aus nzz.ch, 27.11.2016, 01:00 Uhr
Spieltheorie
Das hast du gut gemacht!
Das
Silicon Valley ist im Rest der Welt vor allem für seinen
Innovationsgeist im Bereich Computer und Technik berühmt. Doch die
neuste Idee aus Kalifornien könnte nun die Kindererziehung revolutionieren.
von Melanie Thernstrom
Es
war ein Freitagnachmittag in Mike Lanzas Haus in Menlo Park,
Kalifornien, die Buben waren ausser Rand und Band. Die einen spielten
auf der Strasse Ball, andere turnten im Garten auf dem Zaun herum, ein
paar balgten sich auf dem Trampolin. Mikes Haus ist nichts Spezielles –
einigermassen modern, nicht sehr gross, wahllos möbliert.
Umso
spektakulärer, selbst für Silicon-Valley-Verhältnisse, ist der Teil,
der den Kindern zum Spielen zur Verfügung steht. Da gibt es eine auf die
Garageneinfahrt gemalte Strassenkarte des Quartiers, einen legendären,
sieben Meter langen Spiel-Fluss – einst als Kunstinstallation für
Kindermuseen entworfen – sowie ein zweistöckiges Spiel-Blockhaus, in dem
die Kinder schlafen oder die Whiteboard-Wände bemalen können. Aus
dessen erstklassigen Boxen dröhnen gerade Songs von den Talking Heads.
Leo
Lanza, 5, foppte meine Kinder. Er behauptete, sie würden sich nicht
getrauen, mithilfe der Klettergriffe die 3,5 Meter bis aufs Dach des
Spielhauses zu klettern und aufs Trampolin hinunterzuspringen (das nicht
mit einem Netz gesichert war). Meine Tochter Violet, das einzige
Mädchen hier, fuhr unbeirrt fort, die Spielhauswände mit einem lila
Filzstift zu verzieren. «Mir egal, wenn du dir weh tust», gab sie zur
Antwort.
Ihr
Zwillingsbruder Kieran dagegen verzog sein rundes Gesicht, und sein
Teint verfärbte sich rosa. «Ist doch gar nicht wahr!», heulte er. «Ich
habe überhaupt keine Angst.» Meine Kinder besuchten damals dieselbe
Spielgruppe wie Leo, der jüngste der drei Lanza-Söhne. Ich hatte schon
viel von Mike und seinem Haus gehört, das wenige Kilometer von unserem
entfernt liegt, aber an diesem Freitagnachmittag war ich anlässlich
einer Pizza-Party zum ersten Mal bei ihm.
Mama-Philosophie
Durch
die Glasscheibe der Küchentür sah ich, wie Mike für Gäste eine Flasche
Wein öffnete. Mike ist eine bekannte, doch polarisierende Figur in Menlo
Park. Der Unternehmer Anfang fünfzig hat ein bubenhaftes Grinsen,
graumeliertes Haar und trägt wie alle Tech-Typen seines Alters am
liebsten Jeans und Turnschuhe. Nachdem er an der Stanford University
Wirtschaft studiert, einen MBA sowie ein Lehrdiplom erworben und dann
eine Handvoll einigermassen erfolgreiche Startups veräussert hatte,
beschloss Mike, sich vertieft mit seinen Ideen über die Erziehung
auseinanderzusetzen.
Er begann, ein Blog zu schreiben und Vorträge zu halten, schliesslich gab er im Eigenverlag ein Buch unter dem Titel «Playborhood»
heraus. Mike hat den Begriff, ein Kofferwort aus play (spielen) und
neighborhood (Nachbarschaft), selber kreiert, um die Umgebung zu
beschreiben, die er sich für Kinder wünscht.
Mike
ist ein überzeugter Verfechter der Idee, dass «Kinder ihr eigenes
Kräftegleichgewicht» finden müssen. Seine Buben sollen eine eigene
Gemeinschaft gründen, deren Regeln sie selber aufstellen. Er verwandelte
das Haus seiner Familie bewusst in einen Kindertreff und liess alle
Nachbarn wissen, dass ihre Kinder jederzeit in seinem Garten willkommen
seien, sogar wenn er und seine Familie ausser Haus seien.
