Dienstag, 27. Mai 2014

Neues aus der Pubertät.

aus Süddeutsche.de, 27. Mai 2014 07:26  

Baustelle im Kopf   
Sobald sie in die Pubertät kommen, machen viele Jugendliche bisweilen einen unzurechnungsfähigen Eindruck. Auch zwischen den Geschlechtern zeigen sich Unterschiede im Verhalten. Wissenschaftler haben nun eine überraschend einfache Erklärung gefunden.

Von Werner Bartens

Sie sind völlig neben der Spur, verstehen sich selbst und die Welt nicht mehr. Und von anderen fühlen sie sich sowieso nicht verstanden. Die Pubertät ist eine besonders irritierende Phase im Leben. Aus Sicht der Jugendlichen ist es die Zeit, in der die Eltern schwierig werden. Und die Eltern würden ihren Kindern in dieser Phase am liebsten ein Warnschild an die Stirn heften: Wegen Umbau geschlossen.


Wissenschaftler haben nun eine überraschend einfache Erklärung dafür gefunden, warum viele Jugendliche einen unzurechnungsfähigen Eindruck machen, sobald sie in die Pubertät kommen: Ihr Gehirn ist in dieser Zeit schlicht weniger durchblutet.

Dieser Befund trifft auf beide Geschlechter zu. Ärzte der University of Pennsylvania zeigen im Fachblatt PNAS (online) vom heutigen Dienstag allerdings, dass sich die Durchblutung des Gehirns bei Jungen und Mädchen erheblich unterscheidet.

Der Blutfluss nimmt mit dem Ende des Grundschulalters kontinuierlich ab, bei Jungen werden aber in den Folgejahren besonders jene Hirnareale weniger versorgt, in denen Gefühle verarbeitet werden und die für angemessenes soziales Verhalten wichtig sind. Dazu gehören die Inselregion und der orbito-frontale Cortex.

"Alle Eltern wissen, dass Jungen und Mädchen auf unterschiedliche Weise erwachsen werden", sagt der Psychiater Theodore Satterthwaite, der die Studie geleitet hat. "Unsere Ergebnisse zeigen, wann die Unterschiede im Gehirn beginnen, und vielleicht können wir daraus ableiten, welche Entwicklungsschritte in welchem Alter typisch sind."

Erklären die neuen Befunde die Sozialkompetenz der Frauen?

Das Ärzteteam hatte die Gehirne von 922 jungen Menschen zwischen acht und 22 Jahren mithilfe einer speziellen Kernspintechnik untersucht und dabei festgestellt, dass zwar ab dem Alter von etwa zehn Jahren die Hirndurchblutung bei Mädchen wie Jungen abnimmt. In der Mitte der Pubertät manifestieren sich jedoch die Unterschiede zwischen den Geschlechtern.

Bei den Mädchen steigt die Blutversorgung mit etwa 16 Jahren wieder an, während sie bei Jungen anschließend noch weiter absinkt. "Wir wissen, dass auch bei Erwachsenen das Gehirn von Frauen besser durchblutet ist als das der Männer", sagt Satterthwaite. "Jetzt haben wir beobachtet, wann sich die Unterschiede erstmalig zeigen."

Die Forscher konnten allerdings nicht der Spekulation widerstehen, die zumeist besseren sozialen Fähigkeiten der Frauen auf die stärkere Durchblutung ihres Gehirns zurückzuführen. Zwar seien sie in diesem Bereich den Männern zumeist überlegen, dafür könnte die intensivere Durchblutung aber das Risiko für Depression, Schizophrenie und Angststörungen erhöhen, vermuten die Neuroforscher um Satterthwaite.

Nie ist die Differenz zwischen Wissen und Fühlen größer

Immer wieder haben Wissenschaftler untersucht, was sich im jugendlichen Gehirn abspielt und welche spezifischen Veränderungen bei Jungen und Mädchen in dieser Zeit vor sich gehen. Der Verhaltensforscher Stephen Suomi vom Nationalen Institut für Kindergesundheit der USA hat gezeigt, dass ein gestörter Serotonin-Stoffwechsel junge männliche Rhesusaffen anfällig für auffällig-aggressives Verhalten macht.

