Posts für Suchanfrage andreas schleicher werden nach Relevanz sortiert angezeigt. Nach Datum sortieren Alle Posts anzeigen
Posts für Suchanfrage andreas schleicher werden nach Relevanz sortiert angezeigt. Nach Datum sortieren Alle Posts anzeigen

Freitag, 8. März 2019

Der bildungsindustrielle Komplex.

vci
aus FAZ.NET, 8. 3. 2019*

Definiert Pisa, was Bildung ist? 
Leistungsmessungen wie der Pisa-Test werden von einem globalen Netzwerk diktiert, sagt der Soziologe Richard Münch. Der Pisa-Koordinator der OECD, Andreas Schleicher, widerspricht. Ein Streitgespräch. 

Von Martin Wiarda
Herr Münch, in Ihrem neuen Buch warnen Sie vor einem „globalen bildungsindustriellen Komplex“. Die nationale Bildungspolitik werde davon abgehalten, nach ihrer bisherigen Logik zu arbeiten. An ihre Stelle sei ein globales Netzwerk getreten unter der Führung der OECD und anderer Akteure, mit dem OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher als einer der zentralen Figuren.

Richard Münch: In diesem internationalen Netzwerk konzentriert sich die Macht. Seine Akteure sind organisiert im sogenannten Pisa-Konsortium. Das sind die Agenturen und Unternehmen hinter dem internationalen Schulvergleichstest, der global umsatzstärkste Bildungskonzern Pearson gehört genauso dazu wie die größte Testfirma der Welt, der Educational Testing Service (ETS). Aber auch staatlich finanzierte Einrichtungen sind dabei, der australische Council for Educational Research zum Beispiel oder in Deutschland das Dipf – Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. Es geht um die Beantwortung der Frage nach dem Wesen von Bildung, das anhand eines angloamerikanischen Modells von Basiskompetenzen beschrieben und mit Hilfe von eigens entwickelten Tests abgeprüft wird.

Herr Schleicher, wie fühlt man sich als Zentralfigur des bildungsindustriellen Komplexes?

Richard Münch ist Soziologe und hat zuletzt an der Universität Bamberg gelehrt, wo er weiterhin „Emeritus of Excellence“ ist. Er hat die Streitschrift „Der bildungsindustrielle Komplex“ vorgelegt.Richard Münch ist Soziologe und hat zuletzt an der Universität Bamberg gelehrt, wo er weiterhin „Emeritus of Excellence“ ist. Er hat die Streitschrift „Der bildungsindustrielle Komplex“ vorgelegt.

Andreas Schleicher: Ich weiß nichts von einem solchen Komplex. Pisa will die Bildungssysteme besser machen. Mit Macht oder Machtausübung von außen hat Pisa rein gar nichts zu tun. Es wird geleitet und finanziert von den Bildungsministerien der Mitgliedsländer, und die Entwicklung des Pisa-Tests geschieht unter der Leitung eines Gremiums führender Wissenschaftler, die von den teilnehmenden Staaten benannt werden. 

Münch: Natürlich braucht man für Pisa Wissenschaftler, um die Fragen zu designen. Aber um den Test in der Breite umzusetzen, braucht es die Schlagkraft der Agenturen und Unternehmen, und deren Rolle verselbständigt sich zwangsläufig. Irgendwann können die nationalen Bildungsministerien nur noch die Daten entgegennehmen – mitsamt den Empfehlungen, die daraus abgeleitet werden. Pearson selbst berichtete 2014 auf seiner Homepage wörtlich, dass es den Pisa-Test 2018 für die OECD entwickelt. 

Schleicher: Noch mal: Die Pisa-Tests werden von einer Expertengruppe entwickelt, in der alle Mitgliedstaaten vertreten sind, aber kein einziger Unternehmensvertreter. Technische Expertise wird später hereingeholt, um bestimmte Fragestellungen zu verfeinern, zu operationalisieren. Pearson etwa hatte als Teil des Pisa-Konsortiums 2015 und 2018 einen Auftrag für die Entwicklung der Rahmenkonzeption der Tests – mit einem Volumen von einem Bruchteil eines Prozents der Gesamtaufwendungen. Die Bildungsministerien bestimmen, was wo wie und von wem gemessen wird. Niemand anders, auch nicht die OECD. Und ganz sicher nicht die Industrie.

Münch: Sie tun so, als sei die OECD nur Moderator bei Pisa, und unterschlagen, dass Sie selbst zunehmend Empfehlungen über die Medien spielen. Die führen in den Ministerien dann zu Kurzschlussreaktionen.

Welche Kurzschlussreaktionen meinen Sie?

Andreas Schleicher ist Statistiker, leitet das Direktorat für Bildung bei der OECD und ist Internationaler Koordinator für die Pisa-Studien Er hat eine Waldorfschule besucht. Andreas Schleicher ist Statistiker, leitet das Direktorat für Bildung bei der OECD und ist Internationaler Koordinator für die Pisa-Studien Er hat eine Waldorfschule besucht  

Münch: Es fing damit an, dass die OECD aus Pisa schlussfolgerte, die Merkmale wirklich erfolgreicher Bildungssysteme seien mehr Schulautonomie, eine starke Leitung und zentrale Leistungstests. Wenn solche Botschaften verbreitet werden, gerät die Politik unter Druck, das auch umzusetzen. Das Ergebnis sieht man paradigmatisch in den Vereinigten Staaten, wo die Schulen bei weitem nicht so erfolgreich sind wie in Ostasien. Und warum? Weil ähnliche Schulmodelle abhängig von den kulturellen Unterschieden zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen.

