Freitag, 23. Dezember 2016

Legasthenie lässt sich nicht beheben.


aus scinexx

Legasthenie: Gehirn tickt anders
Gehirn von Betroffenen kann sich weniger gut an bekannte Reize anpassen

Erhöhte Arbeitsbelastung: Das Gehirn von Legasthenikern muss sich bei der Reizwahrnehmung stärker anstrengen. Denn es passt sich weniger gut an die Eigenheiten schon bekannter Klänge oder Formen an, wie Forscher in Experimenten feststellten. Das könnte erklären, warum es Menschen mit Legasthenie schwerer fällt, Lesen und Schreiben zu lernen: Ihr Gehirn wird durch die komplexen Aufgaben stärker belastet.

Die Lese-Rechtschreibschwäche ist eine der häufigsten Probleme von Kindern im Schulalter. Rund fünf bis 17 Prozent aller Kinder leiden unter dieser mindestens zum Teil genetisch bedingten Störung. Zwar können gezieltes Training, eine spezielle Formatierung der Texte und auch Hörhilfen den Kindern helfen. Über die neurologischen Ursachen der Lese-Rechtschreibschwäche jedoch weiß man bisher nur wenig.

Gehirn rationalisiert 

"Teil des Mysteriums der Legasthenie ist es, dass das Gehirn kein eigenes Lesezentrum besitzt", erklärt Seniorautor John Gabrieli vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). Gemeinsam mit Tyler Perrachione und weiteren MIT-Forscher hat er nun ein weiteres Puzzleteil dieser komplexen Störung aufgedeckt. Für ihre Studie hatten die Forscher einen speziellen Aspekt der Wahrnehmung untersucht: die Anpassung des Gehirns an akustische oder optische Reize.

Wenn wir beispielsweise längere Zeit der gleichen Stimme lauschen, lernt unser Gehirn dessen Eigenheiten und das erleichtert es uns, das Gesprochene zu verstehen. "Man lernt beim ersten Reiz etwas, das die Verarbeitung bei zweiten Mal vereinfacht – das ist an einer verringerten neuronalen Aktivität erkennbar", erklärt Gabrieli. Ob und in welchem Maße diese Anpassung auch bei Legasthenikern funktioniert, wollten er und seine Kollegen herausfinden. 

Kein Gewöhnungseffekt 

Im ersten Experiment spielten die Forscher jungen Erwachsenen mit und ohne Legasthenie eine Reihe von gesprochenen Worten vor. In einem Durchgang wurden alle von der gleichen Stimme gesprochen, im anderen war es bei jedem Wort eine andere Stimme. Währenddessen zeichnete ein funktioneller Magnetresonanz-Tomograf (fMRT) die Hirnaktivität der Probanden auf.
 
Das Ergebnis: Bei der gleichbleibenden Stimme zeigen die Kontrollpersonen wie erwartet einen Gewöhnungseffekt. Ihre Hirnaktivität in den Hörzentren sank nach den ersten Worten messbar ab, bei den wechselnden Stimmen war dies nicht der Fall. Anders dagegen bei den Legasthenikern: Bei ihnen gab es keine Unterschiede zwischen den Versuchsdurchgängen. Ihre Hirnaktivität blieb gleichbleibend hoch. "Das spricht für eine sehr viel schwächere Anpassung des Gehirns", sagt Perrachione. 

Anpassung nur halb so stark 

Aber betrifft dieser Effekt nur das Hören oder auch andere Sinneswahrnehmungen? Um das herauszufinden, wiederholten die Forscher das Experiment mit visuellen Reizen und einer neuen Probandengruppe. Wieder gab es bei der Kontrollgruppe eine Anpassung des Gehirns an sich wiederholende Reize, bei den Legasthenikern jedoch nicht. "Das spricht dafür, dass dieser Mangel an Anpassung allgemein ist", sagt Gabrieli. "Es ändern sich zwar die betroffenen Hirnareale, nicht aber das grundlegende Phänomen."
 

"Insgesamt war ich überrascht über das Ausmaß der Unterschiede", sagt Perrachione. "Bei Menschen ohne Legasthenie sehen wir immer eine klare Anpassung, bei den Legasthenikern war diese immer reduziert – und das oft sehr deutlich." Im Durchschnitt war der Anpassungseffekt bei Menschen mit Lese-Rechtschreibschwäche nur halb so stark wie bei Menschen ohne diese Einschränkung. Dieses Defizit ist schon bei Kindern im Grundschulalter ausgeprägt, wie ein weiteres Experiment belegte.
 
Warum dies beim Lesen besonders stört 

Dieses neuronale Anpassungs-Defizit könnte einige der Schwierigkeiten von Legasthenikern erklären. So fällt es betroffenen Kindern manchmal schwerer, gesprochene Wörter korrekt zu verstehen oder Buchstaben zu erkennen. Der wahrscheinliche Grund: Je nach Situation kann das Gehirn die fehlende Anpassung zwar kompensieren, es muss sich dabei aber stärker anstrengen – und das klappt nicht immer.

Beim Lesen, einer hochkomplexen Aufgabe, macht sich diese Zusatzbelastung des Gehirns dann besonders bemerkbar. "Beim Lesen müssen wir die Buchstaben erkennen, sie zu Worten zusammenfügen und diese dann auch noch mit einer Semantik verknüpfen", erklärt Perrachione. Auch der Klang des Wortes muss gelernt werden.

Die mangelnde Fähigkeit zur neuronalen Anpassung erhöht die Belastung des Gehirns bei diesem Prozess. Wie genau dies jedoch geschieht, wo beispielsweise eine Überlast zu Defiziten führt, muss nun jedoch noch geklärt werden. (Neuron, 2016; doi: 10.1016/j.neuron.2016.11.020)


(Cell Press, 22.12.2016 - NPO)


Nota. - Mit andern Worten: Beheben lässt sich Legastehnie nicht, allenfalls kompensieren. Durch vermehrtes Üben, ja; aber viel nützt das nicht, und es ist sinnlos, es zu übertreiben.
JE 


 

Samstag, 17. Dezember 2016

Die Schule ist so gut wie ihre Lehrer.


aus Süddeutsche.de, 11. Dezember 2016, 18:54 Uhr

Unterricht, wie er am besten funktioniert.
Ein miserabler Pädagoge kann Schülern jedes Fach vermiesen. Aber gibt es ein einfaches Rezept für gelingendes Lernen? 

Von Roland Preuß

Was sagen die bisherigen Pisa-Studien zu der Frage, wie man den Unterricht verbessern kann? Der Berliner Erziehungswissenschaftler Hans Anand Pant hat da eine erfreulich klare Antwort parat: "Herzlich wenig." Was nicht daran liegt, dass der Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin nichts von Studien nach Machart von Pisa hielte. Es ist nur so, dass Pisa bisher vor allem die Leistungen von Schülern gemessen hat: Welches Land ist wie gut in Naturwissenschaften, Mathematik oder im Lesen? Wer hat sich verbessert? Und wie sieht es mit Untergruppen, etwa Jugendlichen aus sozial schwierigen Verhältnissen oder Migranten-Kindern aus?

Eine entscheidende Frage für Politiker, Lehrer, Eltern und Experten aber blieb unbeantwortet: Wie muss der Unterricht denn sein, damit die Schüler besser werden? Die neueste Pisa-Studie, die am vergangenen Dienstag vorgestellt wurde, ist angetreten auch darauf ein paar Antworten zu geben.

Aber der Reihe nach: Laut der internationalen Untersuchung der OECD konnte sich Deutschland in allen drei getesteten Disziplinen im oberen Mittelfeld der 72 teilnehmenden Staaten und Regionen halten, beim Lesen haben sich Deutschlands Schüler noch etwas gesteigert, in den naturwissenschaftlichen Fächern und in Mathematik aber stagnieren ihre Leistungen. Warum? Das kann viele Ursachen haben. Aber die Bildungsforscher des Pisa-Konsortiums liefern einige Hinweise: "Was im Klassenzimmer passiert, ist für das Lernen der Schüler von entscheidender Bedeutung", heißt es da. Und es sei zentral, "wie die Lehrkräfte" unterrichten.

Das deckt sich mit den Erkenntnissen der sogenannten Hattie-Studie, die immer noch die Debatte zum Thema prägt. Der Bildungsforscher John Hattie aus Neuseeland hatte 800 Metaanalysen von 50 000 Studien ausgewertet, um der Frage nach dem Lernerfolg nachzugehen. Seine Antwort lautet, grob zusammengefasst: Auf den Lehrer kommt es an. Oder genauer: auf den Unterricht. Das werden viele Schüler bestätigen, schließlich kann einem ein miserabler Pädagoge auch das schönste Fach vermiesen.
"Das ist schon richtig, aber auch furchtbar trivial", sagt der Bildungsforscher Klaus Klemm von der Universität Duisburg-Essen. Natürlich hat Hattie mehr dazu gesagt: Segensreich fürs Lernen sind demnach Respekt für den Schüler, ein gutes Lehrer-Schüler-Verhältnis, ein echtes Verstehen statt Pauken von Wissen und eine Einschätzung der Lehrer durch Schüler. Wie groß eine Klasse ist, hat laut Hattie dagegen keinen Einfluss.

