Donnerstag, 21. Juli 2016

Ein Universum in der Hosentasche.

aus nzz.ch, 21.7.2016, 05:30 Uhr

Nutzlose Dinge
Eine ganze Welt in der Hosentasche
Als Kinder versammelten wir in der Hosentasche mit allerlei nutzlosem Kleinkram ein Museum des Alltags, das uns die Welt bedeutete. Heute verschwinden die kleinen Dinge.

von Bernd Noack

Erinnern wir uns? Ein kurzes Stück verknotete Schnur, eine Streichholzschachtel («Welthölzer»!), ein klebriges Bonbon, eine verrostete Schraube, ein paar rostige Pfennige, ein Talmi-Ring aus dem Kaugummiautomaten, manchmal ein toter Käfer (dann in der Schachtel aufgebahrt), vielleicht ein Zettelchen mit krakeliger Notiz und ein Bleistiftstummel. In unseren Kinder-Hosentaschen verbargen sich lauter kleine Dinge als eine Sammlung weltbedeutenden Beiwerks. Nützlich für uns, wenn nicht gleich, dann sicher irgendwann; undurchschaubar und deshalb wertlos für jeden anderen, zumal wenn dieser andere ein Erwachsener war.

Sehr viel später haben wir dann bei Vilém Flusser gelesen, dass die Grossen unrecht hatten, wenn sie die Sachen als überflüssigen Kram abtaten: Diese Dinge hätten vielmehr eine «hohe innere Komplexität» und seien als Konglomerat «Resultate einer hohen geistigen Disziplin» gewesen, die «in gar keinem Verhältnis zu ihrer äusserst armseligen, um nicht zu sagen beinahe idiotischen Leistung stehen».

Rätselhafte Begierden

Sicher, sie leisteten nichts, ihr abgegriffener Minderwert machte sie – in den Augen der Ignoranten – zu lächerlichen Objekten rätselhafter Begierden. Sie waren plötzlich da, gefunden, getauscht und doch nicht austauschbar. Fuhr man mit der Hand in die Hosentasche, vergewisserte man sich tastend ihrer Vollständigkeit; kam etwas abhanden, musste ein neues Ding erst seine Notwendigkeit in unserem abgesteckten Kinder-Kosmos beweisen. Hatte dieses Ding das Zeug dazu, aufgenommen zu werden in der dunklen Wunderkammer? Das Stückchen Hosengummi hier, das sah doch aus wie das Versprechen auf Kommendes, das der Erlösung harrte.

Vielleicht hat dies alles heute in Apps und auf Speicherkarten von Smartphones Platz, kann abgerufen und angeklickt und weggewischt werden. Wir müssen die Dinge nicht mehr greifen, um sie begreifen zu können, wir tippen sie nurmehr an, immer ein wenig ängstlich, ihnen ausgeliefert zu werden. Doch sie bleiben zuverlässig auf Distanz und auf der Oberfläche des Displays. Sie werden uns angezeigt, ihre Funktion wird erklärt, ihre Geschichte erzählt. Das muss reichen. Freilich sind es fremde Geschichten, die mit unseren Erinnerungen nichts zu tun haben. Die Abenteuer und ihre Attribute gehören nicht mehr uns allein, sie sind massenhaft verbreitet und unendlich reproduzierbar.

In den Hosentaschen laufen derweil die Akkus heiss, und schrille Töne und verrückte Klänge hört man von dort, wo es einst geheimnisvoll, unergründlich raschelte und klimperte (sogar noch lebte?). Die Phantasie ist nun abgespeichert, jedes Geheimnis weltweit frei zugänglich.

Aber wären nicht gerade das genügend Gründe für eine Renaissance der realen kleinen Dinge, für eine (Rück-)Besinnung auf die Lust an den gewöhnlichen Sachen und Nebensächlichkeiten, die uns wie Talismane begleiten und denen wir die zauberhafte Fähigkeit zusprechen dürfen, einen Sinn nur für uns, ihre Besitzer, zu haben? Das Ding an sich könnte heute zu einem Objekt der Standortbestimmung werden. Sei es auch noch so klein (ein Stein vom Weg, den wir täglich gegangen sind; eine Feder, die zwischen Häuserschluchten zu Boden trudelt; eine Münze alter Währung, die sich in der Börse versteckt) und für den Rest der Welt unbedeutend.