Da
er kein Fan der teuren, durchorganisierten Sommerkurse ist, wie sie
häufig in unserer Gegend angeboten werden, rief Mike seinen eigenen ins
Leben: Im nach seiner Strasse benannten «Camp Yale» dürfen die Kinder
selber Spiele erfinden und frei durchs Quartier ziehen.
«Versuchen
Sie einmal, sich an Ihre zehn besten Erlebnisse aus der Kindheit zu
erinnern. Ich wette mit Ihnen, die meisten haben draussen
stattgefunden», höre ich Mike immer wieder sagen. «Bei wie vielen war
ein Erwachsener dabei? Ich erinnere mich gut, dass wir, wenn ein
Erwachsener in unsere Nähe kam, unser Spiel unterbrachen und erst wieder
weiterspielten, wenn wir allein waren. Aber die heutigen Mütter lassen
ihre Kinder niemals mehr aus den Augen.»
Nach
Mikes Weltanschauung wird Buben (auf die er sich hauptsächlich
konzentriert) heutzutage das Sammeln maskuliner Erfahrungen
vorenthalten, und zwar durch ihre überbehütenden Mütter, von denen sich
die passiven Väter dominieren lassen.
Kernthema
von Mikes Philosophie ist die hohe Bedeutung von physischer Gefahr:
Buben sollen dazu ermuntert werden, Risiken einzugehen, sich zu raufen,
hinzufallen und dabei einige Kratzer abzubekommen – oder andern welche
zuzufügen. Im Mittelpunkt der sogenannten Mama-Philosophie hingegen (die
im Prinzip der heutigen Erziehungsphilosophie entspricht) steht genau
das Gegenteil: risikoloses, nettes Spiel, bei dem Kinder weder sich
selbst noch andere verletzen. Die meisten Mütter sind nicht gewillt, die
Sicherheit ihrer Kinder dem Zufall zu überlassen. Ich jedenfalls bin es
nicht.
Mike hatte
mich gebeten, hier meine Kinder abzuliefern – nicht, mich noch länger in
ihrer Nähe aufzuhalten. Aber gerade hatte ich Leo dabei ertappt, wie er
einen Gummischlauch schwang, als hätte er vor, damit auf meinen Sohn
einzudreschen, der seinerseits besorgt aussah. Mike schritt in den
Garten, sein Weinglas in der einen Hand und ein Stück Käse in der
anderen. Seine Frau Perla Ni, eine Anwältin, die eine
Nonprofitorganisation leitet, war bei der Arbeit.
Mike
mit seiner ungestümen Präsenz (ein Nachbar verglich ihn einst mit einem
Labrador-Retriever, der fröhlich jedem ins Gebüsch trampelt) ist
ziemlich das Gegenteil der zierlichen, bedachtsamen Perla. Als einziges
Kind chinesischer Einwanderer will sie, dass ihre Söhne, anders als sie
selbst, eine unbeschwerte Kindheit verleben. «Könntest du die Buben
bitte etwas im Auge behalten?», bat ich Mike und machte mich zögernd zum
Gehen bereit. Mein Lächeln war schmal und vermittelte: Kannst du um
Himmels willen jetzt dein Weinglas abstellen und dich um die Kinder
kümmern? Sein Lächeln vermittelte: Lass uns jetzt allein.
Genauso
wie andere Gegenden der USA ist das Silicon Valley sportverrückt.
Kinder nehmen an Förderprogrammen teil und arbeiten mit privaten
Trainern. Doch gemäss Mike werden wichtige Alltagsfähigkeiten, wie er
und seine Freunde sie damals beim Spielen ohne Anleitung von Erwachsenen
erlangten, in Teamsportvereinen nicht genug gefördert.