"Ein gewisses Maß an Frontalunterricht ist laut Pisa-Studie effektiv"

Die aktuelle Pisa-Studie ergänzt dies: Schüler lernen demnach etwa besonders gut Naturwissenschaften, wenn ihre Lehrer besonders häufig wissenschaftliche Thesen erklären und belegen, also zum Beispiel die Fotosynthese erläutern und mit einem Versuch untermauern. Dies zeige mehr Erfolge als die "verfügbaren materiellen und personellen Ressourcen, einschließlich der Qualifikation der Lehrkräfte", sprich: als eine Sammlung teurer Mikroskope oder ein Lehrer mit Doktortitel.

Auch außerschulische Aktivitäten wie Wissenschafts-AGs oder Wettbewerbe brächten vergleichsweise wenig. Der gute Lehrervortrag vor der Klasse - das klingt nach alter Schule und das macht die Aussage brisant für die pädagogische Diskussion. "Ein gewisses Maß an Frontalunterricht ist laut Pisa-Studie effektiv", sagt Matthias Rumpf, der Berliner Sprecher der OECD. Ein Unterricht anhand der Fragen der Schüler oder Gruppenarbeit, beides steht nicht so gut da. Schulsysteme, in denen die Jugendlichen mehr Zeit mit "Hausaufgaben, Zusatzunterricht oder selbstständigem Lernen verbringen" schnitten tendenziell schlechter ab, heißt es in der Präsentation der Pisa-Ergebnisse.

Man kann es so zusammenfassen: Gut ist ein Lehrer, der klar durch den Unterricht führt, der gut erklären kann und wenig auf Hausaufgaben oder Selbststudium setzt. Reicht das? Hans Anand Pant hat da noch einige Ergänzungen zu bieten. Der Berliner Professor leitet auch die Deutsche Schulakademie, welche Praktiker, nämlich die Preisträger des Deutschen Schulpreises, mit Forschern zusammenbringt. Auch für Pant ist gute Leistung das oberste Unterrichtsziel, aber: "Die Schüler müssen angstfrei lernen können, das ist der Schlüssel." Ein weiterer Punkt sei, sie zu beteiligen, "von der Gestaltung des Schulhauses bis hin zum Feedback an Lehrer".

Was das konkret heißt, kann man in den preisgekrönten Schulen der Akademie erleben, beispielsweise an der Anne-Frank Mädchen-Realschule in München. Dort setzen sich alle zwei Wochen die Schülerinnen einzeln eine Viertelstunde mit ihrem Klassenlehrer zusammen und reden. Wo es hakt, was die Mädchen bewegt, womöglich auch in Familie oder Partnerschaft. Diese Gespräche öffnen nach den Worten einer Lehrerin dort gerade die unauffälligen Schülerinnen und zeigen, wo man sie fördern sollte.

Und dann wäre da noch die Lehrer-Ausbildung, ein Thema, das Pant einen tiefen Seufzer entlockt. "Didaktisches und pädagogisches Wissen wird an den Unis zwar immer mehr vermittelt, allerdings müssten angehende Lehrer früher Praxiswissen gewinnen", sagt er. Um in der Schule zu erleben, wie guter Unterricht geht. Also: Ein Lehrer kommt ja nicht fertig auf die Welt. Er soll so früh wie möglich lernen, worauf es ankommt.


Nota. - Strukturen, Theorien, Methoden - das ist unterm Strich alles ziemlich egal. Was zählt, ist der Lehrer. Und wohl eben nicht seine spezifischen Fertigkeiten: Denn dann käme es auf Strukturen, Theorien, Methoden eben doch an; zwar nicht unmittelbar, aber mittelbar: nämlich indem sie die Lehrer fitter machen für den Unterricht. Auch hier geht es nicht um einzelne "Kompetenzen" oder skills. Denn mehr als ein Experte ist der Lehrer ein performer. Er ist ein Darstellungskünstler. Das kann man nicht 'werden', das muss man sein. Natürlich macht Übung den Meister, aber ein Talent, das man ausbilden kann, muss schonmal da sein.

Darum ist das Problem der Schulen auch nicht in erster Linie die Lehrerausbildung, sondern die Rekrutierung. Die Bedingungen, unter denen Lehrer ihren Beruf ausüben, müssen so sein, dass sie die Geeigneten anziehen und die Ungeeigneten abweisen - denn eine Charakterprüfung als Zugangsbedingung zum Beruf kommt nicht in Frage: weil sich nicht objektivieren lässt, um welche Charaktermerkmale es geht - und weil sie sich ohnehin nicht messen ließen; aber vor allem, weil sich vorab nicht bestimmen lässt, wer zum Prüfen der Eignung geeignet ist.

Mit andern Worten, auch bei der Reform der Lehrerschaft geht es nicht um Strukturen, Theorien und Methoden. Auch da kann man basteln, soviel man will; es kostet nur Zeit, Geld und Humanressourcen. Die gesellschaftliche Grundstimmung müsste sich ändern. Leute, die sich dazu begabt fühlen, müssten in den Beruf strömen; Leute, die sich darauf freuen, jeden Tag eine gelungene Darbietung liefern zu müssen und zu können; Leute, die sich gerne überraschen lassen und sich auch unbefangen der Routine hingeben können, wenn sich's grade so ergibt.

Einstweilen ist es noch so, dass solche Leute um den öffentlichen Dienst einen großen Bogen machen.

PS. Gut wäre auch, wenn die Öffentlichkeit vom Unterricht nicht länger erwarten würde, dass er "funktio- niert".
JE
 

Freitag, 16. Dezember 2016

Durchschnittskompetenz.


 aus derStandard.at, 15. Dezember 2016, 11:43

Pisa geht es nicht um Bildung 
Bei Pisa handelt es sich um eine reine pädagogische Anleitung zum Durchschnittlichsein.

Userkommentar von Hugo Brandner   

Die mittlerweile fünfte Veröffentlichung von Pisa-Ergebnissen sorgt in Österreich für bahnbrechend nichts Neues. Institutionalisierungen haben die Eigenschaft, dass man sich an sie gewöhnt, und die Gewohnheit ist der natürlichste Feind der Schöpferkraft. So, wie man sich daran gewöhnt hat, dass Olympische Spiele im Vierjahresrhythmus die nationalen Gruppenidentitäten zum Überschäumen bringen, so hat man sich damit abgefunden, dass mittlerweile alle drei Jahre die internationalen Pisa-Festspiele abgehalten werden. 

Es geht nicht um Volksbildung 

So wenig es dem Internationalen Olympischen Komitee um die Volksgesundheit geht, so wenig geht es der internationalen Testindustrie und ihrer Lobby um die Volksbildung. Pisa diktiert marktwirtschaftlich basiertes Wettbewerbsdenken, und das Einzige, worum es der österreichischen Bildungspolitik zu gehen scheint, ist unser nationales Image im internationalen Vergleich. 

Die Pisa-Umwegrentabilität lässt zudem viele viel und gut verdienen, und sei es nur die Vermarktung von Verdrängungsstrategien und Trostrezepten für Länder wie unseres. Immerhin gehören wir ja noch lange nicht zu den Schlechtesten. Nicht auffallen ist immer noch besser als schlecht auffallen. Unter den Durchschnittlichen gehören wir aber zu den Besten, selbst dann noch, wenn wir uns im Dreijahresvergleich geringfügig verschlechtert haben. 

In der Durchschnittsfalle 

 Mit dem Zwangsbekenntnis zur Durchschnittlichkeit wird man hierzulande sozialisiert, und damit man die österreichische Durchschnittlichkeit halten kann, werden paradoxe Bildungsmaßnahmen gesetzt. Unser aktuelles nationales Bildungscredo ist der Glaube an die Vereinbarkeit von "Individualisierung" und "Standardisierung". 


Der Versuch, eine bildungspolitische Synthese dieser Gegensätze zu erzwingen, kostet unendlich viel Kraft. Pädagogische Humanressourcen werden verschlissen, die Bürokratie weiter aufgeblasen, und das Ergebnis ist letztlich die Standardisierung der Individualität, das heißt die Nivellierung individueller Potenziale, und das in Zeiten, in denen wir nichts so sehr brauchen wie die Kreativität junger Geister. 

Gegen jede Kreativität 

Am Beispiel der Maturavorbereitungen für das Fach Deutsch lässt sich dieses Paradoxon vielleicht ganz gut veranschaulichen. "Wie schreibe ich den ersten Satz eines Textes?" ist eine der Lieblingsfragen meiner Schülerinnen und Schüler im Deutschunterricht. Meine Lieblingsantwort darauf bringt zunächst wenig Erlösung: "Wer nicht weiß, wie er anfangen soll, lässt den ersten Satz einfach aus und beginnt mit dem zweiten. Vertraut einfach darauf, dass euch während des Schreibens ganz von selbst ein guter erster Satz einfällt, und wenn das nicht geschieht, erweist sich der zweite Satz vielleicht sogar ganz gut als erster." 


Seit der Erfindung des standardisierten kompetenzorientierten Textproduzierens als Anforderung für Maturantinnen und Maturanten im 21. Jahrhundert wird der Schulbuchmarkt überschwemmt von approbierten Schreibdidaktiken, trendigen Textproduktionsregelwerken, "So machst du's richtig"-Ratgebern und Schnellkurs-Themenheften mit Titeln wie "Ohne (BE)DENKEN zur Matura". 

An der Hand geführt 

Alle diese Werke erklären unseren jungen Menschen peinlich genau, wie man Zusammenfassungen, Kommentare, Leserbriefe, offene Briefe, Erörterungen, Textanalysen, Textinterpretationen, Empfehlungen und Meinungsreden zu schreiben hat. Diese maturarelevanten "Poetiken" unserer Tage machen dabei vor allem eines: den Schülerinnen und Schülern Angst, mir übrigens auch. Sie verhindern jede Textschöpfungskreativität und die Entdeckerfreude denkender Menschen, die sich ihre Welt erschließen, indem sie im eigenen Kopf auf die Suche nach passenden Worten für ebendiese Welt gehen. 