Schleicher: Merken Sie, wie Sie sich selbst widersprechen? Sie behaupten, die OECD propagiere das amerikanische Modell. Gleichzeitig betonen Sie, dass Amerikas Schulsystem im internationalen Vergleich nicht besonders gut abschneidet. Was wir aber erst durch Pisa wissen. Seitdem wissen wir auch: Länder wie Finnland, Japan oder Portugal bekommen Schule besser hin. Und nein, die OECD hat keinem Land gesagt, es solle die Schulautonomie stärken. Aber offenbar ist das ein Faktor, der beispielsweise in Finnland wirkt. Das ist doch das Spannende, was Pisa geschaffen hat: eine globale Plattform, eine globale Plattform zum Austausch verschiedenster Lösungsansätze. Im Übrigen: Wenn Ihre These von der Allmacht von Pisa richtig wäre, Herr Münch, müssten wir überall dieselben Bildungssysteme haben. Haben wir aber nicht.

Münch: Natürlich hat jedes Bildungssystem seine eigene Tradition. Aber sie ist konfrontiert mit den Daten und den Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden. Deshalb werden die Schulsysteme nicht genau wie in Finnland oder China. Aber es werden Elemente übernommen. In Deutschland die Bildungsstandards, die Fokussierung auf die Kompetenzen im Lesen, in Mathematik und in den Naturwissenschaften.

Schleicher: Die kompetenzorientierten Bildungsstandards kommen nicht von Pisa, sondern weil die deutsche Bildungspolitik gesehen hat: Viele Länder mit leistungsstarken Schulen haben verbindliche Bildungsziele, anstatt jede Schule jedes Ziel vor Ort neu erfinden zu lassen. Ich halte das für eine richtige Beobachtung und eine gute Schlussfolgerung.

Herr Schleicher, Sie betonen die Wissenschaftlichkeit von Pisa. Nun sagt Herr Münch allerdings auch, die Bildungsforschung sei eine „weitgehend angewandte Forschung und dadurch naturgemäß Dienstleistung für die jeweils herrschende politische Agenda.

Schleicher: Natürlich ist die Bedeutung der Bildungsforschung gestiegen – so wie die Bedeutung der empirischen Forschung insgesamt. Die Verknüpfungen zwischen Bildungspolitik, Bildungsforschung und Bildungspraxis sind enger geworden. Zum Glück, wie ich finde. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass der überwiegende Teil der Bildungswissenschaften heute angewandt ist. Im Gegenteil, viele Lehrkräfte beklagen, dass die Bildungswissenschaften immer noch zu weit entfernt sind von ihrem Alltag, zu abgehoben.

Münch: Wir haben es mit einem Monopol zu tun. Pisa hat auf globaler Ebene betrachtet die Daten und trifft bei ihrer Erhebung und Verarbeitung Selektionsentscheidungen, wodurch das, was als Bildung gilt, definiert wird. Und genau hier, in dieser engen Konzentration auf die Basiskompetenzen, liegt die Verknüpfung zur politischen Agenda, die einen Namen hat: New Public Management. Sie definiert das datengetriebene Kontrollregime, das ich vorhin beschrieben habe.

Wer setzt diese Agenda?

Münch: Dahinter stehen die Pisa-Macher, aber auch Ökonomen sind maßgeblich beteiligt. Man möchte ein System etablieren, in dem man das Versprechen von mehr Autonomie an umfangreiche Kontrollen bindet. Das ist in anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung genauso, auch an den Hochschulen gilt das.

Schleicher: Das New Public Management ist keine Erfindung der OECD, sondern entstand bereits in den achtziger Jahren, als noch keiner an Pisa dachte. Einen Kritikpunkt möchte ich aber annehmen: Die Tests haben im Moment einen zu engen Kompetenzbegriff als Grundlage, also einen zu starken Fokus auf Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften. Das ist aber ein gutes Beispiel für den geringen Einfluss des OECD-Generalsekretariats im Verhältnis zu unseren Mitgliedstaaten. Hätten wir mehr zu sagen, würden wir mehr Gewicht auf soziale und emotionale Kompetenzen legen.

Stimmen Sie mit der These von Herrn Münch überein, dass Pisa als Ganzes mäßig erfolgreich war?

Schleicher: Ich weiß nicht, wie er darauf kommt. Vor 2000 gab es in Deutschland keine Debatte über frühkindliche Förderung in den Kitas, dafür gab es viele Leute, die sagten: „Mütter, die ihre Kinder in den Kindergarten geben, haben nicht deren Bestes im Sinn.“ Und glauben Sie, wir hätten ohne Pisa den Trend zur Ganztagsschule bekommen oder die Bestrebungen, Schüler mit Migrationshintergrund besser zu fördern? Vor Pisa haben die Bildungspolitiker auch hierzulande geglaubt, sie wüssten, was sie tun. Weil sie es immer schon so gemacht hatten und nichts anderes kannten. Der Status quo hat bis heute viele Unterstützer im Bildungssystem, und den hat Pisa in Frage gestellt.

Münch: Ja, aber um welchen Preis? Viele Länder sind nach 2000 in Richtung New Public Management umgeschwenkt und haben seitdem ausgerechnet in den Pisa-Tests immer schlechtere Leistungen erzielt. Großbritannien ist ein sehr gutes Beispiel dafür.

Schleicher: Es ist aber doch genau andersherum! Pisa hat die Methoden des New Public Managements in der Bildung eher in Frage gestellt, wie Sie selbst sagen, wenn Sie auf die schlechteren Ergebnisse Großbritanniens verweisen.