Für den, der es hat, wäre es ein Funken Sicherheit: Wo die «grossen Projekte» uns die Sicht versperren, wo die Haltbarkeit von Lebensentwürfen nicht mehr verlässlich und die Orientierung inmitten eines überbordenden Waren- und Informationsangebots schwankend geworden ist, würde die Kleinigkeit zu einer Art Anker. Anhand der Dinge, die uns umgeben, vergewissern wir uns, selber noch einen bestimmbaren Platz in dem grossen Durcheinander einzunehmen: Das alltägliche Objekt erhält einen individuellen Wert, und nicht zuletzt aus der Vergangenheit werden Dinge hervorgekramt, bei deren Betrachtung die Zeiten und Menschen auferstehen, die einmal waren.

Der Schweizer Architekturhistoriker Sigfried Giedion war sich sicher, dass abseits der grossen Historienbilder solche Fragmente von Dingen des Alltags genügen würden, «um den Gefühlsinhalt einer Epoche mitzuteilen». Und Paul Auster durchstöberte in seinem «Winterjournal» systematisch die Stationen seines Lebens und erstellte mit den profanen Gegenständen, die er sich aus seinen jeweiligen Wohnungen und Häusern ins Gedächtnis zurückrief, eine Art «Katalog der Sinnesdaten». Die Dinge, noch die kleinsten, lassen eben Rückschlüsse zu. Gerade ihre augenscheinliche Unwertigkeit ist es, die dazu herausfordert, um sie herum und in immer weiterziehenden Kreisen zu beobachten und weiterzudenken. Das Ding, herausgerissen aus seiner Alltäglichkeit, wird zum Ausgangspunkt der Erforschung der eigenen Befindlichkeit oder gar der einer ganzen Epoche.

Sehnsucht nach dem Eigenen

Die inneren und äusseren Räume, in denen wir uns bewegen, sind längst austauschbar. In Schaufenstern blicken wir in jeder Fussgängerzone auf die gleichen Kaufobjekte, die man in jeder Stadt zum gleichen Preis erwerben kann, um sie dann in der Wohnung abzustellen, die sowieso schon aussieht wie die des Nachbarn. Diese vorgestanzte Wirklichkeit und diese Überfülle an verwechselbaren Gegenständen aber erzeugen ein seltsames, ein spürbares Nichts in uns. Tilman Allert meint in seiner «Soziologie der kleinen Dinge», dass wir im inhaltlich leer gewordenen überfüllten öffentlichen Raum einer Sehnsucht nach etwas Eigenem nachhängen, dem wir unsere Zuwendung geben können.

Kurzzeitig sprang da vor Jahrzehnten wundersamerweise das kleine handliche Tamagotchi ein (ein Zwitterwesen aus seelenlosem Ding und digitaler Lebenslüge) und erinnerte uns als deren Surrogat piepsend an vernachlässigte wahre Werte wie Liebe und Verantwortung. Heute ist Ähnliches sogar an lebendigen Objekten zu beobachten. Während die Autos immer grösser und panzerartiger werden, entsteigen ihnen manchmal Menschen, die in ihren Handflächen winzige Hunde halten. Setzt man diese mit ihren staksig kümmerlichen Beinchen auf den Gehsteig, ähneln sie Ratten auf Stelzen.

Ein solches Wesen erinnert eher an ein aufziehbares Spielzeug, und sein Daseinsbeweis erschöpft sich mit einem meist grellen, in seltsamem Missverhältnis zu seiner Körpergrösse stehenden Bellen, damit man sie nicht übersieht und plattmacht. Recht besehen, sind diese Hunde neben den Mikrochips, die man bald gar nicht mehr sehen wird, das Einzige, was in unserer zur Gigantomanie neigenden Höher-, Breiter-, Länger-Zeit tatsächlich kleiner geworden ist.