Die aktuelle Maturavorbereitung in Deutsch reduziert das Texten zum Ausfüllen von Formularen: Mit diesen Phrasen sollst du beginnen, in diesem Abschnitt darf dieses und jenes Wort nicht vorkommen, Argumentationsketten sollten so und so gebaut sein, und das Wichtigste: Die vorgegebene Wortanzahl darf weder über- noch unterschritten werden. Selbstständiges Formulieren wird zwar eingefordert, was dabei allerdings herauskommt, ist leider viel zu häufig nichts anderes als antrainierte Redundanz. Das harte Training schulischer Maturavorbereitung verfolgt in erster Linie ein Reife- beziehungsweise Lebensziel: das Erreichen der Durchschnittlichkeit. 

Was macht einen guten ersten Satz aus? 

Zurück zur Sehnsucht meiner schreibmotivierten Schülerinnen und Schüler nach einer praktikablen Antwort auf die Frage "Wie schreibe ich den ersten Satz eines (guten) Textes?". Um auf diese Frage eine zeitgemäße Antwort zu geben, ohne dabei das Bildungscredo der Durchschnittlichkeit zu verraten, haben wir im Unterricht eine semirepräsentative sprachästhetische Untersuchung durchgeführt. Wir haben uns die Aufgabe gestellt herauszufinden, was die Qualität des ersten Satzes eines anerkannten Bestsellers ausmacht. 

Für unsere quantitative Studie haben wir uns die ersten Sätze von 16 Bestsellern vorgenommen, die darin enthaltenen objektiven Daten erhoben und aus dem Datenmaterial "höchst relevante" Durchschnittswerte errechnet. Anschließend galt es, aus diesen Durchschnittswerten einen satirischen Text zu machen, und zwar eine pädagogisch wertvolle schreibdidaktische Empfehlung für das Verfassen des ersten Satzes eines zukünftigen Bestsellers. Wir wissen jetzt endlich genau, worauf es ankommt, wenn wir damit beginnen wollen, einen Bestseller zu schreiben: Der durchschnittliche Frontsatz eines Bestsellers enthält 14,46 Wörter, der Anteil von Nomen beträgt 22,9 Prozent. Nominalisierungen sind davon ausgenommen. Im Durchschnitt kommen 2,78 vor allem starke Verben vor. Vokale und Konsonanten sollten in einem Verhältnis von circa 2:3 verarbeitet werden. Mehr als die Hälfte aller untersuchten ersten Sätze sind weder einfache Sätze noch elliptische Sätze, sondern Hauptsatzreihen. Und so weiter, und so weiter, und so weiter (alle Angaben ohne Gewähr). 

Das Mittelfeld 

Jeder von uns hatte seine individuelle Anleitung zum Durchschnittlichsein für das Erreichen großer Ziele verfasst, und als wir unsere neugewonnenen Erkenntnisse abschließend mit den einzelnen Bestseller-Erstsätzen verglichen, mussten wir – Heureka – feststellen, dass sich kein einziger Bestsellerautor an unsere kompetenzorientierte standardisierte individuelle Schreibempfehlung gehalten hatte. Quod erat demonstrandum. Pisa, in drei Jahren sind wir wieder dabei, und dann auch wieder ganz überraschend fast bei den Besten im unteren Mittelfeld. 

Hugo Brandner unterrichtet Deutsch und Bildnerische Erziehung an einer BHS und ist Gründer des Vereins Pause, einer Plattform zur Förderung von Jugend- und Schulkulturinitiativen in Salzburg.



Donnerstag, 15. Dezember 2016

Standardisieren und verblöden.

aus Der Standard, Wien, 13. Dezember 2016, 16:01

"Es gibt zu viel Anpassung"
Schuld daran, dass Junge kritisches Denken verlernen, seien Pisa und Bologna, sagt die Bildungsforscherin Ursula Frost
 
Interview

STANDARD: Von Ihnen stammt der Satz "Bildung ist Widerstand". Ist die heutige Jugend widerständig genug?

Frost: Das wird sich noch herausstellen. Zurzeit habe ich allerdings nicht den Eindruck, dass sich gemeinsame Protestbewegungen gegen ungerechte Strukturen und gesellschaftliche Ungleichheiten formieren, wie das in früheren Generationen üblich war. Im Gegenteil: Da scheint ein großes Bedürfnis vorhanden zu sein, unter den gegebenen Verhältnissen Erfolg zu haben.

STANDARD: Eine Generation "Gefällt mir", ehrgeizig, jedoch unreflektiert, beklagt Uni-Dozentin Christiane Florin. Jugendkulturforscher Bernhard Heinzlmaier spricht sogar von einer "absoluten Verblödung" der Jugend. Angemessen?

Frost: Das gilt sicher nicht für alle – mit meinen Studierenden mache ich auch gegenteilige Erfahrungen. Aber in der Tendenz trifft es leider zu. Es herrscht das "User-Prinzip": die mehr oder weniger kompetente Bedienung vorgegebener Systeme. Arbeit, Bildung und Freizeit sind danach eine ununterbrochene, ständig zu steigernde Performance. Die Grundlagen kritisch zu hinterfragen würde die Performance stören. Verblödung liegt meines Erachtens schon dort vor, wo man sich unhinterfragt in Systeme einfügt, erst recht aber dort, wo die Systeme Nachdenklichkeit oder Widerständigkeit verhindern.

STANDARD: Viele empfinden es vielleicht auch als Erleichterung, in einer globalisierten, digitalisierten Welt unzähliger Möglichkeiten klare Ziele vorgegeben zu bekommen? Als Orientierung?

Frost: Klar, sich einem vorgegebenen, vermeintlich sicheren System anzuvertrauen ist der einfache Weg. Der schwierige, anstrengende, aber auch der einzig richtige ist, Ziele und Werte immer wieder zu reflektieren. Dazu gehört, sich mit eigenen Erfahrungen auseinanderzusetzen – und immer wieder neu zu überlegen, was "gutes Leben" eigentlich für einen bedeutet. Das verpassen junge Menschen, wenn sie sich bloß anpassen.

STANDARD: Ist es auch Existenzangst, die zur Anpassung führt? Die Generationen Y und Z sind jene der Wirtschaftskrise. Viele ihrer Vertreter fürchten um ihre Zukunft, zeigen Umfragen.

Frost: Sicher auch. Und mit wirtschaftlicher Bedrohung umzugehen muss gerade für diese Generationen umso schwieriger sein, weil sie nicht gelernt haben, mit Mangel umzugehen. Allerdings gibt es bereits auch gute Ansätze zu neuen Lebensformen wie Carsharing et cetera. Viele Junge wollen ganz anders leben, ganz anders arbeiten.

STANDARD: Also doch Keime des Widerstandes?

Frost: Zumindest in kleinen Ansätzen ist die junge Generation durchaus offen. Aber der Verzicht, um Ressourcen zu erhalten, ist noch nicht wirklich in der Gesellschaft angekommen. Es muss daher noch in viel größerem Stil über Alternativen nachgedacht werden – und da ist Anpassungsdenken natürlich fehl am Platz. Weil Anpassung ja immer bedeutet, sich auf das gegenwärtige System einzustellen und daran mitzuarbeiten. Anstatt zu fragen: Wäre nicht etwas ganz anderes nötig?

Ich sehe auch eine gewisse Lust zur Anpassung, eine Lust zu funktionieren. Sie macht das Denken in ethischen und politischen Alternativen immer unwahrscheinlicher. Und dass Anpassung noch gefördert wird, ist wiederum ein Fehler der älteren Generation. In Schule und Uni werden immer engere Lernschritte vorgegeben. Schüler und Studierende erfüllen zunehmend vorgegebene Aufgaben, anstatt sich kritisch mit den zugrunde liegenden Modellen auseinanderzusetzen.

STANDARD: Sie sprechen wie andere Wissenschafter immer wieder von einer "Ökonomisierung der Bildung". Was meinen Sie damit konkret?

Frost: Die Bildungslandschaft ist aktuell bestimmt von Pisa und Bologna: Humane und pädagogische Werte werden durch ökonomische ersetzt. Es geht nicht mehr um letztlich unberechenbare individuelle Bildungsprozesse – sondern um in Einzelteilen berechnetes verwertbares Humankapital. Menschen sollen wie beliebige Produkte nach standardisierten Verfahren hergestellt werden, in der Schule wie später in der Hochschule. Das halte ich für einen pädagogischen, politischen und wirtschaftlichen Kardinalfehler. Wenn seit Pisa und Bologna Kompetenzen wie in Warenkatalogen festgeschrieben und bestellt werden, lassen sie kaum Raum, wirklich ungekannte Potenziale zu entwickeln. Man muss den Mut aufbringen, das zu ändern.

STANDARD: Was schlagen Sie vor? Pisa und Bologna abschaffen?

Frost: Die Bildungspolitik sollte sich völlig neu orientieren. Ich plädiere dafür, zu einem Bildungsauftrag als Aufklärungsauftrag zurückzukehren. Dafür sind Experimente wichtig, das sagte schon Immanuel Kant. Die Pisa-Studien bieten keine Grundlage für neue Denk- und Lebensformen, sie basieren nicht einmal auf ernsthaft wissenschaftlicher Vergleichbarkeit. Aber sie bauen Wettbewerbsdruck auf, der letztlich ins Nichts führt. Und Bologna hat kein einziges seiner Ziele erreicht, sondern nur zu Unübersichtlichkeit und Verwirrung geführt. Deshalb muss man sich dringend auf neue Wege einlassen.