Kann weniger von dem Überträgerstoff im Gehirn gebunden werden, eskaliert das normale Spiel der Tiere schnell zum Kampf. Die aggressiven männlichen Jungaffen sprechen in Versuchen zudem deutlich stärker dem Alkohol zu. "Diese streitsüchtigen Tiere haben angefangen zu trinken, bis sie umfielen", sagt Suomi. "Von der Horde werden sie gemobbt, andere Mütter sehen sie als Bedrohung ihres Nachwuchses an."

Soziale Fähigkeiten entwickeln diese isolierten Affen nicht, und damit sind sie manchen Jungmännern durchaus ähnlich. Sie bringen nicht nur andere, sondern auch sich in Gefahr. "Etwa die Hälfte dieser Affen überlebt diese gefährliche Zeit nicht", sagt Suomi. Zwar werden viele prägende Erfahrungen in der frühesten Kindheit vermittelt, in der Jugend sind jedoch nicht nur junge Affen, sondern auch junge Männer besonders verletzlich.

"Der größte Unterschied zwischen intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten besteht im Alter zwischen 14 und 19 Jahren", sagt der Psychologe Nick Allen von der Universität Melbourne. "Das zeigt auch die Gehirnentwicklung." Die seelische Reifung kommt bei männlichen Jugendlichen selten mit der körperlichen Entwicklung mit. In keiner Phase des Lebens ist die Differenz zwischen Können und Wollen, Wissen und Fühlen größer.

Trotz vieler beeindruckender Befunde ist es dennoch weiterhin eine Illusion, dass man mit Aufnahmen vom Gehirn das Rätsel der psychischen Instabilität während der Pubertät ergründen könnte. Mit Ausnahme der neu beobachteten Unterschiede in der Durchblutung zeigen die Form und Struktur des Gehirns kaum Differenzen zwischen den Geschlechtern. "Man kann in diesen Bildern ja nicht mal das Gehirn eines Mädchens von dem eines Jungen unterscheiden", sagt Jay Giedd von den Nationalen Gesundheitsinstituten der USA.


aus scinexx

Das Gehirn von Frauen ist stärker durchblutet  
Unterschiede im Blutfluss beginnen bereits in der Pubertät

Klarer Unterschied im Kopf von Männern und Frauen: Das Gehirn von Frauen ist stärker durchblutet als das von Männern – und dies beginnt schon in der Pubertät. Das haben US-Forscher jetzt in einer Studie festgestellt. Während bei Jungen die Durchblutung in dieser Reifungsphase nachlässt, steigt sie bei Mädchen an und bleibt dann ihr Leben lang höher. Besonders große Differenzen gibt es dabei in den Hirnzentren, die für soziales Verhalten und emotionale Kontrolle zuständig sind, so die Forscher im Fachmagazin "Proceedings of the National Academy of Sciences".
 
Abnahme des Blutflusses in verschiedenen Regionen des Gehirns in der frühen Pubertät.

Die Pubertät ist eine Zeit des Umbruchs: Der Körper verändert sich, Geschlechtsmerkmale bilden sich aus, die Hormone pegeln sich neu ein. Aus Kindern werden Männer und Frauen. Dass sich in dieser Zeit auch im Gehirn einiges verändert, ist schon länger bekannt. Denn auch im Denkorgan gibt es geschlechtsspezifische Merkmale. Und noch etwas unterschiedet sich zwischen Männern und Frauen im Erwachsenenalter: die Durchblutung des Gehirns.

Weichenstellung in der Pubertät

"Wir wissen, dass bei erwachsenen Frauen das Gehirn stärker durchblutet ist als bei Männern, aber bisher war nicht klar, wann diese Unterschiede beginnen", erklärt Theodore Satterthwaite von der University of Pennsylvania. Der Verdacht lag allerdings nahe, dass sich auch dieser geschlechtsspezifische Unterschied in der Pubertät ausbildet. Um das zu überprüfen, untersuchten die Forscher die Hirndurchblutung von 922 Jugendlichen im Alter von acht bis 22 Jahren mit Hilfe der MRT-Perfusionsbildgebung. Bei diesem Verfahren wird der arterielle Blutfluss mit Hilfe der Magnetresonanztomografie verfolgt und gemessen.

