beitragen, älteren Menschen und Patienten mit Gedächtnisstörungen zu besserem Erinnerungsvermögen zu verhelfen. (Neuron, 2014; doi: 10.1016/j.neuron.2014.08.060)
(University of California at Davis, 06.10.2014 - AKR)
Nota.
Hätten Sie's gedacht? Gut wäre also ein Unterricht, der neugierig macht - nicht nur fürs Aufnehmen, sondern genauso fürs Behalten. Und gut ist ein Lehrer, der seinen Stoff so vorträgt, dass er er bei seinen Schülern die Neugier weckt. Das ist keine Technik, das ist eine Kunst.
Mit andern Worten, die most spohisticated Wissenschaften bringen in Sachen Pädagogik nichts an den Tag, was der gesunde Menschenverstand nicht schon längst gewusst hätte. Nur hat in diesem Fach der gesunden Menschenverstand noch nie den Ton angegeben, sondern die Standesbedürfnisse der Betreffenden.
JE
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
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