STANDARD: Wie reagieren die Lehrenden und Unis auf die Ökonomisierung? Es scheint, als würde ein Career-Center nach dem anderen eröffnen.

Frost: Obwohl viele Kollegen nicht einverstanden sind, gibt es auch hier zu viel Anpassung. Was die Career-Center betrifft: Sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Studium und Arbeitsmarkt ganz andere Systeme sind. Selbst bei noch so viel Anpassung kann es für die meisten Studierenden keine Arbeitsgarantie geben. Ist diese Verheißung also gar nicht erfüllbar, frage ich: Ist der Preis der Anpassung nicht zu hoch? Warum dann keine Bildung, die für die Menschen selbst etwas bedeutet?

STANDARD: Was macht diese Bildung aus?

Frost: Schüler sollten nicht nur für den Nachweis ihrer Kompetenzen getrimmt werden, sondern in Ruhe verschiedene Perspektiven auf die Welt und auf ihre eigenen Möglichkeiten entdecken können. Wichtig sind die konkreten persönlichen Beziehungen: Nur so können Achtung vor jedem Einzelnen, soziales Miteinander und Verantwortung für Sachfragen gelernt werden.

STANDARD: Braucht es im Unterricht mehr Debatten?

Frost: Unbedingt. Momentan ist Lernen Fakten aufgreifen, bearbeiten, abgeben. Selbst Kreativität ist verordnet. Bildung braucht Auseinandersetzung und den Blick auf Alternativen. Und dafür sind Debatten essenziell. Damit meine ich nicht ein Zerreden, sondern widerständiges Fragen und disziplinierte Argumentation. Die vermisse ich überall, auch in der Bildungspolitik.

STANDARD: Sie betonen auch den Faktor Zeit – Zeit zum Nachdenken.

Frost: Nur dadurch können eigene Gedanken überhaupt entstehen. Knappe Zeit hindert daran, den größeren Zusammenhängen von Dingen auf den Grund zu gehen.

STANDARD: Maschinen könnten Menschen künftig einiges an Arbeit abnehmen. Haben wir dann vielleicht mehr Zeit zum Nachdenken? Und könnte es nicht sein, dass gerade unkonventionelles Denken zur gefragtesten Fähigkeit wird?

Frost: Dass uns Maschinen diese Freiräume geben, halte ich für unwahrscheinlich. Schließlich verschlingen sie die gewonnene Zeit auch gleich wieder, indem sie uns permanent einfordern und ablenken – siehe Facebook und Co. Von dieser Seite wird es also nicht gehen – es braucht einen Wandel der Haltung. Anstatt in vorgegebene Systeme zu vertrauen, brauchen wir mehr Sensibilität für menschliche Lebensthemen. Wie beispielsweise die Fragen nach einem menschenwürdigen Leben in jedem Lebensalter auch unabhängig von Erfolg, Fragen der Armutsbekämpfung und der kulturellen Konflikte. Wenn Menschen hierzu wirklich neue Ideen finden sollen, muss in Bildungs- und Arbeitswelt mehr Ruhe, Nachdenklichkeit und Respekt Einzug halten. Permanente Leistungshysterie macht nicht nur müde, sondern auch blind für Lebensqualität. Für Gesellschaft und auch die Wirtschaft zahlt sich am Ende der Umweg über eigenwillige denkende Persönlichkeiten aus.

Ursula Frost (60) ist Professorin für Pädagogik an der Universität Köln. Zu ihren Schwerpunkten zählen Erziehungs- und Bildungstheorie sowie historisch-systematische Modellanalyse.


Nota. - Bislang sagte man immer nur: Der verblödet. Heute kommt die reflexive  Form hinzu: Die verblöden mich.
JE

Dienstag, 13. Dezember 2016

Die Gleichmacherei auf den Zeugnissen verschärft die tatsächliche Ungleichheit.



Der Vorschlag des Lehrerverbandes, dass einzelne Bundesländer die Zeugnisse aus gewissen anderen Bundesländern einfach nicht mehr anerkennen sollen, macht mehr Furore als die neuesten PISA-Resultate.  Er hat auch mehr mit einer Realität zu tun, die zwar allgemein "gefühlt", aber kaum einmal untersucht wird: Die Abschlussprüfungen werden immer leichter, sodass immer mehr Schüler sie bestehen können, aber dafür werden die Abgangszeugnisse immer weniger wert. 

Der Präsident des Lehrerverbandes legt aber ein Zahl vor (keinen Test): In Berlin haben sich die Abtitur- zeugnisse mit der Durchschnittsnote 1,0 in den letzten zehn Jahren vervierzehn(14!)facht.

Die FAZ kommentiert heute;

"Und schließlich stellen sich Schulen, die freigiebig Spitzennoten verteilen, damit selbst ein gutes Zeugnis aus. Die unangenehmen Aspekte der Leistungsprüfung werden an die nächste Institution weitergereicht. Die aber reagiert, wie im Fall der Hochschulen, ihrerseits genau so: Durchschnittsnote 1,8 über alle Fächer hinweg.

Also finden die Fiktionen erst spät ein Ende, wenn Arbeitgeber feststellen, dass Zeugnisse uninformativ sind. Und wenn Bewerber feststellen, dass sie sich für all die Euphemismen und Überzuckerungen, die ihren Bildungsweg begleitet haben, außerhalb des Bildungssystems nichts kaufen können, weil innerhalb schon lange niemand mehr an diese Währung glaubte. Es treten die üblichen Ersatzwährungen ins Mittel: Vitamin B, Praktika als Teststrecke, Assessment-Center, Zertifikate aus stärker selektiven Einrichtungen.

Mittelfristig wird diese Aushöhlung der Logik von Abschlussprüfungen zu einem System zwingen, das mit Eingangsprüfungen operiert. Wer die besten Mittel hat, um sich auf solche Eingangsprüfungen vorzuberei- ten, ist leicht ersichtlich. Das vermeintlich wohlmeinende Absehen von Strenge läuft auf ein Ungleichheit verstärkendes System zu. Wer es besichtigen will, kann das in den Vereinigten Staaten tun. Den Funktionä- ren der GEW, die gleich gerufen haben, mit dem Berliner Abitur sei alles in Ordnung, sei ein Blick dorthin empfohlen."



 

Dienstag, 6. Dezember 2016

Andreas Schleicher ist durchgefallen.


 
Heute wurde der Öffentlichkeit die neue PISA-Studie vorgestellt; von Andreas Schleicher, ihrem obersten Verantwortlichen. Getest wurden diesmal neben Lesen und Mathematik auch die Naturwissenschaften; zu denen gehört nach allgemeiner Auffassung auch - und eigentlich vor allem - die Physik. 

Dieses lesen wir in der heutigen Ausgabe von Tagesspiegel.de:

Andreas Schleicher, der internationale Koordinator der Pisa-Studie, sagte vor Journalisten, Deutschland habe sich „auf einem guten, überdurchschnittlichen Niveau stabilisiert“. Nach einem „Quantensprung“ in den Jahren nach der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000 sei der Reformeifer aber inzwischen erlahmt: „Jetzt ist ein neuer Quantensprung nötig, um zu den leistungsstärksten Ländern aufzuschließen.“

Physik! 

Andreas Schleicher weiß nicht, was ein Quantensprung ist. Na ja, vielleicht ist er ja von Hause aus Geistes- wissenschaftler,* da wär es verzeihlich

In seinem Amt unentschuldbar ist aber, dass er einen wissenschaftlichen Begriff, den er nicht versteht, öffentlich im Munde führt und redet wie ein BILD-Journalist. Es bestätigt aber, was wir von Jahr zu Jahr immer deutlicher ahnen: Nehmen Sie das nicht ernst, es ist alles fake.  


*) [Nachtrag, 13. 12. 16]  

Es steht schlimmer um Andreas Schleicher, als ich dachte. Er ist nicht, wie ich mildernd anzunehmen bereit war, von Hause aus Geisteswissenschaftler, sondern... Physiker. Er war es, bevor er Dienstmann bei der OECD wurde; vielleicht war er damals auch noch Wissenschnaftler. Bedenken Sie: Die OECD ist eine Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Wie ausgerechnet die Bildung in ihr Portefeuille geraten ist, kann man nur mutmaßen. Auf jeden Fall müssen sie eine recht übergriffige Vorstel- lung von Ökonomie haben.




Sonntag, 4. Dezember 2016

Endlich: Widerstand gegen die Zwangstagsschule auch in der Politik.

Sehr geehrte Redakteure der FAZ, sollten Ihnen die Veröffentlichung dieses Beitrags auf meinem Blog nicht recht sein, bitte ich Sie, es mir hier an dieser Stelle mitzuteilen - und bitte nicht gleich der Fa. Google. JE

aus FAZ,                                                                                                                                     biowahrheit

Überlastete Kinder
Mogelpackung Ganztagsschule
Für manche Schüler ist ein ganzer Tag in der ungeliebten Klasse die reinste Qual. Sie brauchen mehr Zeit für sich.

von Bettina Wiesmann, CDU

Deutschlands Schulen werden seit 15 Jahren immer häufiger in Ganztagsschulen umgewandelt. Grund für diesen Umbau waren die internationalen Leistungsvergleiche Timss 1997 und Pisa 2000. Obwohl die Ganztagsschul-Forschung der vorausgegangenen Jahrzehnte keine Leistungsverbesserung bei den Schülern festgestellt hatte, legte die rot-grüne Bundesregierung 2002 das „Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) auf - mit dem Ziel einer deutschlandweiten Einführung von Ganztagsschulen. Als Vorbilder wurden die Schulsysteme in Skandinavien genannt, deren Schüler bei Pisa damals noch besonders gut abgeschnitten hatten. Allerdings hatte man übersehen: In Finnland endete der Schulunterricht um 13 Uhr, in Schweden zwischen 13.30 und 14.30 Uhr, inklusive Mittagspause. Ein „Mehr“ an Unterrichtszeit war das nicht.

