Nutzlose Dinge
Eine ganze Welt in der Hosentasche
Als Kinder versammelten wir in der Hosentasche mit allerlei nutzlosem Kleinkram ein Museum des Alltags, das uns die Welt bedeutete. Heute verschwinden die kleinen Dinge.
Erinnern wir uns? Ein kurzes Stück verknotete Schnur, eine Streichholzschachtel («Welthölzer»!), ein klebriges Bonbon, eine verrostete Schraube, ein paar rostige Pfennige, ein Talmi-Ring aus dem Kaugummiautomaten, manchmal ein toter Käfer (dann in der Schachtel aufgebahrt), vielleicht ein Zettelchen mit krakeliger Notiz und ein Bleistiftstummel. In unseren Kinder-Hosentaschen verbargen sich lauter kleine Dinge als eine Sammlung weltbedeutenden Beiwerks. Nützlich für uns, wenn nicht gleich, dann sicher irgendwann; undurchschaubar und deshalb wertlos für jeden anderen, zumal wenn dieser andere ein Erwachsener war.
Sehr viel später haben wir dann bei Vilém Flusser gelesen, dass die Grossen unrecht hatten, wenn sie die Sachen als überflüssigen Kram abtaten: Diese Dinge hätten vielmehr eine «hohe innere Komplexität» und seien als Konglomerat «Resultate einer hohen geistigen Disziplin» gewesen, die «in gar keinem Verhältnis zu ihrer äusserst armseligen, um nicht zu sagen beinahe idiotischen Leistung stehen».
Rätselhafte Begierden
Sicher, sie leisteten nichts, ihr abgegriffener Minderwert machte sie – in den Augen der Ignoranten – zu lächerlichen Objekten rätselhafter Begierden. Sie waren plötzlich da, gefunden, getauscht und doch nicht austauschbar. Fuhr man mit der Hand in die Hosentasche, vergewisserte man sich tastend ihrer Vollständigkeit; kam etwas abhanden, musste ein neues Ding erst seine Notwendigkeit in unserem abgesteckten Kinder-Kosmos beweisen. Hatte dieses Ding das Zeug dazu, aufgenommen zu werden in der dunklen Wunderkammer? Das Stückchen Hosengummi hier, das sah doch aus wie das Versprechen auf Kommendes, das der Erlösung harrte.
Vielleicht hat dies alles heute in Apps und auf Speicherkarten von Smartphones Platz, kann abgerufen und angeklickt und weggewischt werden. Wir müssen die Dinge nicht mehr greifen, um sie begreifen zu können, wir tippen sie nurmehr an, immer ein wenig ängstlich, ihnen ausgeliefert zu werden. Doch sie bleiben zuverlässig auf Distanz und auf der Oberfläche des Displays. Sie werden uns angezeigt, ihre Funktion wird erklärt, ihre Geschichte erzählt. Das muss reichen. Freilich sind es fremde Geschichten, die mit unseren Erinnerungen nichts zu tun haben. Die Abenteuer und ihre Attribute gehören nicht mehr uns allein, sie sind massenhaft verbreitet und unendlich reproduzierbar.
In den Hosentaschen laufen derweil die Akkus heiss, und schrille Töne und verrückte Klänge hört man von dort, wo es einst geheimnisvoll, unergründlich raschelte und klimperte (sogar noch lebte?). Die Phantasie ist nun abgespeichert, jedes Geheimnis weltweit frei zugänglich.
Aber wären nicht gerade das genügend Gründe für eine Renaissance der realen kleinen Dinge, für eine (Rück-)Besinnung auf die Lust an den gewöhnlichen Sachen und Nebensächlichkeiten, die uns wie Talismane begleiten und denen wir die zauberhafte Fähigkeit zusprechen dürfen, einen Sinn nur für uns, ihre Besitzer, zu haben? Das Ding an sich könnte heute zu einem Objekt der Standortbestimmung werden. Sei es auch noch so klein (ein Stein vom Weg, den wir täglich gegangen sind; eine Feder, die zwischen Häuserschluchten zu Boden trudelt; eine Münze alter Währung, die sich in der Börse versteckt) und für den Rest der Welt unbedeutend.
Für den, der es hat, wäre es ein Funken Sicherheit: Wo die «grossen Projekte» uns die Sicht versperren, wo die Haltbarkeit von Lebensentwürfen nicht mehr verlässlich und die Orientierung inmitten eines überbordenden Waren- und Informationsangebots schwankend geworden ist, würde die Kleinigkeit zu einer Art Anker. Anhand der Dinge, die uns umgeben, vergewissern wir uns, selber noch einen bestimmbaren Platz in dem grossen Durcheinander einzunehmen: Das alltägliche Objekt erhält einen individuellen Wert, und nicht zuletzt aus der Vergangenheit werden Dinge hervorgekramt, bei deren Betrachtung die Zeiten und Menschen auferstehen, die einmal waren.