Solch einen Kleinsthund hätten wir damals auch noch locker in die Hosentasche gesteckt zu unseren ganz privaten Objekten. Oder nein – er wäre uns zu unecht und zu punktgenau überzüchtet gewesen, kein Ding des Zufalls eben, auf den wir uns doch immer neugierig verlassen hatten.

Die Kleinigkeiten, die wir einsackten, bargen Rätsel und erhielten ihren Wert für uns durch ihre Veränderungen im Verlauf der Zeit: Sie waren schon durch viele Hände gewandert, und ihr jeweiliger Zweck lag in der Betrachtung ihres jeweiligen Besitzers. Diese Dinge waren Schätze, geborgen und bewacht in einer Zeit, der es noch ein wenig an Überfluss mangelte und in der das Wegwerfen längst noch nicht das Ende ihrer Geschichte bedeutete.


Nota. - Jungens hatten Hosentaschen, Mädchen nicht. Jetzt tragen auch Mädchen Jeans, aber die kleinen Dinge, die den Jungen ihr rätselhaftes Universum bedeuten, interessieren sie noch heute nicht. Ihre Begierden sind nicht - und ihnen am wenigsten - rätselhaft, und wenn sie auch am liebsten alles haben wollten, treibt sie doch nicht die Sehnsucht nach Eigenem. Im Internet so wenig wie eh.

Das ist das Thema, das der Autor verfehlt hat, es ist ein ganzer Kontinent.
JE


Donnerstag, 14. Juli 2016

Die Odenwaldschule und die Geißel des Gemeinschaftskults.


Aus gegebenem Anlass heute ein weiteres Mal:


aus NZZ, 9. 11. 2011

Erzieherischer Eros und sexuelle Gewalt
Jürgen Oelkers über die dunklen Anfänge der Reformpädagogik

Von Urs Hafner · Die Odenwaldschule galt bis vor kurzem als die reformpädagogische Vorzeigeinstitution schlechthin. Das Internat in Hessen wollte es besser machen als die staatliche Schule: Die Schülerinnen und Schüler sollten fürs Leben lernen und ihre Persönlichkeit selbstbestimmt entfalten können, die Lehrer mit den Kindern statt gegen sie arbeiten. Doch seit publik geworden ist, dass sich Lehrkräfte während Jahrzehnten sexuell an ihren Zöglingen vergangen haben, steht das Internat im Zwielicht da. Mit ihm ist die gesamte Reformpädagogik in Verruf geraten. Freilich wird oft pauschal angeklagt, zuweilen auch aus purer medialer Skandalisierungslust.

Die Ursünde

Jürgen Oelkers nimmt in «Eros und Herrschaft» die schlimmen Vorfälle an der Odenwaldschule zum Anlass, «die dunklen Seiten der Reformpädagogik» - so der Untertitel seines neuen Buchs - aufzudecken. Der in Zürich lehrende Erziehungswissenschafter möchte das in seinen Augen beschönigende Selbstbild der Reformpädagogik und der Institutionen, welche sie im Programm führen, entlarven. Er formuliert für ein breites Publikum, wendet sich aber mit der Absicht, quasi ein dogmengeschichtliches Tabu der Pädagogik zu brechen, vor allem an pädagogische Kreise.


Oelkers hat zahlreiche, bereits edierte Belege aus den Anfängen der vier bekannten Landerziehungsheime Ilsenburg, Haubinda, Wickersdorf und Odenwald zusammengetragen. Das in sechs Kapiteln (nicht immer einleuchtend) geordnete Material aus der Zeit zwischen 1889 und 1933 liest sich wie eine einzige grosse Schauergeschichte: Da gibt es unter den Schulgründern - allesamt Theologen mit grossem Hang zur Egomanie - Intrigen und Sezessionen; da wird auch von Lehrern nationalistisches, antisemitisches und nationalsozialistisches Gedankengut gepflegt (seltener sozialistisches und pazifistisches); da werden Knaben und Kinder eingeschüchtert, geschlagen und sexuell missbraucht. Die Zöglinge kamen mehrheitlich aus begüterten Schichten, die sich die hohen Kosten für ihre oftmals renitenten, in der staatlichen Schule durchgefallenen Sprösslinge leisten konnten.