Gleichwohl initiierte die Schröder-Regierung 2003 mit vier Milliarden Euro aus Bundesmitteln den Umbau Tausender Schulen in Ganztagsschulen. Auch die unionsregierten Bundesländer nahmen die Finanzspritze gern mit. 2014 gab es in Deutschland schließlich unter den 42.000 Schulen über 16.000 mit Ganztagsbetrieb; 18 Prozent aller Schüler lernen in gebundenen, 20 Prozent in offenen Ganztagsschulen.



Was hat es gebracht? Was die Pisa-Leistungsvergleiche angeht, zu wenig. Das belegen alle Studien, die es bislang dazu gibt, etwa die bundesweite Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen „StEG“: „Für Jugendliche aus niedrigeren sozialen Schichten oder mit Migrationshintergrund lässt sich über vier Jahre hinweg kein Effekt der reinen Ganztagsschulteilnahme auf ihre Schulleistungen nachweisen.“ Auch mussten die Forscher, die zugleich als Didaktiker auftreten, feststellen, dass sich trotz zusätzlicher Leseangebote an Ganztagsschulen die Lesekompetenzen von Grundschülern nicht verbesserten. Deshalb verwundert es nicht, dass Lehrer und Schüler jüngst in einer Studie des Deutschen Jugend-Instituts in dieser Frage keinen Vorteil der verpflichtenden gegenüber der freiwilligen Ganztagsschule sehen konnten.

Eltern wollen ein flächendeckendes, aber freiwilliges Ganztagsangebot

Eltern wünschen sich eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit und für ihre Kinder über den regulären Schulunterricht hinaus Vertiefungsübungen, Hausaufgabenbetreuung sowie sportliche und kreative Förderung. Und laut einer Studie der Zeitschrift „Eltern“ aus dem Jahr 2013 wollen 87 Prozent aller Eltern ein flächendeckendes, aber freiwilliges Nachmittagsangebot, aber nur 34 Prozent eine verpflichtende Ganztagsteilnahme ihrer Kinder. Ein repräsentatives Detail: Nur 10 Prozent der hessischen Ganztagsschüler besuchen das vorgehaltene Nachmittagsprogramm an fünf Tagen in der Woche. Selbst in den gebundenen Ganztagsschulen nehmen weniger als zwei Fünftel der Schüler jeden Tag am Ganztagsbetrieb teil. Soweit die hessische Ganztagsschulstudie unter Ludwig Stecher von der Universität Gießen. Das heißt, der Bedarf ist eigentlich gedeckt. Kinder und Jugendliche bestätigen dies immer wieder: Ihr größter Wunsch ist mehr Zeit für Familie und Freunde. Auch empfindet nach einer Umfrage des Kinderbarometers 2013 der Landesbausparkassen (LBS) die Hälfte aller Kinder die Zeit, die sie in der Schule verbringen müssen, als zu lang.

Trotzdem legen die Ganztagsschulverfechter noch eins drauf. Nur die für alle Kinder einer Schule verpflichtende „gebundene“ Form gilt ihnen neuerdings als echte Ganztagsschule. Damit meinen sie ein Programm, das Lernen, soziales Leben und Freizeit in ein gruppenorientiertes Korsett - die Schule - spannt. Dafür sollen die Schulabläufe auf „Rhythmisierung“ umgestellt werden. Der wohlklingende Begriff soll glauben machen, dass sich intensive Lernzeiten, ergänzende Förderstunden und Entspannungsphasen naturgemäß unter einen Hut bringen lassen. Doch wird dabei übersehen, dass eine „Schule als Lebensraum“ sowohl zur Entschulung von Schule als auch zu einer Verschulung von Freizeit führt, indem sie die Grenzen zwischen schulischer und elterlicher Prägung verschiebt und auf die selbstbestimmte Freizeit und Privatheit der Kinder einen Anspruch erhebt.

Schon jetzt verbringen Eltern durchschnittlich nur noch 28 Minuten am Tag mit Zuwendung und Betreuung ihrer Schulkinder, stellte kürzlich das Statistische Bundesamt fest. Nein, Schule darf nicht zur Ersatzlebenswelt für die Kinder werden, denn sie vermag nur in besonderen Fällen vergleichbar viel oder mehr als das zu leisten, was elterliche Zuwendung und Erziehung und selbstbestimmtes Entdecken außerhalb jeglicher Institution bieten können. Tatsächlich brauchen Kinder eine ausgewogene Balance zwischen schulischem Bildungsbeitrag, elterlicher Erziehung und persönlicher (Frei)Zeitgestaltung.

Ganztagsschulverfechter haben Idealkinder im Kopf

Was angesichts des gesellschaftlichen Wandels und des Funktionsverlustes mancher Familien heute mehr als früher vonnöten ist, sind Hausaufgabenbetreuung, mehr Bewegung und psychosoziale Hilfe. Vor allem für sozialpädagogische und psychologische Unterstützung müssen mehr Mittel und mehr Personal eingesetzt werden. Daraus einen verpflichtenden Ganztag für alle abzuleiten, ist abwegig, zumal durch das ganztägige Zusammensein der Schüler zusätzliche Konflikte entstehen. Es sind nämlich nicht alle Kinder gleich gut aufgehoben in ihrem schulischen Umfeld.

Im Widerspruch zu ihren Reden zugunsten Benachteiligter haben die Ganztagsschulverfechter ein Idealkind im Kopf, das beim Lernen Erfolg hat, sich in seiner Klasse wohlfühlt, leicht Anschluss findet, nie gehänselt wird und in der Schule keine sozialen Schwierigkeiten hat. Doch es gibt Kinder, für die ihre Klasse eine Qual ist, und die an einem Teil des Tages ein anderes Umfeld brauchen, entweder in der Familie, wo die meisten aufgenommen und aufgehoben sind, oder in anderen Umgebungen, die ihnen eine andere Rolle, eine andere Verortung ermöglichen - auch für ihr Selbstbewusstsein. Deshalb müssen wir behutsam sein, Kindern soziale Umgebungen für zu lange Zeiträume am Tag vorzugeben.

Vor allem aber, wo soll die Zeit für ein individuelles Förderprogramm, für die Rhythmen entspannten Lernens herkommen, wenn man sie nicht beim ureigenen Geschäft der Schule wegnimmt, dem Regelunterricht? Eine einfache Rechnung zeigt, Mittagessen, Hausaufgaben und sportlich-kulturelle Freizeitaktivitäten brauchen jeden Tag mindestens drei Stunden. Damit ist das Extra-Zeitbudget der Kinder im „Ganztag“ bereits verbraucht. Woher soll nun die zusätzliche Zeit für die Förder-, Spezialisierungs- und ergänzenden Lernphasen kommen? Es bleibt nur die Zeit des klassischen Kernunterrichts: weniger Lerninhalte, weniger Fachunterricht. Kinder haben in der durchorganisierten „echten“ Ganztagsschule am Ende weniger Unterricht und weniger Freizeit als zuvor in der Halbtags- oder Zweidrittelschule.

Die Arbeit in heterogenen Lerngruppen braucht Zeit

Einen ähnlichen Preis zahlen Schulkinder von Integrierten Gesamtschulen. Diese wurden seit den siebziger Jahren als Lösung für alle möglichen Schulprobleme angesehen und mit erheblicher Privilegierung bei der personellen und materiellen Ausstattung aufgebaut. Längeres gemeinsames Lernen führt offenbar nicht ohne weiteres zu größerem oder schnellerem Lernfortschritt, wie die schulformvergleichenden Pisa-Auswertungen zeigen. Tatsächlich rangieren Integrierte Gesamtschulen in den Pisa-Vergleichen weit hinter Gymnasien und Realschulen sowie knapp vor den Hauptschulen, die wesentlich kompliziertere Schülerstrukturen aufweisen. Denn die Arbeit in heterogenen Lerngruppen erfordert schlicht mehr Zeit. Folgerichtig verlegten Gesamtschulen einen Teil des Unterrichts auf den Nachmittag. Schon 2009 waren bereits 85 Prozent aller Integrierten Gesamtschulen zugleich Ganztagsschulen. Die Chancenungleichheit, die mangelnde oder nicht erfolgreiche individuelle Förderung der benachteiligten Schüler bestehen trotzdem fort. So wie die Integrierte Gesamtschule vielen Schülern Lernzeiten und Freizeit wegnimmt, so raubt auch die gebundene Ganztagsschule den Kindern Zeit, die sie für sich selbst brauchen. 