Der Schweizer Architekturhistoriker Sigfried Giedion war sich sicher, dass abseits der grossen Historienbilder solche Fragmente von Dingen des Alltags genügen würden, «um den Gefühlsinhalt einer Epoche mitzuteilen». Und Paul Auster durchstöberte in seinem «Winterjournal» systematisch die Stationen seines Lebens und erstellte mit den profanen Gegenständen, die er sich aus seinen jeweiligen Wohnungen und Häusern ins Gedächtnis zurückrief, eine Art «Katalog der Sinnesdaten». Die Dinge, noch die kleinsten, lassen eben Rückschlüsse zu. Gerade ihre augenscheinliche Unwertigkeit ist es, die dazu herausfordert, um sie herum und in immer weiterziehenden Kreisen zu beobachten und weiterzudenken. Das Ding, herausgerissen aus seiner Alltäglichkeit, wird zum Ausgangspunkt der Erforschung der eigenen Befindlichkeit oder gar der einer ganzen Epoche.
Sehnsucht nach dem Eigenen
Die inneren und äusseren Räume, in denen wir uns bewegen, sind längst austauschbar. In Schaufenstern blicken wir in jeder Fussgängerzone auf die gleichen Kaufobjekte, die man in jeder Stadt zum gleichen Preis erwerben kann, um sie dann in der Wohnung abzustellen, die sowieso schon aussieht wie die des Nachbarn. Diese vorgestanzte Wirklichkeit und diese Überfülle an verwechselbaren Gegenständen aber erzeugen ein seltsames, ein spürbares Nichts in uns. Tilman Allert meint in seiner «Soziologie der kleinen Dinge», dass wir im inhaltlich leer gewordenen überfüllten öffentlichen Raum einer Sehnsucht nach etwas Eigenem nachhängen, dem wir unsere Zuwendung geben können.
Kurzzeitig sprang da vor Jahrzehnten wundersamerweise das kleine handliche Tamagotchi ein (ein Zwitterwesen aus seelenlosem Ding und digitaler Lebenslüge) und erinnerte uns als deren Surrogat piepsend an vernachlässigte wahre Werte wie Liebe und Verantwortung. Heute ist Ähnliches sogar an lebendigen Objekten zu beobachten. Während die Autos immer grösser und panzerartiger werden, entsteigen ihnen manchmal Menschen, die in ihren Handflächen winzige Hunde halten. Setzt man diese mit ihren staksig kümmerlichen Beinchen auf den Gehsteig, ähneln sie Ratten auf Stelzen.
Ein solches Wesen erinnert eher an ein aufziehbares Spielzeug, und sein Daseinsbeweis erschöpft sich mit einem meist grellen, in seltsamem Missverhältnis zu seiner Körpergrösse stehenden Bellen, damit man sie nicht übersieht und plattmacht. Recht besehen, sind diese Hunde neben den Mikrochips, die man bald gar nicht mehr sehen wird, das Einzige, was in unserer zur Gigantomanie neigenden Höher-, Breiter-, Länger-Zeit tatsächlich kleiner geworden ist.
Solch einen Kleinsthund hätten wir damals auch noch locker in die Hosentasche gesteckt zu unseren ganz privaten Objekten. Oder nein – er wäre uns zu unecht und zu punktgenau überzüchtet gewesen, kein Ding des Zufalls eben, auf den wir uns doch immer neugierig verlassen hatten.
Die Kleinigkeiten, die wir einsackten, bargen Rätsel und erhielten ihren Wert für uns durch ihre Veränderungen im Verlauf der Zeit: Sie waren schon durch viele Hände gewandert, und ihr jeweiliger Zweck lag in der Betrachtung ihres jeweiligen Besitzers. Diese Dinge waren Schätze, geborgen und bewacht in einer Zeit, der es noch ein wenig an Überfluss mangelte und in der das Wegwerfen längst noch nicht das Ende ihrer Geschichte bedeutete.
Nota. - Jungens hatten Hosentaschen, Mädchen nicht. Jetzt tragen auch Mädchen Jeans, aber die kleinen Dinge, die den Jungen ihr rätselhaftes Universum bedeuten, interessieren sie noch heute nicht. Ihre Begierden sind nicht - und ihnen am wenigsten - rätselhaft, und wenn sie auch am liebsten alles haben wollten, treibt sie doch nicht die Sehnsucht nach Eigenem. Im Internet so wenig wie eh.
Das ist das Thema, das der Autor verfehlt hat, es ist ein ganzer Kontinent.
JE
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