Herr Schleicher, Herr Münch kritisiert in seinem Buch, die OECD rede viel von der Autonomie der Schulen, doch faktisch habe Pisa dazu beigetragen, dass die Autonomie der Schulen geschrumpft sei.

Schleicher: Genau deshalb ist es schön, wenn man Daten hat. Die Frage lässt sich empirisch klar beantworten: Die Freiräume der Schulen in Deutschland sind in den vergangenen 20 Jahren deutlich gewachsen. Nicht in allen Bundesländern gleichermaßen, aber in der Regel haben die Schulleitungen heute ein Mitspracherecht bei der Einstellung neuer Lehrer und auch bei der Frage, wen sie befördern wollen. Die Schulen können ihren Unterricht freier gestalten, die einzelnen Lehrkräfte können ebenfalls mehr selbst entscheiden.

Münch: Mal ehrlich, welche Freiheitsgrade haben Entscheidungen, die Schulen treffen, weil sie sich im Wettbewerb mit anderen befinden? Real bedeutet das Konzept der „eigenverantwortlichen Schule“ einen viel höheren Aufwand an Berichten, Dokumenten und Evaluationen. Echte, professionelle Autonomie würde bedeuten, dass man die natürliche Autorität der Lehrerinnen und Lehrer gelten lässt, dass man ihnen Freiheit lässt bei der Umsetzung des Curriculums.

Die Fragen stellte Martin Wiarda.


Nota. -  Bildungsindustrieller Komplex? "Ich weiß nichts von einem solchen Komplex." Leo Trotzki sagte in Hinblick auf die sich ausbildende Sowjetbürokratie: Die Bürokratie bebietet unerbittlich wie Jehova, du sollst meinen Namen nicht aussprechen.

Wissenschaftlich hat sich PISA selbst desavouiert, als es sich weigerte - bis heute -, nicht nur seine Auswertungen, sondern auch die erhobenen Daten, die ihnen zugrunde legen, an die Öffentlichkeit zu bringen. Man kann ihnen glauben oder nicht.
Warum sollte man?

PISA ist keine Einrichtung der Erziehungswissenschaften - das wäre zweifelhaft genug -, sondern der Regierungen und der Industrie. Es vertritt Interessen, aber das sind nicht die der Bildung, sondern die von Politik und Wirtschaft an Ausbildung für den Markt - den keiner vorausberechnen kann, doch um die Zukunft der heranwachsenden Generation geht es gar nicht, sondern um die kurz- und mittelfristigen Verwertungsbedingungen des Kapitals. Ausschuss mag es immer geben, aber das ist nicht dessen Sorge. 
 

Welches seine Erfolgskriterien sind, lässt Schleicher durchblicken: "Glauben Sie, wir hätten ohne Pisa den Trend zur Ganztagsschule bekommen?" Was PISAs übelste Giftbeule ist, liegt im ausschließlichen Interesse des bildungsindustriellen Komplexes. Dass die Ganztagsschule der Bildung nützt, hat seit Jahrzehnten nun schon keiner mehr zu behaupten gewagt, und dass unsere Schulhöfe ein Ort sozialen Lernens und der Integration von Migrantenkindern wären, trauen sie sich auch nur noch bei Gelegenheiten zu sagen, wo sie unter sich und sicher sind, dass von Mobbing und Gewalt keine Anwesender reden wird.

Und im übrigen hat noch nie einer behauptet, PISA wolle selber Macht ausüben. Die Macht, die PISA ausübt, indem es sie weiterleitet, ist die der Industrie.
JE 

Dienstag, 6. Dezember 2016

Andreas Schleicher ist durchgefallen.


 
Heute wurde der Öffentlichkeit die neue PISA-Studie vorgestellt; von Andreas Schleicher, ihrem obersten Verantwortlichen. Getest wurden diesmal neben Lesen und Mathematik auch die Naturwissenschaften; zu denen gehört nach allgemeiner Auffassung auch - und eigentlich vor allem - die Physik. 

Dieses lesen wir in der heutigen Ausgabe von Tagesspiegel.de:

Andreas Schleicher, der internationale Koordinator der Pisa-Studie, sagte vor Journalisten, Deutschland habe sich „auf einem guten, überdurchschnittlichen Niveau stabilisiert“. Nach einem „Quantensprung“ in den Jahren nach der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000 sei der Reformeifer aber inzwischen erlahmt: „Jetzt ist ein neuer Quantensprung nötig, um zu den leistungsstärksten Ländern aufzuschließen.“

Physik! 

Andreas Schleicher weiß nicht, was ein Quantensprung ist. Na ja, vielleicht ist er ja von Hause aus Geistes- wissenschaftler,* da wär es verzeihlich

In seinem Amt unentschuldbar ist aber, dass er einen wissenschaftlichen Begriff, den er nicht versteht, öffentlich im Munde führt und redet wie ein BILD-Journalist. Es bestätigt aber, was wir von Jahr zu Jahr immer deutlicher ahnen: Nehmen Sie das nicht ernst, es ist alles fake.  


*) [Nachtrag, 13. 12. 16]  

Es steht schlimmer um Andreas Schleicher, als ich dachte. Er ist nicht, wie ich mildernd anzunehmen bereit war, von Hause aus Geisteswissenschaftler, sondern... Physiker. Er war es, bevor er Dienstmann bei der OECD wurde; vielleicht war er damals auch noch Wissenschnaftler. Bedenken Sie: Die OECD ist eine Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Wie ausgerechnet die Bildung in ihr Portefeuille geraten ist, kann man nur mutmaßen. Auf jeden Fall müssen sie eine recht übergriffige Vorstel- lung von Ökonomie haben.




