Das Labor und das Leben
Eine Welt braucht jeder von uns, weil wir unsre Umwelt verlassen haben. Aber eine gemeinsame Welt brau-chen wir, weil wir zusammen arbeiten müssen. Vereinfacht, aber kaum verkürzend kann man sagen: ‚Unsere’ Welt verdanken wir der Arbeitsgesellschaft, und Wissenschaft ist ihr Abbild. In der Arbeitsgesellschaft gilt ‚unsere’ Welt als die ganze Welt, was in ihr nicht vorkommt, ist nicht real. Aber nur in der Arbeitsgesellschaft kann keiner leben, nicht der Arbeiter und nicht einmal sein Chef. Nach Feierabend darf verkehrte Welt sein, wenn man’s bezahlen kann, und gilt ein Kunstwerk nicht nur als Sachanlage. Aber das liegt jenseits der Realität.
Die Schule will die Arbeitsgesellschaft als das wahre Leben und ‚unsere’ Welt als die wahre Welt, will Wissen-schaft als das wahre Wissen lehren. (Die musischen Fächer setzen ein paar Gänsfüßchen hintan, aber keiner nimmt sie ernst.) Und jedenfalls sind die Grenzen ihrer Welt die Grenzen ihrer Wörter: „Pädagogisches Handeln ist nur dort möglich, wo der wechselseitige Austausch von sprachlich erschlossenen Erfahrungen möglich ist“, schreibt Hermann Giesecke, und fügt hinzu, das sei „der Normalfall im privaten wie im gesell-schaftlichen Leben“.* Reden über unsere Welt – das wäre Erziehung! Nein, das ist nicht der Normalfall im privaten wie im gesellschaftlichen Leben. Das ist der Normalfall im pädagogischen Labor, und nirgends sonst. Nur weil schulische Pädagogik im Labor stattfindet, kann sie sich für ‚Wissenschaft’ halten; für ‚nomotheti-sches’ Herrschaftswissen zumal.
Normalisierung bedarf freilich eines mehrjährigen Aufenthalts im Labor. Dort wird auf das gesetzmäßig Ver-bindende abgesehen und das individuell Unterscheidende ausgeklammert – bei den wissenschaftlich bestimm-ten Lehrgegenständen, was dachten Sie? Na ja, wenn ich’s recht besehe – bei den Schülern auch. Natürlich werden die persönlichen Eigenheiten des einen und der andern ‚zugelassen’, aber als Ausnahmen von der Regel. Die Regel bleibt die Regel. Wie soll der Betrieb sonst funktionieren? „Standards“, na bitte, ick bün all do! Das ist der methodologische Sinn der Laborsituation: Störfaktoren ausschalten! Es ist nicht „das Leben“, wor-auf die Schule vorbereitet, sondern das Arbeitsleben. Und das ist nur ein Teil der Wirklichkeit, und zwar, am Ende der industriellen Zivilisation, ein schrumpfender.
Die Arbeitswelt war ‚unsere’ Welt, war Sinn und Zweck des Lebens. Es gab noch einen Rest, der war Randbe-dingung, Konsumsektor, Pause und Erholung. In der Arbeitsgesellschaft war Normalisierung ein ‚gerechtfertig-tes’, nämlich aus historischer Notdurft erwachsenes Postulat. Heute erscheint immer mehr die Arbeit als ein Rest, eine Randbedingung des Lebens, das seine Bestimmung verloren – oder, besser gesagt: seine Bestimmung als Unbestimmtes wiedergefunden hat. Das wirkliche Leben spielt (sic) sich immer in einer schwebenden Span-nung zwischen ‚unserer’ und ‚meiner’ Welt ab. Wie gut sich einer in dieser Schwebe hält, bleibt tagtäglich sein Problem. Jemanden für dies Problem zu wappnen, ist der einzig mögliche Sinn einer Erziehung, durch die ‚der Mensch zum Menschen wird’.
*) Hermann Giesecke, Pädagogik als Beruf, Weinheim 1987, S. 23
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