Montag, 24. November 2014

Die Reform der Schule muss bei den Lehrern anfangen.

aus Der Standard, Wien, 24. 11. 2014

"Die Lehrer spielen sich als Richter auf"
Christine Eichel über vergiftetes Schulklima, bindungsfähige Lehrer und Unterricht à la "Friss, Vogel, oder stirb"

INTERVIEW | 
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Eichel: Bindung und Bildung gehören zusammen, das ist in der Forschung unstrittig. Mit einem solidarischen, unterstützenden Gegenüber lernen wir motivierter, leichter und nachhaltiger. Hat ein Schüler Probleme, oft unverschuldet, weil er aus einem bildungsfernen Elternhaus stammt, wird er vom Lehrer aber meist abgelehnt. So gerät der Schüler in eine negative Schleife, wird verhaltensauffällig, die Konflikte schaukeln sich hoch. Die Lehrer spielen sich als Richter über gute und schlechte Leistungen auf. Vielen ist es egal, ob ihre Schüler erfolgreich sind. Das spüren die Kinder und Jugendlichen. Geraten sie aber an einen Lehrer, der ihnen signalisiert, dass ihr Erfolg ihnen am Herzen liegt, entsteht eine fruchtbare Lernbeziehung. Ein Umdenken ist erforderlich, und das ist ein langer Prozess, der von der Öffentlichkeit intensiv begleitet werden muss. Von selbst nehmen nur wenige Lehrer die Notwendigkeit dieses Rollenwechsels ernst. Die meisten meinen noch, es reiche aus, mit den immergleichen kopierten Aufgabenzetteln in die Klasse zu marschieren, nach dem Motto: "Friss, Vogel, oder stirb".
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STANDARD: Was meinen Sie mit "Bindung"? Sind Sie sicher, dass sich Lehrer "binden" wollen?
Eichel: Viele Lehrer halten das für eine Zumutung, habe ich bei meinen Lesereisen erfahren. Sie fühlen sich schlicht überfordert. Wenn ich erzähle, wie an der ehemals chaotischen, gewaltgebeutelten Rütli-Schule in Berlin das Ethos einer Beziehungskultur gelebt wird, sind sie baff. Diese Schule hat sich eklatant zum Positiven verändert, seit die Lehrer sich als Bindungspersonen verstehen, sie besuchen jeden Schüler vor dem neuen Schuljahr zu Hause, sprechen mit den Eltern, machen sich ein Bild vom Umfeld. Die Lehrer veranstalten Elternfrühstücke und vieles mehr, was eine gemeinsame Zusammenarbeit begünstigt. Alle machen mit - auch Eltern aus bildungsfernen Schichten und mit Migrationshintergrund. Und die Lehrer versichern, dass sich die Mehrarbeit lohnt, weil sie zeit- und kräftezehrende Konflikte im Klassenzimmer verhindert. Leider ist dieses Beispiel nicht repräsentativ. Die Unwissenheit über die Relevanz eines bindungsorientierten Unterrichts ist ein Skandal.
STANDARD: Wie können Lehrerinnen und Lehrer "so etwas wie Beziehungskultur" in der Schule herstellen, wenn sie alleine in einer Klasse stehen?
Eichel: Das Missverständnis beginnt schon damit, dass viele Lehrer meinen, sie ständen einer Gruppe gegenüber. Sie sind Teil der Gruppe, natürlich mit einer spezifischen Rolle und Funktion. Das Stichwort ist Classroom-Management. Probleme wie Renitenzen und Provokationen müssen souverän gemanagt werden, indem der Lehrer dem betreffenden Schüler Aufmerksamkeit schenkt, zum Beispiel in einem Einzelgespräch. Das alte Denken, ein Lehrer müsse seine Schüler wie ein Dompteur seine Raubtiere im Griff haben, ist überholt. Jeder Mensch will geliebt und anerkannt werden. Das klingt simpel, vielleicht sogar sentimental, ist aber die Wahrheit. Wenn ein Lehrer ausstrahlt, dass er sich als Teil der Gruppe fühlt, dass ihm jeder am Herzen liegt und dass er auch als Mensch an seinen Schülern interessiert ist, erledigen sich viele Probleme.
STANDARD: Sie verlangen eine "Erneuerung von innen, nicht eine Reform von außen". Wie geht das?
Eichel: Lernforscher und renommierte Pädagogen wie John Hattie sind sich einig, dass die Lehrerpersönlichkeit eine zentrale Rolle für den Bildungserfolg der Schüler spielt. Es geht um Haltung. Die kann man nicht per Reform erzwingen. Zunächst sollten Lehrer bei sich selbst anfangen, denn alle Studien belegen, dass es ihnen nicht gutgeht - angesichts von Spitzenquoten bei Burnout, körperlichen und psychischen Erkrankungen. Sie fühlen sich überfordert und angefeindet. Und nicht nur das Klassenzimmer, auch das Lehrerzimmer ist oft vermintes Terrain. Ein kooperatives Klima unter den Lehrern wäre deshalb ein Anfang (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 24.11.2014)
Christine Eichel (55) promovierte an der Uni Hamburg in Philosophie mit einer Arbeit über Theodor W. Adorno, danach 15 Jahre Autorin, Regisseurin und Moderatorin für diverse TV-Sender, Gründungsredakteurin und Leiterin des Kulturressorts des Magazins für politische Kultur "Cicero", später bei "Focus", nun freie Autorin in Berlin.


Nota. - Sehen Sie ins Gesicht des Lehrers (finden Sie auch, er sieht aus wie Janusz Korczak?): Es gefällt ihm, er hat Freude, ein Schüler hat ihm seinen Hampelmann mitgebracht, er dreht ihn um und lässt sich die Mechanik zeigen. Das sind die Sternstunden der 'pädagogischen Situation': wenn der eine den andern lehrt, mit seinen Augen zu sehen. Das ist gegenseitig, anders geht's auf die Dauer nicht.
JE

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