Dienstag, 3. Juni 2014

Vergesst PISA.

aus Die Presse, Wien, 21. 5. 2014
 
PISA: "Immer mehr Eltern boykottieren Tests"
Ein offener Protestbrief an den PISA-Koordinator Andreas Schleicher macht die Runde. Der in den USA lehrende Bildungswissenschaftler Heinz-Dieter Meyer hat ihn initiiert. Im Interview mit der "Presse" erklärt er, warum.

 

Die nächste Pisa-Runde soll ausgesetzt, die Kosten sollen transparent gemacht werden. Und die ökonomiegesteuerte OECD dürfe nicht zum „globalen Schiedsrichter über Mittel und Ziele von Bildung in der ganzen Welt“ werden: Das und mehr fordert der deutsche Bildungswissenschaftler Heinz-Dieter Meyer mit einer New Yorker Kollegin in einem offenen Brief. Derzeit warnt er in Indien vor PISA. „Die Presse“ hat mit ihm gesprochen.

Sie haben in Amerika das pisakritische Buch „PISA, Power and Policy“ veröffentlicht, nun fordern Sie die Aussetzung der nächsten PISA-Tests, Offenlegung der Testkosten etc. Wie kam es zu dem von Ihnen initiierten offenen Brief an PISA-Koordinator Andreas Schleicher?


Heinz-Dieter Meyer: Natürlich stand die kritische Auseinandersetzung in „PISA, Power and Policy“ am Anfang. Aber den Ausschlag für den Brief gab eine gewisse Arroganz des Herrn Schleicher beim Nicht-Antworten auf Kritik während einer Diskussion in Philadelphia Anfang April dieses Jahres im Zusammenhang mit der Jahreskonferenz der „american education research association“.

Liest man das Buch „PISA, Power and Policy“, hat man den Eindruck, dass wir diese Tests Amerika verdanken.

Die USA haben eine führende Rolle gespielt. Der Vorgänger von Andreas Schleicher, Malcolm Skilbeck, ein Professor für Erziehungswissenschaften aus Australien, hat nur ein halbes Jahrzehnt vor Schleicher die Art von Tests, die PISA dann institutionalisiert hat, abgelehnt, weil sie unvermeidlich oberflächlich und sensationsheischend sind. Skilbeck war ein Repräsentant der „sozial-demokratischen“ Linie in der OECD.


Was ist für Sie das Hauptproblem am öffentlichen Umgang mit den PISA-Ergebnissen?

Die Schwankungsbreite ist ein Problem, ein größeres Problem ist: Wenn man die Spitzen-Länder wegzählt und außerdem die Dritte-Welt-Länder wie Peru, dann bleibt ein großes Mittelfeld übrig, in dem sich die Punktunterschiede auf 20 bis 30 Punkte reduzieren. 20 Punkte aber ist, was Finnland ohne Änderungen seiner Bildungspolitik verloren hat. Much ado about nothing? Wer jemals mit quantitativen Daten gearbeitet hat, weiß, wie leicht sich statistische Artefakte als substantielle Ergebnisse präsentieren lassen. Die Abwesenheit kritischen Denkens in der Hochjubelung von PISA illustriert genau das, was PISA produzieren will: immer mehr Kinder des Technokratismus.

Ihr offener Brief nennt das „Race to the top“-Programm als Beispiel dafür, wie sich PISA auf die amerikanische Bildungspolitik auswirkt, worum genau handelt es sich da?

„Race to the top“ beinhaltet unter anderem, dass der Kurzschluss von den Multiple-choice-test-Ergebnissen von Schülern auf die Unterrichtsqualität ihres Lehrers institutionalisiert wird. Das Programm wird mit PISA und dem darin vermeintlich gezeigten Aufholbedarf der USA begründet. Seit „race to the top“ reißen die „high stakes standardized tests“ in Schulen nicht mehr ab. Schüler beklagen sich über unerträglichen Stress in den Testperioden, oft dauern diese Tests drei Tage lang, mit zwei- bis dreistündigen Tests. Immer mehr Eltern in den USA boykottieren die Tests und halten ihre Kinder an den Testtagen von der Schule fern.

Wer führt die PISA-Tests in Amerika durch?

Die Firma Pearson hat von der OECD den Vertrag zur Test-Vorbereitung 2015 erhalten. Das ist übrigens dieselbe Firma, die in New York State sämtliche Tests, sämtliche Test-Auswertungen und die kompensatorischen Interventionen auf Basis der Testergebnisse durchführt: alles gewinnorientiert.

Spätestens seit PISA gehören Lehrer in Österreich zur meistkritisierten Berufsgruppe. Wie erstrebenswert ist das Lehrersein in Amerika?

In den USA kann man grob sagen: Je mehr dort einem jungen Studierenden wirklich an Erziehung gelegen ist und je größer die Alternativen, desto unwahrscheinlicher ist es, dass er sich für den Lehrerberuf entscheidet, wegen der allgegenwärtigen Gängelei.

Offenbar gibt es nicht nur in den Schulen Unmut, vor Kurzem las ich den offenen Brief einer amerikanischen Kindergärtnerin, die ihren Job aufgegeben hat, weil schon im Kindergarten das Messen und Standardisieren anstelle des Kindes selbst in den Mittelpunkt rücke. Können Sie das nachvollziehen?