Mike
und seine Freunde waren gezwungen, Streitigkeiten selber beizulegen,
weil ihr Spiel sonst zum Stillstand gekommen wäre. Sie hätten sich nicht
auf Sieg oder Niederlage konzentriert, wie unter der Aufsicht
Erwachsener, sondern darauf, das Spiel am Laufen zu halten. «Ständig
wird darüber geklagt, dass Kinder über zu wenig Freizeit verfügten und
Technik-Junkies seien», sagt Mike. «Eine Million Studien belegt: Den
Kindern das freie Spielen zu versagen, wirkt sich negativ auf ihre
Entwicklung aus. Wir wissen, dass es ihnen schadet. Deshalb habe ich
mich gefragt: Was kann ich in dieser Hinsicht für meine Kinder tun?»
In neunzehn Häusern daheim
Er
analysierte das Problem wie ein Unternehmer, indem er Kinder als
Konsumenten und ihre Zeit als Ressource betrachtete. Draussen spielen
steht im Wettstreit mit Bildschirmzeit. Aber selbst wenn ein Bub
eigentlich Lust hat, nach draussen zu gehen, erklärt Mike: Mit wem soll
er spielen? Die Chancen, zu einer bestimmten Zeit draussen einen
Spielkameraden anzutreffen, liegen bei 30 Prozent.
Aufgrund
des sogenannten Netzwerkeffekts (Kinder beeinflussen sich in ihrem
Verhalten) könnten 30 Prozent aber auch null bedeuten. Kein Bub kann
darauf zählen, einen Kameraden anzutreffen. So gibt er dem Bildschirm
den Vorrang, was die Prozentzahl weiter sinken lässt. Kinder spielen
nicht draussen, weil keine anderen Kinder draussen spielen. Im Falle der
Playborhood nimmt der Teufelskreis eine positive Dynamik an: Wenn ein
Spielkamerad zur Verfügung steht, wollen die meisten Kinder spielen.
Im
Zuge seiner Bemühungen um eine Playborhood besuchte Mike Wohnquartiere
im ganzen Land, von denen er vermutete, dass sie seiner Vision
entsprächen. Als Erstes reiste er ins kalifornische Davis an die
N Street, eine rund 20 Häuser umfassende Siedlung. Deren Bewohner teilen
sich ihr Land und treffen sich regelmässig zum Nachtessen. Ihre Kinder
spazieren frei herum, streifen durch die Gärten und spielen im
Gemeinschaftsbereich, zu dem ein Pingpongtisch, ein Pizzaofen und ein
Gemeinschaftsgarten gehören.
Mike
erzählte mir die Geschichte von der kleinen Lucy aus China, die von
einer alleinerziehenden Mutter adoptiert worden war, einer
N-Street-Bewohnerin. Als Lucy drei war, starb ihre Mutter an Krebs. Vor
ihrem Tod hatte diese jedem Haus einen Kühlschrankmagneten gegeben, auf
dem Lucy abgebildet war. Lucy konnte sorglos herumspazieren, da sie
wusste, dass es neunzehn Häuser gab, in denen sie willkommen war und
sich einen Snack holen konnte.
Mike
besuchte auch ein Quartier namens Lyman Place in der New Yorker Bronx,
wo Grossmütter und andere Bewohner selber aktiv geworden waren und die
Strassen – die für Kinder zum Spielen zu gefährlich waren – den Sommer
über sperren liessen. So hatten sie eine Art Riesenspielplatz
geschaffen, der von Teenagern aus der Nachbarschaft und von Freiwilligen
betreut wurde.
Mike
erkannte, dass er die besuchten Playborhoods, deren Bewohner aus der
Unter- und Mittelschicht stammten, nicht direkt mit seiner eigenen
Nachbarschaft vergleichen konnte, wo ein Haus durchschnittlich zwei
Millionen Dollar kostet. Er kam zur Erkenntnis, dass Reichtum und ein
Leben in Gemeinschaft schwer vereinbar sind. Wer reich ist, will mit
seinem Geld auch Privatsphäre erwerben und sich aussuchen, mit wem er
verkehrt. Doch Mikes Kinder sollten nicht nur wissen, wer ihre Nachbarn
sind, sondern auch mit ihnen zu tun haben. Und zwar täglich.