Die von Oelkers abstossend geschilderte Szenerie wird von den tonangebenden Protagonisten, allen voran Gustav Wyneken und Paul Geheeb, die sich für Meisterpädagogen hielten (und gemäss dem Autor von manchen Pädagogen noch immer für solche gehalten werden), ideologisch zweifach verbrämt: zum einen durch das Konzept der Lebensreform. Es propagiert eine Leib und Seele stärkende Körperkultur, die Abstinenz von allen weltlichen Genüssen, Rohkost, naturgerechte Kleidung, Luftbäder und das natürliche Landleben, das im Gegensatz zum Leben in der sündigen Stadt keinem verderblichen Einfluss ausgesetzt ist. Die zweite Verbrämung leistet das Konzept des pädagogischen Eros. Laut Oelkers verbirgt dieses hinter einer hochtrabend philosophischen Programmatik, die eine persönlich-platonische Beziehung zwischen Lehrer und Schüler postuliert, ein meist pädophil motiviertes sexuelles Herrschaftsverhältnis.

Dieses Herrschaftsverhältnis ist ideell in der 1889 erfolgten Gründung der englischen New School of Abbotsholme angelegt, die den deutschen Landerziehungsheimen Pate stand. Die Gründer des Knabeninternats, das den «ganzen Menschen» bilden sollte, propagierten «the love of comrades», die Kameradenliebe - «eine Bezeichnung», so Oelkers, «die der homosexuelle Dichter Walt Whitman an verschiedenen Stellen» in einer Liedersammlung verwendet hat. Auf Whitmans Anschauungen hat sich der homosexuelle Edward Carpenter berufen, ein Verfechter der Knabenliebe, der mit dem homosexuellen Cecil Reddie befreundet gewesen ist. Reddie wiederum war der Gründer des Abbotsholme-Internats. Was Oelkers suggeriert, aber argumentativ nicht deutlich genug ausführt: Eine zentrale Ursache der sexuellen Übergriffe an den Reformschulen findet sich in dem homosexuell und päderastisch imprägnierten Gründungszirkel der ersten der neuen Schulen.

Wenig Zwischentöne

Jürgen Oelkers ist Erziehungswissenschafter, nicht Historiker. Sein Buch läuft auf ein Plädoyer für die heutige staatliche Schule und ihre pädagogischen Reformanstrengungen hinaus. Es würdigt deren Verdienste um einen für alle Schichten erschwinglichen und kindergerechten Unterricht - für Oelkers war die staatliche Schule, wenn man so will, schon immer reformpädagogisch und im Hinblick auf die Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler erst noch erfolgreicher als die Landerziehungsheime. Wie es gewesen ist, interessiert ihn nur insofern, als die Vergangenheit seine These stützt, dass das Versagen der Odenwaldschule in ihren Anfängen angelegt ist.

Das Buch vermag daher als erziehungswissenschaftlicher Beitrag zur Diskussion um die Reformpädagogik, nicht aber als eine Geschichtsschreibung der reformpädagogischen Anfänge zu überzeugen. Zu wenig beachtet der Autor die Historizität, und schnell fällt er sein Urteil, das wenig Zwischentöne zulässt.


Nota. - Es war abzusehen, dass die Kostgänger der deutschen Schulroutine den Skandal an der Odenwaldschule zum Anlass nehmen würden, sich unter Adenauers Parole Keine Experimente! die Zumutungen der Reformpäd- agogik ein für alle Mal vom Hals zu schaffen. Ein bisschen feilen hier, ein bisschen schrauben dort, und ein bisschen Tünche überall – das ist die Reform, die unsrer Schule frommt und ihren treuen durchschnittlichen uncharismatischen Dienstleuten. Nüchtern, prosaisch und ohne Aura. 

Dabei sind es nicht die Künstlerpersönlichkeiten unter den Pädagogen, die die Landschulheime zu Brutstätten des "pädagogischen Eros" machen. Konfessionelle Internate sind, habt ihr das schon vergessen, nicht minder anfällig. Und vor Charismatikern wimmeln sie nicht.