Mehr zum Thema
Für einen aufwendigen Umbau unserer Schulen hin zum verbindlichen Ganztag gibt es keine überzeugenden Argumente. Der tatsächlichen, oft überschätzten Nachfrage von Eltern und Kindern nach Betreuung und Unterstützung kann die Schule nur gerecht werden, indem sie mehr Angebote am Nachmittag mit mehr Freiraum für die einzelnen Schüler und Wahlmöglichkeiten je nach persönlicher Veranlagung, Neigung und Situation verbindet. Ein Modell ist etwa der „Pakt für den Nachmittag“ in Hessen, bei dem sich Schule und Gemeinde - ähnlich wie in Schweden - um die Nachmittagsversorgung der Grundschüler kümmern. Halbtagsschulen, offene Ganztagsschulen mit modularen Übungs- und Entspannungsangeboten und auch gebundene Ganztagsschulen - alle Formen mag es geben, aber keine ausschließlich. Es ist unangebracht, wenn Fachleute und Politiker gebetsmühlenartig versuchen, den scheinbar neuen Schultyp der gebundenen, „echten“ Ganztagsschule zum Allheilmittel für alle Bildungsprobleme zu erklären, und dafür Millionen in die Hand nehmen, die an anderer Stelle einer begabungsgerechten Schulpolitik fehlen. 

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Die Autorin ist Mitglied des Hessischen Landtags, Sprecherin für Familienpolitik und Obfrau in der Enquetekomission „Kein Kind zurücklassen“.

Nota. - Heut nur soviel: Nein, nicht Idealkinder schweben den Zwangstagsschulherolden vor; das wäre dumm genug. Was ihnen wirklich vorschwebt, ist das zur staatlichen Norm erhobene Durchschnittskind. Nicht nur für die Kinder, die durch Dauerbelehrung überfordert werden, ist der Ganztagsunterricht eine Qual, sondern für alle, die durch Stillsitzen und bleierne Langeweile unterfordert werden, ist sie eine unerträgliche Folter. 

In ordnungspoltischer Hinsicht ist die Verstaatlichung der Kindheit ein Angriff auf unsere freiheitlich-demo- kratische Grundordnung. Kinder gehören nicht der Schule, nicht den Pädagogen, nicht der Verwaltung.

In sozialpolitischer Hinsicht ist sie eine Katastrophe. Sie verwüstet die Kindergellschaft mit all ihren sozialisatorischen und moralisierenden Potenzen und setzt an deren Stelle die Hackordnung der Pausenhöfe.
JE

 

Donnerstag, 1. Dezember 2016

Playbourhood statt Zwangstagsschule.

 aus nzz.ch, 27.11.2016, 01:00 Uhr

Spieltheorie
Das hast du gut gemacht! 
Das Silicon Valley ist im Rest der Welt vor allem für seinen Innovationsgeist im Bereich Computer und Technik berühmt. Doch die neuste Idee aus Kalifornien könnte nun die Kindererziehung revolutionieren.  

von Melanie Thernstrom

Es war ein Freitagnachmittag in Mike Lanzas Haus in Menlo Park, Kalifornien, die Buben waren ausser Rand und Band. Die einen spielten auf der Strasse Ball, andere turnten im Garten auf dem Zaun herum, ein paar balgten sich auf dem Trampolin. Mikes Haus ist nichts Spezielles – einigermassen modern, nicht sehr gross, wahllos möbliert. Umso spektakulärer, selbst für Silicon-Valley-Verhältnisse, ist der Teil, der den Kindern zum Spielen zur Verfügung steht. Da gibt es eine auf die Garageneinfahrt gemalte Strassenkarte des Quartiers, einen legendären, sieben Meter langen Spiel-Fluss – einst als Kunstinstallation für Kindermuseen entworfen – sowie ein zweistöckiges Spiel-Blockhaus, in dem die Kinder schlafen oder die Whiteboard-Wände bemalen können. Aus dessen erstklassigen Boxen dröhnen gerade Songs von den Talking Heads.

Leo Lanza, 5, foppte meine Kinder. Er behauptete, sie würden sich nicht getrauen, mithilfe der Klettergriffe die 3,5 Meter bis aufs Dach des Spielhauses zu klettern und aufs Trampolin hinunterzuspringen (das nicht mit einem Netz gesichert war). Meine Tochter Violet, das einzige Mädchen hier, fuhr unbeirrt fort, die Spielhauswände mit einem lila Filzstift zu verzieren. «Mir egal, wenn du dir weh tust», gab sie zur Antwort.

Ihr Zwillingsbruder Kieran dagegen verzog sein rundes Gesicht, und sein Teint verfärbte sich rosa. «Ist doch gar nicht wahr!», heulte er. «Ich habe überhaupt keine Angst.» Meine Kinder besuchten damals dieselbe Spielgruppe wie Leo, der jüngste der drei Lanza-Söhne. Ich hatte schon viel von Mike und seinem Haus gehört, das wenige Kilometer von unserem entfernt liegt, aber an diesem Freitagnachmittag war ich anlässlich einer Pizza-Party zum ersten Mal bei ihm.

Mama-Philosophie

Durch die Glasscheibe der Küchentür sah ich, wie Mike für Gäste eine Flasche Wein öffnete. Mike ist eine bekannte, doch polarisierende Figur in Menlo Park. Der Unternehmer Anfang fünfzig hat ein bubenhaftes Grinsen, graumeliertes Haar und trägt wie alle Tech-Typen seines Alters am liebsten Jeans und Turnschuhe. Nachdem er an der Stanford University Wirtschaft studiert, einen MBA sowie ein Lehrdiplom erworben und dann eine Handvoll einigermassen erfolgreiche Startups veräussert hatte, beschloss Mike, sich vertieft mit seinen Ideen über die Erziehung auseinanderzusetzen.

Er begann, ein Blog zu schreiben und Vorträge zu halten, schliesslich gab er im Eigenverlag ein Buch unter dem Titel «Playborhood» heraus. Mike hat den Begriff, ein Kofferwort aus play (spielen) und neighborhood (Nachbarschaft), selber kreiert, um die Umgebung zu beschreiben, die er sich für Kinder wünscht.


Mike ist ein überzeugter Verfechter der Idee, dass «Kinder ihr eigenes Kräftegleichgewicht» finden müssen. Seine Buben sollen eine eigene Gemeinschaft gründen, deren Regeln sie selber aufstellen. Er verwandelte das Haus seiner Familie bewusst in einen Kindertreff und liess alle Nachbarn wissen, dass ihre Kinder jederzeit in seinem Garten willkommen seien, sogar wenn er und seine Familie ausser Haus seien.

Da er kein Fan der teuren, durchorganisierten Sommerkurse ist, wie sie häufig in unserer Gegend angeboten werden, rief Mike seinen eigenen ins Leben: Im nach seiner Strasse benannten «Camp Yale» dürfen die Kinder selber Spiele erfinden und frei durchs Quartier ziehen.

«Versuchen Sie einmal, sich an Ihre zehn besten Erlebnisse aus der Kindheit zu erinnern. Ich wette mit Ihnen, die meisten haben draussen stattgefunden», höre ich Mike immer wieder sagen. «Bei wie vielen war ein Erwachsener dabei? Ich erinnere mich gut, dass wir, wenn ein Erwachsener in unsere Nähe kam, unser Spiel unterbrachen und erst wieder weiterspielten, wenn wir allein waren. Aber die heutigen Mütter lassen ihre Kinder niemals mehr aus den Augen.»


Nach Mikes Weltanschauung wird Buben (auf die er sich hauptsächlich konzentriert) heutzutage das Sammeln maskuliner Erfahrungen vorenthalten, und zwar durch ihre überbehütenden Mütter, von denen sich die passiven Väter dominieren lassen.

Kernthema von Mikes Philosophie ist die hohe Bedeutung von physischer Gefahr: Buben sollen dazu ermuntert werden, Risiken einzugehen, sich zu raufen, hinzufallen und dabei einige Kratzer abzubekommen – oder andern welche zuzufügen. Im Mittelpunkt der sogenannten Mama-Philosophie hingegen (die im Prinzip der heutigen Erziehungsphilosophie entspricht) steht genau das Gegenteil: risikoloses, nettes Spiel, bei dem Kinder weder sich selbst noch andere verletzen. Die meisten Mütter sind nicht gewillt, die Sicherheit ihrer Kinder dem Zufall zu überlassen. Ich jedenfalls bin es nicht.

Mike hatte mich gebeten, hier meine Kinder abzuliefern – nicht, mich noch länger in ihrer Nähe aufzuhalten. Aber gerade hatte ich Leo dabei ertappt, wie er einen Gummischlauch schwang, als hätte er vor, damit auf meinen Sohn einzudreschen, der seinerseits besorgt aussah. Mike schritt in den Garten, sein Weinglas in der einen Hand und ein Stück Käse in der anderen. Seine Frau Perla Ni, eine Anwältin, die eine Nonprofitorganisation leitet, war bei der Arbeit.

Mike mit seiner ungestümen Präsenz (ein Nachbar verglich ihn einst mit einem Labrador-Retriever, der fröhlich jedem ins Gebüsch trampelt) ist ziemlich das Gegenteil der zierlichen, bedachtsamen Perla. Als einziges Kind chinesischer Einwanderer will sie, dass ihre Söhne, anders als sie selbst, eine unbeschwerte Kindheit verleben. «Könntest du die Buben bitte etwas im Auge behalten?», bat ich Mike und machte mich zögernd zum Gehen bereit. Mein Lächeln war schmal und vermittelte: Kannst du um Himmels willen jetzt dein Weinglas abstellen und dich um die Kinder kümmern? Sein Lächeln vermittelte: Lass uns jetzt allein.

Genauso wie andere Gegenden der USA ist das Silicon Valley sportverrückt. Kinder nehmen an Förderprogrammen teil und arbeiten mit privaten Trainern. Doch gemäss Mike werden wichtige Alltagsfähigkeiten, wie er und seine Freunde sie damals beim Spielen ohne Anleitung von Erwachsenen erlangten, in Teamsportvereinen nicht genug gefördert.