Grundvertrauen ist weg
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Um
dieses Ziel zu erreichen, musste Mike seine Nachbarn mit ins Boot
holen. So entwarf er grosse neongelbe Plastictafeln zum Aufstellen, wie
sie verwendet werden, um vor Rutschgefahr zu warnen. Darauf prangte ein
Symbol mit spielenden Kindern und das Wort «Playborhood». An
Kinderfesten bei sich zu Hause verteilte er die Tafeln an die Eltern,
die sie dann in ihre Gärten und auf die Strasse vor ihren Häusern
stellten, damit die Kinder «die Strassen von den Autos zurückerobern»
konnten. Mike traf zudem eine weitere simple, aber – für ein Quartier,
in dem die Gärten nur für das Auge gedacht sind – umso radikalere
Massnahme: Er stellte in seinem Garten nahe bei der Strasse einen
Picknicktisch auf.
Wenn
Mike und seine Familie am Tisch sitzen, und das tun sie oft, sind
vorbeispazierende Nachbarn gezwungen, sich mit ihnen zu unterhalten. Am
Gartenzaun befestigte er eine Tafel, auf die er Videos und Bilder
projizierte, in der Hoffnung, damit Nachbarskinder anzulocken. Und sein
Plan ging auf: Kinder kommen herbei, um am Fluss zu spielen, und
Erwachsene bleiben stehen, um die Sprüche auf den von einem Künstler
gestalteten Bodenmosaiken zu lesen.
Mike
hat auch meine Familie beeinflusst. Mit einem «Camp-Yale-Spiel» haben
meine Kinder und ich in unserer Strasse neue Freundschaften geschlossen:
Wir baten unsere Nachbarn darum, eine Zutat beizusteuern, und buken
daraus einen Apfel-Birne-Heidelbeer-Erdbeer-Kuchen. Als er fertig war,
brachten wir allen ein Stück vorbei. Meine Tochter war von dem Spiel so
angetan, dass sie sich den Kuchen auch zum Geburtstag wünschte. Als uns
die Familie von nebenan ihr Trampolin vermachte, teilte ich allen
Nachbarskindern mit, dass sie jederzeit in unserem Garten zum Spielen
willkommen seien.
Mikes
Einstellung, dass Kinder in ihrer Freizeit herumtollen sollen, ist im
Silicon Valley ungewöhnlich. Nicht wenige hochqualifizierte Männer und
Frauen geben zugunsten ihrer Sprösslinge den Job auf. Und genauso wie
das Silicon Valley bei Smartphones führend ist, meinen
Silicon-Valley-Eltern nun, sie müssten Modell-Kinder mit speziellen
Fähigkeiten hervorbringen oder solche, die coole Projekte am Start
haben: Kinder, die ein Startup führen, Umwelteinsätze auf den Galapagos
leisten, Arien singen, mehrere Sprachen beherrschen.
Es
mutet seltsam an, wie die Eltern ihren pervertierten Ehrgeiz mit
Forschungsergebnissen rechtfertigen (etwa der Vergrösserung des
Sprachzentrums im Hirn), während sie über Untersuchungsergebnisse zu
negativen Auswirkungen vollgestopfter Terminkalender auf Kinder
hinwegsehen.
«Mir
fällt immer wieder auf, wie unglaublich ängstlich Eltern sind», sagte
Mike zu mir. «Das Grundvertrauen in den Nachwuchs ist ihnen
abhandengekommen.» Ihm missfällt, wie stark Eltern auf jeden Aspekt im
Leben ihrer Kinder Einfluss nehmen, selbst deren Hobbys kuratieren sie
mit unerträglicher Sorgfalt.
