Donnerstag, 14. Juli 2016

Die Odenwaldschule und die Geißel des Gemeinschaftskults.


Aus gegebenem Anlass heute ein weiteres Mal:


aus NZZ, 9. 11. 2011

Erzieherischer Eros und sexuelle Gewalt
Jürgen Oelkers über die dunklen Anfänge der Reformpädagogik

Von Urs Hafner · Die Odenwaldschule galt bis vor kurzem als die reformpädagogische Vorzeigeinstitution schlechthin. Das Internat in Hessen wollte es besser machen als die staatliche Schule: Die Schülerinnen und Schüler sollten fürs Leben lernen und ihre Persönlichkeit selbstbestimmt entfalten können, die Lehrer mit den Kindern statt gegen sie arbeiten. Doch seit publik geworden ist, dass sich Lehrkräfte während Jahrzehnten sexuell an ihren Zöglingen vergangen haben, steht das Internat im Zwielicht da. Mit ihm ist die gesamte Reformpädagogik in Verruf geraten. Freilich wird oft pauschal angeklagt, zuweilen auch aus purer medialer Skandalisierungslust.

Die Ursünde

Jürgen Oelkers nimmt in «Eros und Herrschaft» die schlimmen Vorfälle an der Odenwaldschule zum Anlass, «die dunklen Seiten der Reformpädagogik» - so der Untertitel seines neuen Buchs - aufzudecken. Der in Zürich lehrende Erziehungswissenschafter möchte das in seinen Augen beschönigende Selbstbild der Reformpädagogik und der Institutionen, welche sie im Programm führen, entlarven. Er formuliert für ein breites Publikum, wendet sich aber mit der Absicht, quasi ein dogmengeschichtliches Tabu der Pädagogik zu brechen, vor allem an pädagogische Kreise.


Oelkers hat zahlreiche, bereits edierte Belege aus den Anfängen der vier bekannten Landerziehungsheime Ilsenburg, Haubinda, Wickersdorf und Odenwald zusammengetragen. Das in sechs Kapiteln (nicht immer einleuchtend) geordnete Material aus der Zeit zwischen 1889 und 1933 liest sich wie eine einzige grosse Schauergeschichte: Da gibt es unter den Schulgründern - allesamt Theologen mit grossem Hang zur Egomanie - Intrigen und Sezessionen; da wird auch von Lehrern nationalistisches, antisemitisches und nationalsozialistisches Gedankengut gepflegt (seltener sozialistisches und pazifistisches); da werden Knaben und Kinder eingeschüchtert, geschlagen und sexuell missbraucht. Die Zöglinge kamen mehrheitlich aus begüterten Schichten, die sich die hohen Kosten für ihre oftmals renitenten, in der staatlichen Schule durchgefallenen Sprösslinge leisten konnten.

Die von Oelkers abstossend geschilderte Szenerie wird von den tonangebenden Protagonisten, allen voran Gustav Wyneken und Paul Geheeb, die sich für Meisterpädagogen hielten (und gemäss dem Autor von manchen Pädagogen noch immer für solche gehalten werden), ideologisch zweifach verbrämt: zum einen durch das Konzept der Lebensreform. Es propagiert eine Leib und Seele stärkende Körperkultur, die Abstinenz von allen weltlichen Genüssen, Rohkost, naturgerechte Kleidung, Luftbäder und das natürliche Landleben, das im Gegensatz zum Leben in der sündigen Stadt keinem verderblichen Einfluss ausgesetzt ist. Die zweite Verbrämung leistet das Konzept des pädagogischen Eros. Laut Oelkers verbirgt dieses hinter einer hochtrabend philosophischen Programmatik, die eine persönlich-platonische Beziehung zwischen Lehrer und Schüler postuliert, ein meist pädophil motiviertes sexuelles Herrschaftsverhältnis.

Dieses Herrschaftsverhältnis ist ideell in der 1889 erfolgten Gründung der englischen New School of Abbotsholme angelegt, die den deutschen Landerziehungsheimen Pate stand. Die Gründer des Knabeninternats, das den «ganzen Menschen» bilden sollte, propagierten «the love of comrades», die Kameradenliebe - «eine Bezeichnung», so Oelkers, «die der homosexuelle Dichter Walt Whitman an verschiedenen Stellen» in einer Liedersammlung verwendet hat. Auf Whitmans Anschauungen hat sich der homosexuelle Edward Carpenter berufen, ein Verfechter der Knabenliebe, der mit dem homosexuellen Cecil Reddie befreundet gewesen ist. Reddie wiederum war der Gründer des Abbotsholme-Internats. Was Oelkers suggeriert, aber argumentativ nicht deutlich genug ausführt: Eine zentrale Ursache der sexuellen Übergriffe an den Reformschulen findet sich in dem homosexuell und päderastisch imprägnierten Gründungszirkel der ersten der neuen Schulen.