Ja, die Testerei geht im Kindergarten los, bevor die Kinder gelernt haben, zu spielen.

Sie sind gerade in Indien unterwegs – beruflich?

Ja, ich war in Bangalore auf einer Bildungs-Konferenz. Ich ermuntere die Inder, auch unter der neuen Regierung bei ihrem „Nein“ zu PISA zu bleiben.

Die österreichische Bildungsministerin hat angekündigt, wegen eines Datenlecks beim Institut BIFIE, das die Vortests für PISA 2015 durchführen hätte sollen, die Teilnahme Österreichs am PISA-Test 2015 ausfallen zu lassen.* Freut Sie das?

Probleme wie beim BIFIE illustrieren, dass PISA eine riesige Datenmaschinerie ist. Bis jetzt hat kaum jemand der OECD genauer auf die Finger geguckt. Ich glaube, das wird sich ändern.

*) Ist schon wieder zurückgenommen. JE

ZUR PERSON

Heinz-Dieter Meyer ist studierter Soziologe und Bildungswissenschaftler mit Schwerpunkt Bildungspolitik. Er lehrt an der State University of New York.

Undemokratisch,
bildungsverengend,nicht aussagekräftig: Das sind die Hauptvorwürfe gegen PISA in dem am 6. Mai veröffentlichten „Offenen Brief an Andreas Schleicher“. Auch zwei Österreicher gehören zu den Erstunterzeichnern: der Philosoph Konrad Paul Liessmann und Bildungswissenschaftler Stefan Hopmann (beide von der Universität Wien). 


Unterschrieben werden kann der offene Brief an Schleicher im Internet: bildung-wissen.eu.



Montag, 28. November 2016

Wir lassen uns auch durch den größten Sachverstand nicht von unserer politischen Überzeugung abbringen.


Andreas Schleicher

Wie die andern seriösen Blätter hatte der Wiener Standard vor wenigen Tagen über den Vorstoß des Bil- dungsforschers Stefan Hopmann gegen die Ganztagsschule berichtet: Sie bringe keinen nachweislichen didaktischen oder sozialpolitischen Vorteil - von Pädagogik redet schon niemand mehr - und schmeiße das Geld der Steuerzahler zum Fenster raus.

Die Zeiten ändern sich: Noch vor einem Jahr wäre die Meldung sang- und klanglos im Blätterrauschen untergegangen. Doch spricht es sich langsam, aber sicher herum: Da ist was faul. Jetzt muss der Oberhäupt- ling der PISA-Technokraten selbeer in die Bütt.

Wieder Der Standard:

Nun kommt Widerspruch von prominenter Seite. "Diese Einschätzung verwundert mich, ich teile sie abso- lut nicht", sagt Andreas Schleicher, Bildungsdirektor der OECD, "denn unsere Erkenntnisse zeigen eindeu- tig, dass die Ganztagsschule eine wichtige Voraussetzung für bessere Ergebnisse ist." Dies lasse sich so- wohl aus der internationalen Pisa-Studie als auch aus vielen nationalen Untersuchungen herauslesen: "Sie finden im internationalen Vergleich kaum ein System mit Spitzenleistungen, das nicht auf die Ganztags- schule setzt."

Wir leben in einem postfaktischen Zeitalter. Da kann man, wenn's passt, auch einfach mal die Unwahrheit sagen: "Das lasse sich sowohl aus der internationalen Pisa-Studie als auch aus vielen nationalen Untersu- chungen herauslesen." Es gibt keine solche Studien, und aus den PISA-Ergebnissen lässt es sich schon gar nicht "heraus-", noch nicht einmal hineinlesen: Die jeweiligen Leistungen der unterschliedlichen Schulsy- stem werden von den PISA-Fragebögen gar nicht erhoben. "Sie finden im internationalen Vergleich kaum ein System mit Spitzenleistungen, das nicht auf die Ganztagsschule setzt," das wäre das einzige Argument, das er hat - wenn es eins wäre.

Sie finden unter den Ländern, die auf der PISA-Rangliste in der unteren Hälfte rangieren, nicht eines, das nicht auf die Ganztagsschule setzt: Das hätte der Scharlatan sagen müssen, wenn er ein ehrlicher Mann wäre.

Es gibt überhaupt nur zwei Länder, in denen die pädagogischen Reformer je so stark gewesen sind, um den didaktisch unnützen und fiskalisch schädlichen Nachmittagsunterricht abzuschaffen: Deutschland und Österreich. Überall sonst ist man von der mittelalterlichen Ganztagsschule nie abgewichen, und selbst bei uns wollen die Statistiker der OECD das Rad der Geschichte nun wieder zurückdrehen.

Schleicher ist kein Bildungsforscher, sondern ein politischer Ideologe. Sein PISA-Konsortium ist kein wissenschaftliches Institut, das seine Forschungsmethoden und -ergebnisse offen darlegt und der Kritik zugänglich macht, sondern ein vom Fürsten beauftragtes geheimes Propagandaministerium, das seine Aufträge erfüllt.

In der Adenauerära machte ein CDU-Abgeordneter im Bundestag Furore mit dem denkwürdigen Satz: "Wir werden uns auch durch den größten Sachverstand nicht von unserer politischen Überzeugung abbringen lassen."

Denn die OECD hat ja selber ihre Auftraggeber, und das sind nicht die Schüler und ihre Eltern.