Mike und seine Freunde waren gezwungen, Streitigkeiten selber beizulegen, weil ihr Spiel sonst zum Stillstand gekommen wäre. Sie hätten sich nicht auf Sieg oder Niederlage konzentriert, wie unter der Aufsicht Erwachsener, sondern darauf, das Spiel am Laufen zu halten. «Ständig wird darüber geklagt, dass Kinder über zu wenig Freizeit verfügten und Technik-Junkies seien», sagt Mike. «Eine Million Studien belegt: Den Kindern das freie Spielen zu versagen, wirkt sich negativ auf ihre Entwicklung aus. Wir wissen, dass es ihnen schadet. Deshalb habe ich mich gefragt: Was kann ich in dieser Hinsicht für meine Kinder tun?»
 
In neunzehn Häusern daheim

Er analysierte das Problem wie ein Unternehmer, indem er Kinder als Konsumenten und ihre Zeit als Ressource betrachtete. Draussen spielen steht im Wettstreit mit Bildschirmzeit. Aber selbst wenn ein Bub eigentlich Lust hat, nach draussen zu gehen, erklärt Mike: Mit wem soll er spielen? Die Chancen, zu einer bestimmten Zeit draussen einen Spielkameraden anzutreffen, liegen bei 30 Prozent.

Aufgrund des sogenannten Netzwerkeffekts (Kinder beeinflussen sich in ihrem Verhalten) könnten 30 Prozent aber auch null bedeuten. Kein Bub kann darauf zählen, einen Kameraden anzutreffen. So gibt er dem Bildschirm den Vorrang, was die Prozentzahl weiter sinken lässt. Kinder spielen nicht draussen, weil keine anderen Kinder draussen spielen. Im Falle der Playborhood nimmt der Teufelskreis eine positive Dynamik an: Wenn ein Spielkamerad zur Verfügung steht, wollen die meisten Kinder spielen.

Im Zuge seiner Bemühungen um eine Playborhood besuchte Mike Wohnquartiere im ganzen Land, von denen er vermutete, dass sie seiner Vision entsprächen. Als Erstes reiste er ins kalifornische Davis an die N Street, eine rund 20 Häuser umfassende Siedlung. Deren Bewohner teilen sich ihr Land und treffen sich regelmässig zum Nachtessen. Ihre Kinder spazieren frei herum, streifen durch die Gärten und spielen im Gemeinschaftsbereich, zu dem ein Pingpongtisch, ein Pizzaofen und ein Gemeinschaftsgarten gehören.

Mike erzählte mir die Geschichte von der kleinen Lucy aus China, die von einer alleinerziehenden Mutter adoptiert worden war, einer N-Street-Bewohnerin. Als Lucy drei war, starb ihre Mutter an Krebs. Vor ihrem Tod hatte diese jedem Haus einen Kühlschrankmagneten gegeben, auf dem Lucy abgebildet war. Lucy konnte sorglos herumspazieren, da sie wusste, dass es neunzehn Häuser gab, in denen sie willkommen war und sich einen Snack holen konnte.

Mike besuchte auch ein Quartier namens Lyman Place in der New Yorker Bronx, wo Grossmütter und andere Bewohner selber aktiv geworden waren und die Strassen – die für Kinder zum Spielen zu gefährlich waren – den Sommer über sperren liessen. So hatten sie eine Art Riesenspielplatz geschaffen, der von Teenagern aus der Nachbarschaft und von Freiwilligen betreut wurde.

Mike erkannte, dass er die besuchten Playborhoods, deren Bewohner aus der Unter- und Mittelschicht stammten, nicht direkt mit seiner eigenen Nachbarschaft vergleichen konnte, wo ein Haus durchschnittlich zwei Millionen Dollar kostet. Er kam zur Erkenntnis, dass Reichtum und ein Leben in Gemeinschaft schwer vereinbar sind. Wer reich ist, will mit seinem Geld auch Privatsphäre erwerben und sich aussuchen, mit wem er verkehrt. Doch Mikes Kinder sollten nicht nur wissen, wer ihre Nachbarn sind, sondern auch mit ihnen zu tun haben. Und zwar täglich.

Grundvertrauen ist weg >

Um dieses Ziel zu erreichen, musste Mike seine Nachbarn mit ins Boot holen. So entwarf er grosse neongelbe Plastictafeln zum Aufstellen, wie sie verwendet werden, um vor Rutschgefahr zu warnen. Darauf prangte ein Symbol mit spielenden Kindern und das Wort «Playborhood». An Kinderfesten bei sich zu Hause verteilte er die Tafeln an die Eltern, die sie dann in ihre Gärten und auf die Strasse vor ihren Häusern stellten, damit die Kinder «die Strassen von den Autos zurückerobern» konnten. Mike traf zudem eine weitere simple, aber – für ein Quartier, in dem die Gärten nur für das Auge gedacht sind – umso radikalere Massnahme: Er stellte in seinem Garten nahe bei der Strasse einen Picknicktisch auf.

Wenn Mike und seine Familie am Tisch sitzen, und das tun sie oft, sind vorbeispazierende Nachbarn gezwungen, sich mit ihnen zu unterhalten. Am Gartenzaun befestigte er eine Tafel, auf die er Videos und Bilder projizierte, in der Hoffnung, damit Nachbarskinder anzulocken. Und sein Plan ging auf: Kinder kommen herbei, um am Fluss zu spielen, und Erwachsene bleiben stehen, um die Sprüche auf den von einem Künstler gestalteten Bodenmosaiken zu lesen.

Mike hat auch meine Familie beeinflusst. Mit einem «Camp-Yale-Spiel» haben meine Kinder und ich in unserer Strasse neue Freundschaften geschlossen: Wir baten unsere Nachbarn darum, eine Zutat beizusteuern, und buken daraus einen Apfel-Birne-Heidelbeer-Erdbeer-Kuchen. Als er fertig war, brachten wir allen ein Stück vorbei. Meine Tochter war von dem Spiel so angetan, dass sie sich den Kuchen auch zum Geburtstag wünschte. Als uns die Familie von nebenan ihr Trampolin vermachte, teilte ich allen Nachbarskindern mit, dass sie jederzeit in unserem Garten zum Spielen willkommen seien.
Mikes Einstellung, dass Kinder in ihrer Freizeit herumtollen sollen, ist im Silicon Valley ungewöhnlich. Nicht wenige hochqualifizierte Männer und Frauen geben zugunsten ihrer Sprösslinge den Job auf. Und genauso wie das Silicon Valley bei Smartphones führend ist, meinen Silicon-Valley-Eltern nun, sie müssten Modell-Kinder mit speziellen Fähigkeiten hervorbringen oder solche, die coole Projekte am Start haben: Kinder, die ein Startup führen, Umwelteinsätze auf den Galapagos leisten, Arien singen, mehrere Sprachen beherrschen.

Es mutet seltsam an, wie die Eltern ihren pervertierten Ehrgeiz mit Forschungsergebnissen rechtfertigen (etwa der Vergrösserung des Sprachzentrums im Hirn), während sie über Untersuchungsergebnisse zu negativen Auswirkungen vollgestopfter Terminkalender auf Kinder hinwegsehen.

«Mir fällt immer wieder auf, wie unglaublich ängstlich Eltern sind», sagte Mike zu mir. «Das Grundvertrauen in den Nachwuchs ist ihnen abhandengekommen.» Ihm missfällt, wie stark Eltern auf jeden Aspekt im Leben ihrer Kinder Einfluss nehmen, selbst deren Hobbys kuratieren sie mit unerträglicher Sorgfalt.

Er selber beabsichtige, «das Gegenteil eines Tigervaters» zu sein. «Als liberal denkender Mensch betrachte ich die Tatsache, dass Kinder zu wenig Freiheit haben, als eines der grössten Probleme der amerikanischen Gesellschaft.» Kinder würden unter wohlwollender Vernachlässigung prächtig gedeihen. «Zwischen Kindern und Erwachsenen gibt es immer einen Machtkampf», sagt er. «Doch die Kinder von heute sind geschwächt. Es ist nicht gut für sie, ständig unter der Kontrolle Erwachsener zu stehen.»

Forschungsergebnisse bestätigen dies. Offenbar sind Schüler mit «Helikoptereltern» weniger flexibel und selbstbewusst, dafür ängstlicher und anfälliger für Depressionen. Ebenso können Kinder, deren Zeit vollgepackt ist mit Unterrichtsstunden und von Erwachsenen überwachten Aktivitäten, mehr Mühe damit haben, selber «Führungskompetenzen» zu erlangen. Sie sind also kaum fähig, eigene Pläne aufzustellen und zu verfolgen. Umgekehrt entwickeln Kinder diese Fähigkeiten desto besser, je mehr Gelegenheit sie haben, frei zu spielen.

Die Nachbarn reagieren unterschiedlich auf Mike. Mikes Vorschlag, dass alle ihre Gartenzäune abbauen, damit die Kinder besser spielen können, stiess auf taube Ohren. Mike beklagte sich bei mir, weil eine Nachbarin seinen Sohn Marco gebeten hatte, nicht mehr in ihren Garten zu klettern, um ihren Sohn zu treffen. Viele Nachbarn sind dagegen, dass Buben auf den Strassen spielen und kleinere Kinder unbeaufsichtigt mit dem Velo herumkurven. Leo durfte allein durchs Quartier radeln, als er fünf war, und vor zwei Jahren, als Leos Bruder Nico in die Schule kam, durfte dieser den 2,5 Kilometer weiten Schulweg allein per Rad zurücklegen.