Wenig Zwischentöne

Jürgen Oelkers ist Erziehungswissenschafter, nicht Historiker. Sein Buch läuft auf ein Plädoyer für die heutige staatliche Schule und ihre pädagogischen Reformanstrengungen hinaus. Es würdigt deren Verdienste um einen für alle Schichten erschwinglichen und kindergerechten Unterricht - für Oelkers war die staatliche Schule, wenn man so will, schon immer reformpädagogisch und im Hinblick auf die Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler erst noch erfolgreicher als die Landerziehungsheime. Wie es gewesen ist, interessiert ihn nur insofern, als die Vergangenheit seine These stützt, dass das Versagen der Odenwaldschule in ihren Anfängen angelegt ist.

Das Buch vermag daher als erziehungswissenschaftlicher Beitrag zur Diskussion um die Reformpädagogik, nicht aber als eine Geschichtsschreibung der reformpädagogischen Anfänge zu überzeugen. Zu wenig beachtet der Autor die Historizität, und schnell fällt er sein Urteil, das wenig Zwischentöne zulässt.


Nota. - Es war abzusehen, dass die Kostgänger der deutschen Schulroutine den Skandal an der Odenwaldschule zum Anlass nehmen würden, sich unter Adenauers Parole Keine Experimente! die Zumutungen der Reformpäd- agogik ein für alle Mal vom Hals zu schaffen. Ein bisschen feilen hier, ein bisschen schrauben dort, und ein bisschen Tünche überall – das ist die Reform, die unsrer Schule frommt und ihren treuen durchschnittlichen uncharismatischen Dienstleuten. Nüchtern, prosaisch und ohne Aura. 

Dabei sind es nicht die Künstlerpersönlichkeiten unter den Pädagogen, die die Landschulheime zu Brutstätten des "pädagogischen Eros" machen. Konfessionelle Internate sind, habt ihr das schon vergessen, nicht minder anfällig. Und vor Charismatikern wimmeln sie nicht.

Etwa die Frage, ob ein Päderast ein ordentlicher Pädagoge sein kann, und die andere Frage, ob ein Pädagoge ein ordentlicher Liebhaber sein kann. Zum ersten: Im Prinzip schon, wenn er nicht sonst gravierende Fehler hat; unter Umständen bringt er gar etwas mit, was andere nicht haben. Zum zweiten: Ganz gewiss nein, denn anders als bei den Griechen findet Pädagogik bei uns in öffentlichen Institutionen statt (und wenn sie nicht öffentlich sind, sondern weltanschaulich gebunden und privat, gilt folgendes erst recht:) – und da ist der Pädagoge Repräsentant der Welt und ihres Räderwerks gegenüber dem Schüler. Das ist ein gewaltiges Verhältnis, aber Liebe ist ein intimes Verhältnis, und wird beides miteinander verschnitten, wird schnell ein Gewaltver-hältnis daraus. Das hat mit der griechischen Knabenliebe, die einen kultische aristokratische Einrichtung war, gar nichts zu tun. Ein Pädagoge, der sich heute in unsern Breiten darauf beruft, ist ein Heuchler.

Es ist ganz etwas anderes, das die Landerziehungsheime anfällig macht für allerlei Arten des Missbrauchs – etwas, das sie mit den konfessionellen Internaten gemein haben. Es ist der Kult der verschworenen Gemeinschaft mit ihrer omertà, dem mafiösen Gesetz des Schweigens. Die Wurzeln der Reformpädagogik liegen in der deut- schen Jugendbewegung (aber ganz genau genommen lagen die Wurzeln des Wandervogels in der Reformpädago-gik). Die 'Gemeinschaft' als politisches Ideal war ein Gegenentwurf zum bürokratisch maschinellen preußi-schen Reich, und das Führerprinzip war ihr Korrelat – eine Antwort auf die parlamentarische Klientelwirtschaft. Ich sage nichts Neues, wenn ich daran erinnere, dass viele der Ingredienzien, aus denen der Nationalsozialis-mus sein ideologische Gebräu zusammengekocht hat, aus dem Vermächtnis der Jugendbewegung herkommt. Und dass die Bünde schließlich verboten wurden – selbst Blühers Jungwandervogel – lag nur daran, dass sie ihre Selbständigkeit nicht preisgeben wollten. Mental standen sie der HJ, von der sie vereinnahmt wurden, gar nicht fern. 

Als ich vor Jahren selber bemüht war, ein Landerziehungsheim zu gründen, habe ich sorgfältig darauf geachtet, der Gemeinschaft keinen Eingang ins pädagogische Konzept zu gewähren. Von Geselligkeit ist dort die Rede, und das ist nicht Gemeinschaft-light, sondern der spezifische Gegensatz zur Gemeinschaft. Zu einander gesellen können sich nur Personen, ihr Verhältnis zu einander ist Wechselwirkung und nicht Alle an einem Strang. Und besondern Wert habe ich bei der Wahl des Standorts darauf gelegt, dass die Schüler jedes Wochenende mit öffentlichen Verkehrsmitteln  selbständig nach Hause fahren können. Nichts ist schädlicher für eine freie Geselligkeit als das Schmoren im eignen Saft.

Und kein besseres Mittel gegen das Gesetz des Schweigens, als freie Geselligkeit.
JE

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