Montag, 12. Mai 2014

Offener Brief: Schluss mit PISA!


dave100

Die FAZ berichtete gestern, 11. 5. 2014, über einen Offenen Brief an den Leiter der PISA-Konsortien, der inzwischen von hunderten von Pädagogen und Wissenschaftlern in aller Welt unterzeichnet wurde.

Hier der Brief im Wortlaut:

Offener Brief an Andreas Schleicher, OECD, Paris


Sehr geehrter Herr Dr. Schleicher,

wir wenden uns an Sie in Ihrer Funktion als verantwortlicher Direktor der OECD für das 
„Programme of International Student Assessment“  (PISA). Im dreizehnten Jahr nach sei
ner Einführung ist PISA heute weltweit als Instrument bekannt, um Ranglisten von 
OECD­-Mitgliedsländern und Nicht­-OECD­-Staaten (mehr als 60 in der letzten Zählung) zu
erstellen und zwar aufgrund der Bewertung von Testleistungen von 15­jährigen Schüle-
rinnen und Schülern in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen. Die PISA-­Ergebnis-
se werden regelmäßig von Regierungen, Bildungsministern sowie den Herausgebern 
von Tageszeitungen ängstlich erwartet und werden in zahllosen politischen Dokumen-
ten als unhinterfragbare Autorität zitiert. PISA hat die Bildungspraxis in vielen Ländern 
inzwischen tiefgreifend beeinflusst. Als Folge der PISA­Tests reformieren Staaten ihre 
Bildungssysteme in der Hoffnung, ihr Abschneiden im PISA­Ranking zu verbessern. In 
vielen Ländern führte der mangelnde Fortschritt bei den PISA­Tests dazu, eine „ Bil-
dungskatastrophe“  oder einen „ PISA­-Schock“  auszurufen, gefolgt von Rücktrittsforde-
rungen und weitreichenden Reformen gemäß PISA-­Maßstäben.

Wir sind offen gestanden tief besorgt über die negativen Folgen der PISA­-Rankings. 

Nachfolgend einige unserer Bedenken:
­ 
Obwohl standardisierte Tests schon länger in vielen Ländern (trotz gravierender Vor-
behalte gegenüber deren Validität und Zuverlässigkeit) gebraucht werden, hat PISA 
zu einer Eskalation solcher Tests beigetragen und zu einem dramatischen Anstieg in 
Gebrauch und Bedeutung quantitativer Messungen geführt. So berief man sich bei
spielsweise in den USA jüngst auf PISA als maßgebliche Rechtfertigung für das „Race­
to ­the­ Top“-­Programm. Dieses Programm hat die Bedeutung standardisierter Tests in 
der Evaluation von Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern und Schullei-
tern weiter verstärkt. Mit solchen Tests wird die Arbeit von Schülern, Lehrern und 
Schulleitern aufgrund von Testergebnissen bewertet und klassifiziert, die weithin als 
ungenau bekannt sind. (vgl. etwa den unerklärten Abstieg Finnlands vom ersten Platz
der PISA-­Rangliste).
­ 
In der Bildungspolitik hat der dreijährige Testzyklus von PISA die Aufmerksamkeit auf
kurzfristige Maßnahmen verlagert in der Absicht, schnell im Ranking aufzuholen, ob
wohl die Forschung zeigt, dass nachhaltige Veränderungen in der Bildungspraxis 
nicht Jahre, sondern Jahrzehnte benötigen, um fruchtbar zu werden. So wissen wir 
zum Beispiel, dass der Status von Lehrern und das Ansehen des Lehrerberufs einen 
starken Einfluss auf die Unterrichtspraxis haben. Dieser Status ist aber von Kultur zu 
Kultur sehr verschieden und nicht leicht durch kurzfristige politische Maßnahmen ver-
änderbar.

­ 
Da PISA nur einen engen Ausschnitt messbarer Aspekte von Bildung betont, lenken 
die Tests die Aufmerksamkeit von den weniger messbaren oder nicht messbaren Bil-
dungs­ und Erziehungszielen wie z.B. der körperlichen, moralischen, staatsbürgerli-
chen und künstlerischen Entwicklung ab. Dadurch wird die öffentliche Vorstellung 
von dem, was Bildung ist und sein soll, in gefährlicher Weise verengt. 
­ 
Als Organisation für wirtschaftliche Entwicklung ist die OECD naturgemäß auf die 
ökonomische Rolle der öffentlichen Schulen fokussiert. Aber die Vorbereitung auf 
einträgliche Arbeit kann nicht das einzige, ja nicht einmal das Hauptziel öffentlicher 
Bildung und Erziehung sein. Unser Schulwesen muss Schülerinnen und Schüler auch 
auf die Mitwirkung an der demokratischen Selbstbestimmung, auf moralisches Han
deln und auf ein Leben in persönlicher Entwicklung, Reifung und Wohlbefinden vor
bereiten.
­ 
Im Gegensatz zu Organisationen der Vereinten Nationen (UN) wie UNESCO oder UN-
ICEF, die ein klares und legitimes Mandat im Bildungsbereich haben, verfügt die 
OECD nicht über ein solches Mandat. Auch gibt es derzeit keine Mechanismen, die 
eine wirkungsvolle demokratische Teilhabe an deren Entscheidungsprozessen zu Bil-
dungsfragen ermöglichen. 
­ 
Um PISA und eine große Zahl daran anschließender Maßnahmen durchzuführen, ist 
die OECD „ Public Private Partnerships“  und Allianzen mit multinationalen, profitori-
entierten Unternehmen eingegangen, die bereitstehen, um aus jedem von PISA iden-
tifizierten –  realen oder vermeintlichen –  Bildungsdefizit Profit zu schlagen. Einige 
dieser Firmen verdienen an den Bildungsdienstleistungen die sie für öffentliche Schu
len und Schulbezirke bereitstellen. Diese Firmen verfolgen u.a. auch Pläne, eine profi
torientierte Grundschulbildung in Afrika zu entwickeln, wo die OECD derzeit plant, 
PISA einzuführen. 
­ 
Schließlich und am wichtigsten: Das neue PISA­Regime mit seinen kontinuierlichen 
globalen Testzyklen schadet unseren Kindern und macht unsere Klassenzimmer bil-
dungsärmer durch gehäufte Anwendung von Multiple­Choice­Testbatterien, vorge-
fertigten (und von Privatfirmen konzipierten) Unterrichtsmodulen, während sich die 
Autonomie unserer Lehrer weiter verringert. Auf diese Weise hat PISA den ohnehin 
schon hohen Grad an Stress an unseren Schulen weiter erhöht und gefährdet das 
Wohlbefinden von Schülern und Lehrern.