Etwa die Frage, ob ein Päderast ein ordentlicher Pädagoge sein kann, und die andere Frage, ob ein Pädagoge ein ordentlicher Liebhaber sein kann. Zum ersten: Im Prinzip schon, wenn er nicht sonst gravierende Fehler hat; unter Umständen bringt er gar etwas mit, was andere nicht haben. Zum zweiten: Ganz gewiss nein, denn anders als bei den Griechen findet Pädagogik bei uns in öffentlichen Institutionen statt (und wenn sie nicht öffentlich sind, sondern weltanschaulich gebunden und privat, gilt folgendes erst recht:) – und da ist der Pädagoge Repräsentant der Welt und ihres Räderwerks gegenüber dem Schüler. Das ist ein gewaltiges Verhältnis, aber Liebe ist ein intimes Verhältnis, und wird beides miteinander verschnitten, wird schnell ein Gewaltver-hältnis daraus. Das hat mit der griechischen Knabenliebe, die einen kultische aristokratische Einrichtung war, gar nichts zu tun. Ein Pädagoge, der sich heute in unsern Breiten darauf beruft, ist ein Heuchler.

Es ist ganz etwas anderes, das die Landerziehungsheime anfällig macht für allerlei Arten des Missbrauchs – etwas, das sie mit den konfessionellen Internaten gemein haben. Es ist der Kult der verschworenen Gemeinschaft mit ihrer omertà, dem mafiösen Gesetz des Schweigens. Die Wurzeln der Reformpädagogik liegen in der deut- schen Jugendbewegung (aber ganz genau genommen lagen die Wurzeln des Wandervogels in der Reformpädago-gik). Die 'Gemeinschaft' als politisches Ideal war ein Gegenentwurf zum bürokratisch maschinellen preußi-schen Reich, und das Führerprinzip war ihr Korrelat – eine Antwort auf die parlamentarische Klientelwirtschaft. Ich sage nichts Neues, wenn ich daran erinnere, dass viele der Ingredienzien, aus denen der Nationalsozialis-mus sein ideologische Gebräu zusammengekocht hat, aus dem Vermächtnis der Jugendbewegung herkommt. Und dass die Bünde schließlich verboten wurden – selbst Blühers Jungwandervogel – lag nur daran, dass sie ihre Selbständigkeit nicht preisgeben wollten. Mental standen sie der HJ, von der sie vereinnahmt wurden, gar nicht fern. 

Als ich vor Jahren selber bemüht war, ein Landerziehungsheim zu gründen, habe ich sorgfältig darauf geachtet, der Gemeinschaft keinen Eingang ins pädagogische Konzept zu gewähren. Von Geselligkeit ist dort die Rede, und das ist nicht Gemeinschaft-light, sondern der spezifische Gegensatz zur Gemeinschaft. Zu einander gesellen können sich nur Personen, ihr Verhältnis zu einander ist Wechselwirkung und nicht Alle an einem Strang. Und besondern Wert habe ich bei der Wahl des Standorts darauf gelegt, dass die Schüler jedes Wochenende mit öffentlichen Verkehrsmitteln  selbständig nach Hause fahren können. Nichts ist schädlicher für eine freie Geselligkeit als das Schmoren im eignen Saft.

Und kein besseres Mittel gegen das Gesetz des Schweigens, als freie Geselligkeit.
JE

Sonntag, 3. Juli 2016

Die Schule ist ein Labor und nicht 'das Leben'.


Das Labor und das Leben

Eine Welt braucht jeder von uns, weil wir unsre Umwelt verlassen haben. Aber eine gemeinsame Welt brau-chen wir, weil wir zusammen arbeiten müssen. Vereinfacht, aber kaum verkürzend kann man sagen: ‚Unsere’ Welt verdanken wir der Arbeitsgesellschaft, und Wissenschaft ist ihr Abbild. In der Arbeitsgesellschaft gilt ‚unsere’ Welt als die ganze Welt, was in ihr nicht vorkommt, ist nicht real. Aber nur in der Arbeitsgesellschaft kann keiner leben, nicht der Arbeiter und nicht einmal sein Chef. Nach Feierabend darf verkehrte Welt sein, wenn man’s bezahlen kann, und gilt ein Kunstwerk nicht nur als Sachanlage. Aber das liegt jenseits der Realität.

