Donnerstag, 15. Dezember 2016

Standardisieren und verblöden.

aus Der Standard, Wien, 13. Dezember 2016, 16:01

"Es gibt zu viel Anpassung"
Schuld daran, dass Junge kritisches Denken verlernen, seien Pisa und Bologna, sagt die Bildungsforscherin Ursula Frost
 
Interview

STANDARD: Von Ihnen stammt der Satz "Bildung ist Widerstand". Ist die heutige Jugend widerständig genug?

Frost: Das wird sich noch herausstellen. Zurzeit habe ich allerdings nicht den Eindruck, dass sich gemeinsame Protestbewegungen gegen ungerechte Strukturen und gesellschaftliche Ungleichheiten formieren, wie das in früheren Generationen üblich war. Im Gegenteil: Da scheint ein großes Bedürfnis vorhanden zu sein, unter den gegebenen Verhältnissen Erfolg zu haben.

STANDARD: Eine Generation "Gefällt mir", ehrgeizig, jedoch unreflektiert, beklagt Uni-Dozentin Christiane Florin. Jugendkulturforscher Bernhard Heinzlmaier spricht sogar von einer "absoluten Verblödung" der Jugend. Angemessen?

Frost: Das gilt sicher nicht für alle – mit meinen Studierenden mache ich auch gegenteilige Erfahrungen. Aber in der Tendenz trifft es leider zu. Es herrscht das "User-Prinzip": die mehr oder weniger kompetente Bedienung vorgegebener Systeme. Arbeit, Bildung und Freizeit sind danach eine ununterbrochene, ständig zu steigernde Performance. Die Grundlagen kritisch zu hinterfragen würde die Performance stören. Verblödung liegt meines Erachtens schon dort vor, wo man sich unhinterfragt in Systeme einfügt, erst recht aber dort, wo die Systeme Nachdenklichkeit oder Widerständigkeit verhindern.

STANDARD: Viele empfinden es vielleicht auch als Erleichterung, in einer globalisierten, digitalisierten Welt unzähliger Möglichkeiten klare Ziele vorgegeben zu bekommen? Als Orientierung?

Frost: Klar, sich einem vorgegebenen, vermeintlich sicheren System anzuvertrauen ist der einfache Weg. Der schwierige, anstrengende, aber auch der einzig richtige ist, Ziele und Werte immer wieder zu reflektieren. Dazu gehört, sich mit eigenen Erfahrungen auseinanderzusetzen – und immer wieder neu zu überlegen, was "gutes Leben" eigentlich für einen bedeutet. Das verpassen junge Menschen, wenn sie sich bloß anpassen.

STANDARD: Ist es auch Existenzangst, die zur Anpassung führt? Die Generationen Y und Z sind jene der Wirtschaftskrise. Viele ihrer Vertreter fürchten um ihre Zukunft, zeigen Umfragen.

Frost: Sicher auch. Und mit wirtschaftlicher Bedrohung umzugehen muss gerade für diese Generationen umso schwieriger sein, weil sie nicht gelernt haben, mit Mangel umzugehen. Allerdings gibt es bereits auch gute Ansätze zu neuen Lebensformen wie Carsharing et cetera. Viele Junge wollen ganz anders leben, ganz anders arbeiten.

STANDARD: Also doch Keime des Widerstandes?

Frost: Zumindest in kleinen Ansätzen ist die junge Generation durchaus offen. Aber der Verzicht, um Ressourcen zu erhalten, ist noch nicht wirklich in der Gesellschaft angekommen. Es muss daher noch in viel größerem Stil über Alternativen nachgedacht werden – und da ist Anpassungsdenken natürlich fehl am Platz. Weil Anpassung ja immer bedeutet, sich auf das gegenwärtige System einzustellen und daran mitzuarbeiten. Anstatt zu fragen: Wäre nicht etwas ganz anderes nötig?

Ich sehe auch eine gewisse Lust zur Anpassung, eine Lust zu funktionieren. Sie macht das Denken in ethischen und politischen Alternativen immer unwahrscheinlicher. Und dass Anpassung noch gefördert wird, ist wiederum ein Fehler der älteren Generation. In Schule und Uni werden immer engere Lernschritte vorgegeben. Schüler und Studierende erfüllen zunehmend vorgegebene Aufgaben, anstatt sich kritisch mit den zugrunde liegenden Modellen auseinanderzusetzen.

STANDARD: Sie sprechen wie andere Wissenschafter immer wieder von einer "Ökonomisierung der Bildung". Was meinen Sie damit konkret?