Diese Entwicklungen stehen in offenem Widerspruch zu weithin anerkannten Prinzipi-
en guter Bildungspolitik und demokratischer Praxis: 
­ 
Keine tiefgreifende Reform sollte auf nur einem einzigen, beschränkten Qualitäts
maßstab beruhen. 
­ 
Keine tiefgreifende Reform sollte die wichtige Rolle von außerschulischen Faktoren 
ignorieren, wozu insbesondere die sozioökonomische Ungleichheit einer Gesellschaft 
gehört. In vielen Ländern hat die soziale Ungleichheit über die letzten 15 Jahre dra
matisch zugenommen, was die sich ausweitende Bildungskluft zwischen Reich und 
Arm erklärt. Diesem sozialpolitischen Problem kommen auch die ausgeklügeltsten Bil
dungsreformen nicht bei. 
­ 
Eine Organisation wie die OECD— wie jede Organisation, die das Leben unserer Ge-
sellschaften tiefgreifend beeinflusst— sollte von den Mitgliedern dieser Gesellschaften
demokratisch zur Rechenschaft gezogen werden können.

Doch wir schreiben nicht nur, um Mängel und Probleme aufzuzeigen. Wir möchten ebenso 
konstruktive Ideen und Vorschlägeanbieten, die dazu beitragen können, die oben angeführten 
Probleme zu verringern. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit nennen wir die folgenden:
­ 
Alternativen zu Ranglisten: Es sind aussagekräftigere und weniger sensationsheischende 
Wege für Bildungsvergleiche zu finden. Es macht zum Beispiel weder pädagogischen noch 
politischen Sinn, Entwicklungsländer, in denen 15Jährige regelmäßig zur Kinderarbeit ver-
pflichtet werden, mit Ländern der Ersten Welt zu vergleichen.Zudem setzt dies die OECD 
dem Vorwurf des Bildungskolonialismus aus; 
­ 
Partizipation aller relevanten Akteure: Bis jetzt haben Psychometriker, Statistiker und 
Ökonomen den größten Einfluss auf Testkonzeption und ­durchführung. Ihnen steht 
sicher ein Platz am Tisch zu. Dies gilt aber auch für Eltern, Pädagogen, Vertreter der 
Bildungsverwaltung, Studenten und Schüler ebenso wie für Wissenschaftler aus Diszi-
plinen wie der Anthropologie, Soziologie, Geschichte, Philosophie, Linguistik wie 
auch der Kunst und den Geisteswissenschaften. Woran und wie wir die Bildung von 
15­jährigen Schülern bemessen, sollte Gegenstand von Diskussionen sein, bei denen 
alle diese Gruppen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene einbezogen 
sind. 
­ 
Einbeziehung der vollen Bandbreite nationaler und internationaler Organisationen: 
Insbesondere Organisationen, deren Auftrag über den ökonomischen Aspekt öffentli-
cher Bildung hinausgeht und die sich mit Gesundheit, umfassender Entwicklung, 
Wohlbefinden und Glück der Schüler und Lehrer beschäftigen. Das würde sowohl die 
oben erwähnten Organisationen der Vereinten Nationen als auch –  um nur einige zu 
nennen –  Verbände von Lehrern, Eltern und Schulverwaltungen miteinschließen.
­ 
Kostentransparenz: Die direkten und indirekten Kosten der Durchführung von PISA 
sollten veröffentlicht werden, so dass die Steuerzahler der Mitgliedstaaten alternative
Verwendungen der Millionenausgaben für diese Tests erwägen und bestimmen kön-
nen, ob sie weiterhin an diesen Tests teilnehmen wollen.
­ 
Unabhängige Aufsicht und Überwachung: Unabhängige internationale Beobachter
teams sollten die Durchführung von PISA von der Konzeption bis zur Umsetzung 
überwachen, so dass häufig geäußerte Kritik bezüglich Testformat, Statistik­ und Aus
wertungsmethoden angemessen diskutiert werden kann und Vorwürfe von Einseitig-
keit und unfairen Vergleichen geprüft werden können. 
­ 
Rechenschaftslegung und Interessenkonflikte: Es sollte detailliert Rechenschaft über 
die Rolle privater, profitorientierter Unternehmen in der Vorbereitung, Ausführung 
und Nachfolge von PISA abgelegt werden, um scheinbare oder tatsächliche Interes-
senkonflikte zu vermeiden. 
­ 
Besinnungspause: Die OECD­Testmaschinerie sollte heruntergefahren werden. Um 
Zeit für die Diskussion der hier erwähnten Aspekte auf lokaler, nationaler und inter-
nationaler Ebene zu gewinnen, wäre es nützlich, den nächsten PISA-­Zyklus auszuset-
zen. Das würde Zeit verschaffen, um das Gelernte, das aus den vorgeschlagenen Über
legungen hervorgeht, zu verarbeiten.