Er
selber beabsichtige, «das Gegenteil eines Tigervaters» zu sein. «Als
liberal denkender Mensch betrachte ich die Tatsache, dass Kinder zu
wenig Freiheit haben, als eines der grössten Probleme der amerikanischen
Gesellschaft.» Kinder würden unter wohlwollender Vernachlässigung
prächtig gedeihen. «Zwischen Kindern und Erwachsenen gibt es immer einen
Machtkampf», sagt er. «Doch die Kinder von heute sind geschwächt. Es
ist nicht gut für sie, ständig unter der Kontrolle Erwachsener zu
stehen.»
Forschungsergebnisse
bestätigen dies. Offenbar sind Schüler mit «Helikoptereltern» weniger
flexibel und selbstbewusst, dafür ängstlicher und anfälliger für
Depressionen. Ebenso können Kinder, deren Zeit vollgepackt ist mit
Unterrichtsstunden und von Erwachsenen überwachten Aktivitäten, mehr
Mühe damit haben, selber «Führungskompetenzen» zu erlangen. Sie sind
also kaum fähig, eigene Pläne aufzustellen und zu verfolgen. Umgekehrt
entwickeln Kinder diese Fähigkeiten desto besser, je mehr Gelegenheit
sie haben, frei zu spielen.
Die
Nachbarn reagieren unterschiedlich auf Mike. Mikes Vorschlag, dass alle
ihre Gartenzäune abbauen, damit die Kinder besser spielen können,
stiess auf taube Ohren. Mike beklagte sich bei mir, weil eine Nachbarin
seinen Sohn Marco gebeten hatte, nicht mehr in ihren Garten zu klettern,
um ihren Sohn zu treffen. Viele Nachbarn sind dagegen, dass Buben auf
den Strassen spielen und kleinere Kinder unbeaufsichtigt mit dem Velo
herumkurven. Leo durfte allein durchs Quartier radeln, als er fünf war,
und vor zwei Jahren, als Leos Bruder Nico in die Schule kam, durfte
dieser den 2,5 Kilometer weiten Schulweg allein per Rad zurücklegen.
Im
Frühling letzten Jahres montierte Mike 3 Meter hohe Leitern in jedem
Schlafzimmer seiner Söhne, über die sie durch ein Loch in der Decke in
den ausgebauten Estrich klettern konnten. Perlas Begeisterung darüber
hielt sich in Grenzen. Sie fürchtete, die Buben könnten hinunterfallen.
Tatsächlich stürzte Leo einmal, als er im Estrich spielte, durch die
Luke und schlug sich den Kopf an. «Für mich war das eine gewöhnliche
Beule, wie Kinder sie immer wieder einmal davontragen», fand Mike. Perla
hingegen brachte Leo zu einer Untersuchung ins Spital. «Natürlich war
alles in Ordnung», sagte Mike und rollte mit den Augen.
«Klar gibt es Unfälle»
Mike
hat auch keine Angst vor Klagen, wenn sich ein Kind auf seinem
Grundstück verletzen sollte. Ich frage ihn, wie es mit fahrlässiger
Tötung aussehe, wenn ein Unfall geschehe: Ein Kind könnte sich bei einem
Sprung vom Spielhaus aufs Trampolin das Genick brechen. (Unfälle auf
Trampolinen ohne Netz gelten als Personenschaden.) Macht ihm das keine
Sorgen? Er bedachte mich mit einem kurzen Blick und prustete vor Lachen.
Im
letzten Februar besuchte Peter Gray, Psychologieprofessor am Boston
College und ein Fan von Mikes Ideen, die Familie Lanza und beobachtete
die drei Buben einen Tag lang beim Spielen. Bei seinen Vorträgen über
die Bedeutung des freien Spiels für die Entwicklung, so Gray, höre er
von den Zuhörern, dass sie von der Idee begeistert seien, ihre Kinder
aber lieber vor Bildschirmen sässen.