Die Schule will die Arbeitsgesellschaft als das wahre Leben und ‚unsere’ Welt als die wahre Welt, will Wissen-schaft als das wahre Wissen lehren. (Die musischen Fächer setzen ein paar Gänsfüßchen hintan, aber keiner nimmt sie ernst.) Und jedenfalls sind die Grenzen ihrer Welt die Grenzen ihrer Wörter: „Pädagogisches Handeln ist nur dort möglich, wo der wechselseitige Austausch von sprachlich erschlossenen Erfahrungen möglich ist“, schreibt Hermann Giesecke, und fügt hinzu, das sei „der Normalfall im privaten wie im gesell-schaftlichen Leben“.* Reden über unsere Welt – das wäre Erziehung! Nein, das ist nicht der Normalfall im privaten wie im gesellschaftlichen Leben. Das ist der Normalfall im pädagogischen Labor, und nirgends sonst. Nur weil schulische Pädagogik im Labor stattfindet, kann sie sich für ‚Wissenschaft’ halten; für ‚nomotheti-sches’ Herrschaftswissen zumal.

Normalisierung bedarf freilich eines mehrjährigen Aufenthalts im Labor. Dort wird auf das gesetzmäßig Ver-bindende abgesehen und das individuell Unterscheidende ausgeklammert – bei den wissenschaftlich bestimm-ten Lehrgegenständen, was dachten Sie? Na ja, wenn ich’s recht besehe – bei den Schülern auch. Natürlich werden die persönlichen Eigenheiten des einen und der andern ‚zugelassen’, aber als Ausnahmen von der Regel. Die Regel bleibt die Regel. Wie soll der Betrieb sonst funktionieren? „Standards“, na bitte, ick bün all do! Das ist der methodologische Sinn der Laborsituation: Störfaktoren ausschalten! Es ist nicht „das Leben“, wor-auf die Schule vorbereitet, sondern das Arbeitsleben. Und das ist nur ein Teil der Wirklichkeit, und zwar, am Ende der industriellen Zivilisation, ein schrumpfender.

Die Arbeitswelt war ‚unsere’ Welt, war Sinn und Zweck des Lebens. Es gab noch einen Rest, der war Randbe-dingung, Konsumsektor, Pause und Erholung. In der Arbeitsgesellschaft war Normalisierung ein ‚gerechtfertig-tes’, nämlich aus historischer Notdurft erwachsenes Postulat. Heute erscheint immer mehr die Arbeit als ein Rest, eine Randbedingung des Lebens, das seine Bestimmung verloren – oder, besser gesagt: seine Bestimmung als Unbestimmtes wiedergefunden hat. Das wirkliche Leben spielt (sic) sich immer in einer schwebenden Span-nung zwischen ‚unserer’ und ‚meiner’ Welt ab. Wie gut sich einer in dieser Schwebe hält, bleibt tagtäglich sein Problem. Jemanden für dies Problem zu wappnen, ist der einzig mögliche Sinn einer Erziehung, durch die ‚der Mensch zum Menschen wird’.

*) Hermann Giesecke, Pädagogik als Beruf, Weinheim 1987, S. 23






Samstag, 2. Juli 2016

Kinderfreundschaften: Je mehr, desto besser.

aus scinexx

Freundschaften: Viel hilft viel
Ein großer Freundeskreis in der Jugend fördert die Gesundheit ähnlich gut wie viel Bewegung

Auf die Menge kommt es an: Je mehr Freunde wir als Jugendliche und im Alter haben, desto gesünder sind wir. Ein großer Freundeskreis wirkt sogar genauso effektiv gegen Übergewicht, Entzündungen und Bluthochdruck wie gesunde Ernährung oder ausreichend Bewegung, wie US-Forscher im Fachmagazin " Proceedings of the National Academy of Sciences" berichten. In der Lebensmitte spielt dagegen eher die Qualität der Beziehung eine Rolle.

