Dienstag, 11. November 2014

Knaben müssen gewagt werden.

aus Die Presse, Wien, 11.11.2014 | 18:15 |                                             Knaben müssen gewagt werden. Joh. Fr. Herbart

„Alle Beteiligten handeln aus Angst“
Kinderarzt Herbert Renz-Polster erklärt, dass die heutige Erziehung nur wenig mit den Bedürfnissen der Kinder zu tun hat.
 
    

Die Presse: In Ihrem Buch geht es immer wieder um die Geschichte der Erziehung. Wann wären Sie selbst gern Kind gewesen?

Herbert Renz-Polster: Ich war gern in den 1960er- und 1970er-Jahren Kind. Da waren Bindung und Beziehung schon wichtig, gleichzeitig hatten wir viel Autonomie.
 
Und heute?
 
In Erziehung und Bildung geht es nicht um die Kinder, sondern um die Funktionen, die diese Kinder einmal einnehmen sollen. Dabei reden alle mit, die an diesen Funktionen Interesse haben. Wir haben so viel mit ihnen vor, dabei sehen wir nur nach vorn und haben den Blick nicht mehr auf den Kindern.
 
Sie schreiben, wenn das Kind seine Funktion brav erfüllt, wird es mit Status belohnt, „der sozialen Währung schlechthin“.
 
Eltern wollen für ihre Kinder eine erfolgreiche Laufbahn. Eigentlich sind wir alle in einen Systemprozess eingespannt, in dem die Eltern die führende Rolle übernehmen, weil Erfolg immer auch mit Aufstieg belohnt wird.
 
Kann man das den Eltern vorwerfen?
 
Nein, man kann es ihnen nicht vorwerfen. Aber was man feststellen kann, ist, dass eigentlich alle Beteiligten aus Angst handeln. Die Eltern wollen, dass ihre Kinder funktionieren, damit sie erfolgreich sind – auch, wenn sie selbst unter der Beschleunigung leiden. Oft sind sie getrieben von Sorgen und Ängsten, dass die Kinder nicht mithalten können, wenn sie sie nicht fit für die Zukunft machen. Die Frühpädagogik wiederholt Ansagen, die aus der Wirtschaft kommen. Daraus spricht auch Angst: dass es an Nachwuchs für den globalisierten Wettkampf fehlt.
 
Was fehlt den Kindern dadurch?
 
Man will sie zu Leistungsträgern der Zukunft machen. Aber die Forderungen gehen an den Kindern vorbei, letzten Endes erleiden sie dadurch Nachteile. Denn um im Leben zu bestehen, braucht es nicht nur Spezialisierungen, sondern ein festes Lebensfundament. Das Kind soll mit sich und anderen zurechtkommen, innerlich stark werden. Das sind unverhandelbare Grundeigenschaften, um im Leben zu bestehen. Je mehr wir die Kinder schon frühzeitig auf Bildung spezialisieren und ihnen abverlangen, umso mehr schmälern wir diese Lebensbasis.
 
Im Kindergarten steht ohnehin das spielerische Lernen im Zentrum. Was ist daran so schlimm?
 
Der Kernpunkt ist, dass kleine Kinder über die und in der funktionierenden Beziehungswelt lernen. Sie stellen auch Bedingungen: Nur, wenn sie sich emotional gesichert fühlen, können sie zu forschen beginnen. Die Beziehungswelt müsste deshalb Kernthema jeder Pädagogik sein. Die grundlegenden Kompetenzen müssen die Kinder dann selbst erfahren, die kann man nicht an sie herantragen. Kinder lernen eigentlich nur, indem sie sich selbst bewähren.
 
Und das fehlt?
 
Ja, darum geht es in der Frühpädagogik viel zu wenig. Die offiziellen Stellen kümmern sich um Dokumentationen der Entwicklung oder Portfolioarbeit, aber beim Personal macht man gern mal Kompromisse. Da sind viele Experten am Werk, aber auf die Kinder selbst wird nicht geschaut.
 
Interessant ist, dass Sie als Arzt wissenschaftlichen Studien zur kindlichen Entwicklung sehr kritisch gegenüberstehen.
 
Ja, in dem Bereich stehe ich „Experten“ und Studien absolut kritisch gegenüber. Bis heute gibt es keine einzige Meinung in Sachen Bildung und Erziehung, die nicht „wissenschaftlich“ abgesichert wurde – und sei sie noch so abwegig. So hieß es früher, Säuglinge hätten gar kein Bedürfnis nach Nähe. Die Forschung an Ratten im Labor ist schon nicht einfach, aber Wissenschaft an frei lebenden Kindern ist extrem schwierig.

Herbert Renz-Polsterist ein deutscher Kinderarzt. Jüngst ist sein Buch „Die Kindheit ist unantastbar“ bei Beltz erschienen. [ Beltz ]

Nota. - Das sind alles uralte Wahrheiten. Dass man sie ständig wiederholt, nützt gar nichts. Doch wenn man es nicht tut, wird's noch schlimmer.
JE


Foto: Lothar Sauer

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