Dann
zeigt er ihnen anhand von Mikes Playboorhood, wie Eltern eine neue
Nachbarschaftskultur in ihrem Quartier einführen können. Im Rahmen
seiner Studien hat Gray Mike begleitet, als dieser die Kinder von der
Schule abholte. Mike fuhr mit den Kleinsten nach Hause, während Gray und
ich hinter Marco und dessen Freund herradelten, als sie mit ihren
Skateboards in den Park fuhren.
Unterwegs hatten sie ihren Spass daran,
auf den Verandatreppen von Fremden Tricks zu vollführen. Im Park sausten
sie mit älteren Skatern steile Betonrampen hinunter, während es dunkel
wurde.
«Sämtliche
Säugetiere setzen sich beim Spielen gewissen Gefahren aus», sagte Gray.
«So lernen sie, mit Angst umzugehen. Irgendwann geraten wir alle einmal
in Stresssituationen. Dann müssen wir Ruhe bewahren können. Klar gibt es
Unfälle. Vielleicht stürzt eine junge Ziege einmal beim Spielen von
einem Fels ab, aber so etwas kommt höchst selten vor. Wenn dieser
Instinkt nicht von evolutionärem Nutzen wäre, wäre solches Verhalten
längst ausgerottet.» – «Ziegenmütter sterben aber nicht an einem
gebrochenen Herzen wie Menschenmütter», erwiderte ich gereizt.
Gray
kennt diese Sorgen. Doch er sagt: «Bei den Jägern und Sammlern gab es
noch keine Helikoptermütter. Kinder waren bis vierjährig mit den Müttern
zusammen. Dann liess man sie allein und bei den anderen Kindern, wo sie
im Spiel die vielschichtigen Fähigkeiten erwarben, die es zum Überleben
braucht: den Weg durch den Dschungel finden, Waffen herstellen und
Nahrungsquellen erschliessen.»
Nie
vergesse ich den Schock, den ich erlitt, als ich meine Kinder von der
Pizza-Party bei den Lanzas abholte. Auf dem Nachhauseweg erzählte
Kieran, dass er und Leo zusammen aufs Dach geklettert seien. «Aufs Dach?
Auf das Dach der Lanzas? Hat es ein Geländer? War ein Erwachsener
dabei?»
Das
Haus der Lanzas ist mehrstöckig, das Dach teilweise schräg, es gibt
aber auch einen ebenen Bereich, der knapp 8 Meter über dem Boden ist.
Wenn man auf der Rückseite des Hauses hinunterfiele, würde man entweder
auf der Wiese oder vielleicht auf der gepflasterten Terrasse landen. Auf
der Vorderseite würde man auf der Einfahrt aufschlagen, auf dem Auto,
dem Picknicktisch, dem steinernen Brunnen.
«Wir
kletterten durch ein Estrichfenster aufs Dach», berichtete Kieran halb
stolz, halb verwundert. «Ohne Erwachsenen!» Ich war mir so sicher, dass
es sich um eine Räubergeschichte handelte, dass es mir unangenehm war,
Mike danach zu fragen, als ich ihn vor der Schule traf. «Tut mir leid,
dass dir unwohl dabei war», meinte er. «Aber du weisst ja, dass mir so
etwas keine Angst macht. Wie gross sind die Chancen, dass etwas
Schlimmes passiert? Und kennst du jemanden persönlich, der schon einmal
vom Dach gefallen ist?» Wie auch immer, so Mike, er setze seinen Kindern
durchaus Grenzen: Sie dürfen dort oben weder Ball noch Fangen spielen.
«Und
du vertraust ihnen?», fragte ich. Er antwortete: «Ich will ihnen
vertrauen. Für mich ist es in Ordnung, wenn Dinge passieren, von denen
ich nicht will, dass sie passieren. Zu wissen, dass sich meine Kinder
vergnügen, ist für mich alles, was zählt. Auf dem Dach wird nicht
gerannt, diese Regel habe ich ihnen ins Hirn eingepflanzt. Es ist ein
ständiger Kampf, aber ich glaube, meine Erziehungskompetenzen auf eine
höhere Ebene bringen zu können, wenn ich ihnen vertraue. Ich bin
überzeugt, dass ihnen mein Vertrauen viel bedeutet.»