Wie wichtig Freundschaften und andere soziale Kontakte sind, zeigt sich vor allem dann, wenn sie fehlen: Einsame Menschen schlafen schlechter, der Stress der sozialen Isolation schwächt ihre Immunabwehr und lässt sie vorzeitig altern. Auch das Risiko, früher zu sterben steigt bei einsamen Menschen, wie Studien nahelegen.

Die "Dosis" ist entscheidend

Yang Claire Yang von der University of North Carolina in Chapel Hill und ihre Kollegen haben nun genauer untersucht, wie sich Freundschaften und das Netz sozialer Beziehungen in verschiedenen Lebensstadien von der Pubertät bis ins hohe Alter auswirken. Dafür werteten sie Daten von vier US-Langzeitstudien aus, die neben Gesundheitsdaten auch Informationen zur sozialen Integration, der Unterstützung durch andere und zum sozialen Stress der Teilnehmer erfasst hatten.


Das überraschende Ergebnis: Offenbar ist nicht nur wichtig, dass jemand überhaupt soziale Bindungen hat, auch die Menge spielt eine wichtige Rolle – vor allem in der Jugend. Je mehr Freunde ein Mensch als Teenager hat und je besser er sozial integriert ist, desto geringer ist das Risiko, dass gesundheitsschädliche Effekte auftreten. "Es gibt dabei eine Dosis-abhängige Beziehung sowohl in der Jugend als auch im Alter", so Yang und ihre Kollegen.

Jugend und Alter

Ein großer Freundeskreis kann beispielsweise das Risiko für Übergewicht um die Hälfte reduzieren, umgekehrt fördert die soziale Isolation als Teenager das Risiko für Entzündungen genauso stark wie mangelnde Bewegung. Im Alter erhöht Einsamkeit das Risiko für Bluthochdruck sogar noch stärker als bekannte Risikofaktoren wie Diabetes, wie die Forscher berichten.

"Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und dem Grad der Integration in große soziale Netzwerke ist am stärksten zu Beginn und am Ende des Lebens", sagt Yangs Kollegin Kathleen Mullan Harris. In der Lebensmitte komme es dagegen eher auf die Qualität als auf die Quantität der Beziehungen an. In dieser Lebensphase ist wichtiger, welche Unterstützung oder aber welcher Stress durch die vorhandenen Beziehungen verursacht werden.

Genauso wichtig wie Ernährung und Sport

"Basierend auf diesen Ergebnissen ist es enorm wichtig, Jugendliche und junge Erwachsene dazu zu ermutigen, viele soziale Beziehungen einzugehen und ihre sozialen Fähigkeiten im Umgang mit anderen zu erweitern", sagt Harris. "Das ist genauso wichtig wie die gesunde Ernährung und genügend Bewegung."

Denn welche und wie viele sozialen Erfahrungen wir in der Jugend machen, prägt nicht nur unsere Psyche, sondern auch unsere Gesundheit für den Rest unseres Lebens. "Wird bei einer drohenden sozialen Isolation rechtzeitig gegengesteuert, dann kann dies eine Entwicklung hin zu chronischen Erkrankungen verhindern oder verzögern und die gesundheitlichen Belastungen später im Leben deutlich reduzieren", so Yang und ihre Kollegen. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2016; doi: 10.1073/pnas.1511085112)
(University of North Carolina at Chapel Hill, 06.01.2016 - NPO)


Nota. - Da ist zum einen der beste Freund. Wer den nicht zur rechten Zeit gefunden hat, bleibt ein Krüppel zeitlebens; es ist ein Schaden im innersten Persönlichkeitskern. 

Das sind zum andern die Freunde. Die mögen wechseln, sollten gar wechseln können, die einen enger, die andern weiter. Das ist viel mehr als bloß "Sozialisation", es sagt mir, wer ich bin, und nicht nur, 'wie wir miteinander umgehen'.

Für den Besten Freund findet sich Platz in der kleinsten Hütte. Für die Freunde wird der Platz immer knapper, schon gar, wenn demnächst auch die Nachmittage unter Kuratel gestellt werden sollten, denn die sind "das Zeitfenster" für die Freunde. Einen Ort haben sie auch: Es ist die Kindergesellschaft auf der Straße.
JE