Im Frühling letzten Jahres montierte Mike 3 Meter hohe Leitern in jedem Schlafzimmer seiner Söhne, über die sie durch ein Loch in der Decke in den ausgebauten Estrich klettern konnten. Perlas Begeisterung darüber hielt sich in Grenzen. Sie fürchtete, die Buben könnten hinunterfallen. Tatsächlich stürzte Leo einmal, als er im Estrich spielte, durch die Luke und schlug sich den Kopf an. «Für mich war das eine gewöhnliche Beule, wie Kinder sie immer wieder einmal davontragen», fand Mike. Perla hingegen brachte Leo zu einer Untersuchung ins Spital. «Natürlich war alles in Ordnung», sagte Mike und rollte mit den Augen.

«Klar gibt es Unfälle»

Mike hat auch keine Angst vor Klagen, wenn sich ein Kind auf seinem Grundstück verletzen sollte. Ich frage ihn, wie es mit fahrlässiger Tötung aussehe, wenn ein Unfall geschehe: Ein Kind könnte sich bei einem Sprung vom Spielhaus aufs Trampolin das Genick brechen. (Unfälle auf Trampolinen ohne Netz gelten als Personenschaden.) Macht ihm das keine Sorgen? Er bedachte mich mit einem kurzen Blick und prustete vor Lachen.

Im letzten Februar besuchte Peter Gray, Psychologieprofessor am Boston College und ein Fan von Mikes Ideen, die Familie Lanza und beobachtete die drei Buben einen Tag lang beim Spielen. Bei seinen Vorträgen über die Bedeutung des freien Spiels für die Entwicklung, so Gray, höre er von den Zuhörern, dass sie von der Idee begeistert seien, ihre Kinder aber lieber vor Bildschirmen sässen.

Dann zeigt er ihnen anhand von Mikes Playboorhood, wie Eltern eine neue Nachbarschaftskultur in ihrem Quartier einführen können. Im Rahmen seiner Studien hat Gray Mike begleitet, als dieser die Kinder von der Schule abholte. Mike fuhr mit den Kleinsten nach Hause, während Gray und ich hinter Marco und dessen Freund herradelten, als sie mit ihren Skateboards in den Park fuhren. 

Unterwegs hatten sie ihren Spass daran, auf den Verandatreppen von Fremden Tricks zu vollführen. Im Park sausten sie mit älteren Skatern steile Betonrampen hinunter, während es dunkel wurde. «Sämtliche Säugetiere setzen sich beim Spielen gewissen Gefahren aus», sagte Gray. «So lernen sie, mit Angst umzugehen. Irgendwann geraten wir alle einmal in Stresssituationen. Dann müssen wir Ruhe bewahren können. Klar gibt es Unfälle. Vielleicht stürzt eine junge Ziege einmal beim Spielen von einem Fels ab, aber so etwas kommt höchst selten vor. Wenn dieser Instinkt nicht von evolutionärem Nutzen wäre, wäre solches Verhalten längst ausgerottet.» – «Ziegenmütter sterben aber nicht an einem gebrochenen Herzen wie Menschenmütter», erwiderte ich gereizt.

Gray kennt diese Sorgen. Doch er sagt: «Bei den Jägern und Sammlern gab es noch keine Helikoptermütter. Kinder waren bis vierjährig mit den Müttern zusammen. Dann liess man sie allein und bei den anderen Kindern, wo sie im Spiel die vielschichtigen Fähigkeiten erwarben, die es zum Überleben braucht: den Weg durch den Dschungel finden, Waffen herstellen und Nahrungsquellen erschliessen.»

Nie vergesse ich den Schock, den ich erlitt, als ich meine Kinder von der Pizza-Party bei den Lanzas abholte. Auf dem Nachhauseweg erzählte Kieran, dass er und Leo zusammen aufs Dach geklettert seien. «Aufs Dach? Auf das Dach der Lanzas? Hat es ein Geländer? War ein Erwachsener dabei?»
Das Haus der Lanzas ist mehrstöckig, das Dach teilweise schräg, es gibt aber auch einen ebenen Bereich, der knapp 8 Meter über dem Boden ist. Wenn man auf der Rückseite des Hauses hinunterfiele, würde man entweder auf der Wiese oder vielleicht auf der gepflasterten Terrasse landen. Auf der Vorderseite würde man auf der Einfahrt aufschlagen, auf dem Auto, dem Picknicktisch, dem steinernen Brunnen.

«Wir kletterten durch ein Estrichfenster aufs Dach», berichtete Kieran halb stolz, halb verwundert. «Ohne Erwachsenen!» Ich war mir so sicher, dass es sich um eine Räubergeschichte handelte, dass es mir unangenehm war, Mike danach zu fragen, als ich ihn vor der Schule traf. «Tut mir leid, dass dir unwohl dabei war», meinte er. «Aber du weisst ja, dass mir so etwas keine Angst macht. Wie gross sind die Chancen, dass etwas Schlimmes passiert? Und kennst du jemanden persönlich, der schon einmal vom Dach gefallen ist?» Wie auch immer, so Mike, er setze seinen Kindern  durchaus Grenzen: Sie dürfen dort oben weder Ball noch Fangen spielen. 


«Und du vertraust ihnen?», fragte ich. Er antwortete: «Ich will ihnen vertrauen. Für mich ist es in Ordnung, wenn Dinge passieren, von denen ich nicht will, dass sie passieren. Zu wissen, dass sich meine Kinder vergnügen, ist für mich alles, was zählt. Auf dem Dach wird nicht gerannt, diese Regel habe ich ihnen ins Hirn eingepflanzt. Es ist ein ständiger Kampf, aber ich glaube, meine Erziehungskompetenzen auf eine höhere Ebene bringen zu können, wenn ich ihnen vertraue. Ich bin überzeugt, dass ihnen mein Vertrauen viel bedeutet.»

Es war offensichtlich, dass sich unsere Auffassungen von Risiko wesentlich voneinander unterschieden. Für ihn sind Risiken eine Sache der Wahrscheinlichkeit: Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Kind zu Tode stürzt? Google hat eine Antwort auf diese Frage parat, aber ich weiss, dass wir die Zahl unterschiedlich betrachten würden.

Mike lässt sich in seinen Entscheidungen ohnehin nicht von Statistiken einschränken. Seine Philosophie trägt utopisch-libertäre Züge; er ist ein Mann, der sich in erster Linie von seiner Theorie lenken lässt. Für ihn sind solche Ereignisse mit geringer Wahrscheinlichkeit vernachlässigbar; für mich sind es Tragödien, die jemanden treffen.

Für mich kommt Spielen auf dem Dach mehr der Teilnahme an einer Lotterie gleich, in der, wenn die Kinder von uns allen auf dem Dach spielen, das Kind von jemandem das Erwachsenenalter nicht erreichen wird – und an dieser Lotterie will ich nicht teilnehmen. Die eigentliche Frage ist: Glauben Sie, dass das Kind, das hinunterfällt, Ihres sein könnte?
 
Macht über die Erwachsenen

Ich beschloss, mir das Dach anzuschauen. Ich suchte Kieran, und wir kletterten durch den Estrich hinaus. In den ersten Sekunden versuchte ich die Überlebenschancen nach einem Sturz abzuschätzen, aber dann nahm das berauschende Gefühl, auf die Welt hinabzublicken, überhand.

Ich kam mir vor wie auf einer Kinderbuch-Turmspitze: Unter mir breitete sich ein mit Häusern, Gärten und Strassen gemusterter Quilt aus, Wiesen und Swimmingpools bildeten grüne und hellblaue Punkte – das Quartier sah aus wie auf den Plänen auf Mikes Garageneinfahrt.

Ich sah den Spiel-Fluss, den Brunnen, die Mosaiken und auf der Strasse die Kinder beim Fussball, wie sie ihren Platz vor den Autos verteidigten.

Ich nahm die Lebendigkeit in den Körpern der Buben wahr: die berauschende Macht über die Welt der Erwachsenen, die ihnen für kurze Zeit ausweichen müssen.


Nota. - Die älteren meiner Leser haben noch die "antiautoritäre Erziehung" der 60er, 70er Jahre kennen- gelernt; und an die Abenteuerspielplätze, die aus Dänermark zu uns gekommen sind, erinnern Sie sich auch noch?

Damals kam niemand auf den Gedanken - jedenfalls äußerte ihn keiner mehr -, dass "Erziehung", wenn sie denn sein musste, einen andern Zweck haben könnte als Kinder in die Lage zu setzen, ihr Leben selber zu meistern. Emanzipation nannte man das damals pathetisch, aber jedenfalls verstand jeder: Kinder so zu modellieren, dass sie in ein Förmchen passen, ist kein vertretbarer Zweck.

*

Es ist an der Zeit, die Dinge wieder bei ihrem Namen zu nennen. Es darf den selbstherrlichen Technokra- ten, die sich als Bildungsexperten aufspielen, nicht länger erlaubt werden, sich als die Herolde irgend eines Fortschritts auszugeben. Sie sind die Vorhut der allerborniertesten, allerschwärzesten und allerzynischsten Reaktion. Fortschritt gibt es immer nur in eine Richtung: Ausweitung der Mächtigkeit eines jeden über seine eigene Lebensführung. Das Einpassen in zugedachte Rollen ist ein Rückfall weit ins vergangene Jahr- tausend. 
JE