Es
war offensichtlich, dass sich unsere Auffassungen von Risiko wesentlich
voneinander unterschieden. Für ihn sind Risiken eine Sache der
Wahrscheinlichkeit: Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Kind zu Tode
stürzt? Google hat eine Antwort auf diese Frage parat, aber ich weiss,
dass wir die Zahl unterschiedlich betrachten würden.
Mike
lässt sich in seinen Entscheidungen ohnehin nicht von Statistiken
einschränken. Seine Philosophie trägt utopisch-libertäre Züge; er ist
ein Mann, der sich in erster Linie von seiner Theorie lenken lässt. Für
ihn sind solche Ereignisse mit geringer Wahrscheinlichkeit
vernachlässigbar; für mich sind es Tragödien, die jemanden treffen.
Für
mich kommt Spielen auf dem Dach mehr der Teilnahme an einer Lotterie
gleich, in der, wenn die Kinder von uns allen auf dem Dach spielen, das
Kind von jemandem das Erwachsenenalter nicht erreichen wird – und an
dieser Lotterie will ich nicht teilnehmen. Die eigentliche Frage ist:
Glauben Sie, dass das Kind, das hinunterfällt, Ihres sein könnte?
Macht über die Erwachsenen
Ich
beschloss, mir das Dach anzuschauen. Ich suchte Kieran, und wir
kletterten durch den Estrich hinaus. In den ersten Sekunden versuchte
ich die Überlebenschancen nach einem Sturz abzuschätzen, aber dann nahm
das berauschende Gefühl, auf die Welt hinabzublicken, überhand.
Ich
kam mir vor wie auf einer Kinderbuch-Turmspitze: Unter mir breitete
sich ein mit Häusern, Gärten und Strassen gemusterter Quilt aus, Wiesen
und Swimmingpools bildeten grüne und hellblaue Punkte – das Quartier sah
aus wie auf den Plänen auf Mikes Garageneinfahrt.
Ich
sah den Spiel-Fluss, den Brunnen, die Mosaiken und auf der Strasse die
Kinder beim Fussball, wie sie ihren Platz vor den Autos verteidigten.
Ich nahm die Lebendigkeit in den Körpern der Buben wahr: die
berauschende Macht über die Welt der Erwachsenen, die ihnen für kurze
Zeit ausweichen müssen.
Nota. - Die älteren meiner Leser haben noch die "antiautoritäre Erziehung" der 60er, 70er Jahre kennen- gelernt; und an die Abenteuerspielplätze, die aus Dänermark zu uns gekommen sind, erinnern Sie sich auch noch?
Damals kam niemand auf den Gedanken - jedenfalls äußerte ihn keiner mehr -, dass "Erziehung", wenn sie denn sein musste, einen andern Zweck haben könnte als Kinder in die Lage zu setzen, ihr Leben selber zu meistern. Emanzipation nannte man das damals pathetisch, aber jedenfalls verstand jeder: Kinder so zu modellieren, dass sie in ein Förmchen passen, ist kein vertretbarer Zweck.
*
Es ist an der Zeit, die Dinge wieder bei ihrem Namen zu nennen. Es darf den selbstherrlichen Technokra- ten, die sich als Bildungsexperten aufspielen, nicht länger erlaubt werden, sich als die Herolde irgend eines Fortschritts auszugeben. Sie sind die Vorhut der allerborniertesten, allerschwärzesten und allerzynischsten Reaktion. Fortschritt gibt es immer nur in eine Richtung: Ausweitung der Mächtigkeit eines jeden über seine eigene Lebensführung. Das Einpassen in zugedachte Rollen ist ein Rückfall weit ins vergangene Jahr- tausend.
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