Frost: Die Bildungslandschaft ist aktuell bestimmt von Pisa und Bologna: Humane und pädagogische Werte werden durch ökonomische ersetzt. Es geht nicht mehr um letztlich unberechenbare individuelle Bildungsprozesse – sondern um in Einzelteilen berechnetes verwertbares Humankapital. Menschen sollen wie beliebige Produkte nach standardisierten Verfahren hergestellt werden, in der Schule wie später in der Hochschule. Das halte ich für einen pädagogischen, politischen und wirtschaftlichen Kardinalfehler. Wenn seit Pisa und Bologna Kompetenzen wie in Warenkatalogen festgeschrieben und bestellt werden, lassen sie kaum Raum, wirklich ungekannte Potenziale zu entwickeln. Man muss den Mut aufbringen, das zu ändern.

STANDARD: Was schlagen Sie vor? Pisa und Bologna abschaffen?

Frost: Die Bildungspolitik sollte sich völlig neu orientieren. Ich plädiere dafür, zu einem Bildungsauftrag als Aufklärungsauftrag zurückzukehren. Dafür sind Experimente wichtig, das sagte schon Immanuel Kant. Die Pisa-Studien bieten keine Grundlage für neue Denk- und Lebensformen, sie basieren nicht einmal auf ernsthaft wissenschaftlicher Vergleichbarkeit. Aber sie bauen Wettbewerbsdruck auf, der letztlich ins Nichts führt. Und Bologna hat kein einziges seiner Ziele erreicht, sondern nur zu Unübersichtlichkeit und Verwirrung geführt. Deshalb muss man sich dringend auf neue Wege einlassen.

STANDARD: Wie reagieren die Lehrenden und Unis auf die Ökonomisierung? Es scheint, als würde ein Career-Center nach dem anderen eröffnen.

Frost: Obwohl viele Kollegen nicht einverstanden sind, gibt es auch hier zu viel Anpassung. Was die Career-Center betrifft: Sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Studium und Arbeitsmarkt ganz andere Systeme sind. Selbst bei noch so viel Anpassung kann es für die meisten Studierenden keine Arbeitsgarantie geben. Ist diese Verheißung also gar nicht erfüllbar, frage ich: Ist der Preis der Anpassung nicht zu hoch? Warum dann keine Bildung, die für die Menschen selbst etwas bedeutet?

STANDARD: Was macht diese Bildung aus?

Frost: Schüler sollten nicht nur für den Nachweis ihrer Kompetenzen getrimmt werden, sondern in Ruhe verschiedene Perspektiven auf die Welt und auf ihre eigenen Möglichkeiten entdecken können. Wichtig sind die konkreten persönlichen Beziehungen: Nur so können Achtung vor jedem Einzelnen, soziales Miteinander und Verantwortung für Sachfragen gelernt werden.

STANDARD: Braucht es im Unterricht mehr Debatten?

Frost: Unbedingt. Momentan ist Lernen Fakten aufgreifen, bearbeiten, abgeben. Selbst Kreativität ist verordnet. Bildung braucht Auseinandersetzung und den Blick auf Alternativen. Und dafür sind Debatten essenziell. Damit meine ich nicht ein Zerreden, sondern widerständiges Fragen und disziplinierte Argumentation. Die vermisse ich überall, auch in der Bildungspolitik.

STANDARD: Sie betonen auch den Faktor Zeit – Zeit zum Nachdenken.

Frost: Nur dadurch können eigene Gedanken überhaupt entstehen. Knappe Zeit hindert daran, den größeren Zusammenhängen von Dingen auf den Grund zu gehen.

STANDARD: Maschinen könnten Menschen künftig einiges an Arbeit abnehmen. Haben wir dann vielleicht mehr Zeit zum Nachdenken? Und könnte es nicht sein, dass gerade unkonventionelles Denken zur gefragtesten Fähigkeit wird?

Frost: Dass uns Maschinen diese Freiräume geben, halte ich für unwahrscheinlich. Schließlich verschlingen sie die gewonnene Zeit auch gleich wieder, indem sie uns permanent einfordern und ablenken – siehe Facebook und Co. Von dieser Seite wird es also nicht gehen – es braucht einen Wandel der Haltung. Anstatt in vorgegebene Systeme zu vertrauen, brauchen wir mehr Sensibilität für menschliche Lebensthemen. Wie beispielsweise die Fragen nach einem menschenwürdigen Leben in jedem Lebensalter auch unabhängig von Erfolg, Fragen der Armutsbekämpfung und der kulturellen Konflikte. Wenn Menschen hierzu wirklich neue Ideen finden sollen, muss in Bildungs- und Arbeitswelt mehr Ruhe, Nachdenklichkeit und Respekt Einzug halten. Permanente Leistungshysterie macht nicht nur müde, sondern auch blind für Lebensqualität. Für Gesellschaft und auch die Wirtschaft zahlt sich am Ende der Umweg über eigenwillige denkende Persönlichkeiten aus.

Ursula Frost (60) ist Professorin für Pädagogik an der Universität Köln. Zu ihren Schwerpunkten zählen Erziehungs- und Bildungstheorie sowie historisch-systematische Modellanalyse.


Nota. - Bislang sagte man immer nur: Der verblödet. Heute kommt die reflexive  Form hinzu: Die verblöden mich.
JE

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