Wir zweifeln nicht, dass die PISA­Experten der OECD den aufrichtigen Wunsch haben, 
Bildung zu verbessern. Aber wir können nicht verstehen, wie die OECD zum globalen 
Schiedsrichter über Mittel und Ziele von Bildung in der ganzen Welt werden konnte. 

Die enge Ausrichtung der OECD auf standardisierte Tests droht Lernen in Pedanterie zu 
verwandeln und Freude am Lernen zu beenden. Durch den von PISA stimulierten inter-
nationalen Wettlauf um Testergebnisse hat die OECD die Macht erhalten, weltweit Bil-
dungspolitik zu bestimmen, ohne jede Debatte über die Notwendigkeit oder Begrenzt-
heit der OECD­-Ziele. Durch das Messen einer großen Vielfalt von Bildungstraditionen 
und ­kulturen mit einem engen und einseitigen Maßstab kann am Ende unseren Schulen 
und unseren Schülern irreparabler Schaden zugefügt werden.

(Autorisierte Fassung von „Open Letter to Andreas Schleicher“; Übersetzung: Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.)

Heinz ­Dieter Meyer
Professor, State University of New York

Katie Zahedi, 
Schulleiterin, Linden Avenue Middle School, Red Hook, New York



Wenn auch Sie den Brief unterschreiben wollen, klicken Sie


 

Mittwoch, 20. März 2019

Sie bewegen sich kaum noch.


aus welt.de, 20. 3. 2019

Mädchen und Jungen bewegen sich im Alltag immer weniger

So viele Kinder wie nie zuvor sind Mitglieder in Sportvereinen. Doch eine Langzeitstudie zeigt: Die Bewegung im Alltag steigt dadurch nicht – im Gegenteil. Die Wissenschaftler führen das nur bedingt auf den wachsenden Medienkonsum zurück. 

Im Alltag bewegen sich Kinder und Jugendliche immer weniger – das gehört zu den neuesten Erkennt- nissen der Langzeitstudie „Motorik-Modul“ („MoMo“). Obwohl so viele Kinder wie nie zuvor in Sport- vereinen engagiert seien, könne dies den Bewegungsmangel im Alltag nicht ausgleichen, sagte der Karlsruher Sportwissenschaftler Alexander Woll, der die Studie betreut. „Unter dem Strich haben wir ein Minus an Bewegung.“

Seinen Angaben zufolge sank die körperliche Alltagsaktivität in der Altersgruppe der Vier- bis 17-Jährigen in den vergangenen zwölf Jahren um 37 Prozent und damit um 31 Minuten pro Woche.

 
Das sei aber nicht unbedingt dem drastisch steigenden Medienkonsum geschuldet: Erstaunlicherweise habe sich gezeigt, dass körperliche Aktivität und Mediennutzung nicht direkt miteinander zusammenhängen. Sprich: Kinder, die weniger daddeln, surfen oder auf sozialen Medien unterwegs sind, bewegten sich nicht zwangsläufig mehr, so Woll mit Blick auf den Kongress „Kinder bewegen“, der am Donnerstag beginnt.

Unterschiede zwischen Geschlechtern wachsen

Medienkonsum sei deswegen noch lange nicht harmlos, betonte Woll. „Spannend wäre zum Beispiel zu sehen, wie hoch die Sitzzeit ist bei den Kindern mit hohen Bildschirmzeiten. Da könnte ich mir dann sehr wohl vorstellen, dass Medienkonsum ein unabhängiger Risikofaktor ist für viele Zivilisationskrankheiten.“

Auffällig sei auch, dass der Unterschied zwischen den Geschlechtern in den letzten sechs Jahren größer geworden sei. Mädchen schnitten in Sachen Bewegung deutlich schlechter ab als Jungen.

Die repräsentative Studie wertet alle drei Jahre Motorikdaten von zwischen 4500 und 6200 Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus. Dabei werden die Daten im Längsschnitt verglichen – also dieselben Personen über einen langen Zeitraum hinweg beobachtet. Zudem werden die Daten im Querschnitt betrachtet, indem Personengruppen immer desselben Alters verglichen werden. 



Nota. -  Wenn man sie reden hört, könnte man meinen, in der Wichtigkeit, mit der sie über alles reden, was ihre Kinder betrifft, spräche sich eine Vergötzung der Kindheit als "das wahrere Leben" aus. Das Gegenteil ist der Fall. Noch nie wurde Kindheit so eng als Vorbereitungszeit auf Später aufgefasst als heute, und wenn es heißt, Kinder müssten "zu allererst Kinder sein dürfen", dann ist gemeint: sich einen Vorrat an Fun zulegen, der sie für den künftigen Ernst des Lebens rüstet. Spielen ist Einüben von Kompetenzen; sinnvoll.

Rennen und Raufen ist das unnütze Gegenteil. Jungen werden sich immer mehr bewegen als Mädchen. Aber erwünscht ist es nicht, allenfalls geduldet, wenn in Hüpfburgen eingehegt. 

PS. Andreas Schleicher kennt im übrigen die Lösung: Wenn sonst nichts hilft, hilft im Zweifelsfall - die Ganztagsschule, was denn sonst?

JE