Das Ergebnis: Im Verlauf der Kindheit und frühen Pubertät nimmt bei beiden Geschlechtern die Hirndurchblutung ab. Doch dann endet diese Gemeinsamkeit: Ab 16 Jahren beginnt bei jungen Frauen, der Blutfluss zum Gehirn wieder anzusteigen. Bei jungen Männern dagegen sinkt er weiter ab. Am Ende der Pubertät war das Gehirn der Frauen dadurch deutlich besser durchblutet als das ihrer männlichen Altersgenossen. "Diese Ergebnisse bestätigen, was alle Eltern wissen: Jungen und Mädchen wachsen unterschiedlich heran", sagt Satterthwaite. Das gilt auch für das Gehirn und seine Durchblutung.

Klare Unterschiede in Arealen für Sozialverhalten und Emotionen

Die Auswertungen zeigten auch, dass die Durchblutung sich in einigen Gehirnbereichen besonders stark zwischen Frauen und Männern unterscheidet, darunter dem orbitofrontalen Cortex. Dieses Hirnareal spielt eine wichtige Rolle für das Sozialverhalten und die Regulation der Emotionen. Nach Ansicht der Forscher könnte dies erklären, warum Frauen in den meisten Tests der sozialen Intelligenz besser abschneiden als Männer. Umgekehrt aber könnte dies Frauen anfälliger für Depressionen und Angststörungen machen, Männer dagegen eher für Schizophrenie und emotionale Blockaden.

Das Wissen darum, dass die Unterschiede in der Durchblutung bereits in der Pubertät beginnen und in welchem Maße sie üblicherweise auftreten, könnte auch dabei helfen, psychische oder neurologische Störungen frühzeitig zu erkennen, so die Forscher. "Wir hoffen, dass solche Erkenntnisse es uns eines Tages erlauben werden, eine anormale Hirnentwicklung zu erkennen, bevor sie sich zu einer psychischen Erkrankung auswächst", so Satterthwaite. (Proceedings of the National Academy of Science (PNAS), 2014; doi: 10.1073/pnas.1400178111)

Montag, 12. Mai 2014

Offener Brief: Schluss mit PISA!


dave100

Die FAZ berichtete gestern, 11. 5. 2014, über einen Offenen Brief an den Leiter der PISA-Konsortien, der inzwischen von hunderten von Pädagogen und Wissenschaftlern in aller Welt unterzeichnet wurde.

Hier der Brief im Wortlaut:

Offener Brief an Andreas Schleicher, OECD, Paris


Sehr geehrter Herr Dr. Schleicher,

wir wenden uns an Sie in Ihrer Funktion als verantwortlicher Direktor der OECD für das 
„Programme of International Student Assessment“  (PISA). Im dreizehnten Jahr nach sei
ner Einführung ist PISA heute weltweit als Instrument bekannt, um Ranglisten von 
OECD­-Mitgliedsländern und Nicht­-OECD­-Staaten (mehr als 60 in der letzten Zählung) zu
erstellen und zwar aufgrund der Bewertung von Testleistungen von 15­jährigen Schüle-
rinnen und Schülern in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen. Die PISA-­Ergebnis-
se werden regelmäßig von Regierungen, Bildungsministern sowie den Herausgebern 
von Tageszeitungen ängstlich erwartet und werden in zahllosen politischen Dokumen-
ten als unhinterfragbare Autorität zitiert. PISA hat die Bildungspraxis in vielen Ländern 
inzwischen tiefgreifend beeinflusst. Als Folge der PISA­Tests reformieren Staaten ihre 
Bildungssysteme in der Hoffnung, ihr Abschneiden im PISA­Ranking zu verbessern. In 
vielen Ländern führte der mangelnde Fortschritt bei den PISA­Tests dazu, eine „ Bil-
dungskatastrophe“  oder einen „ PISA­-Schock“  auszurufen, gefolgt von Rücktrittsforde-
rungen und weitreichenden Reformen gemäß PISA-­Maßstäben.

Wir sind offen gestanden tief besorgt über die negativen Folgen der PISA­-Rankings. 

Nachfolgend einige unserer Bedenken:
­ 
Obwohl standardisierte Tests schon länger in vielen Ländern (trotz gravierender Vor-
behalte gegenüber deren Validität und Zuverlässigkeit) gebraucht werden, hat PISA 
zu einer Eskalation solcher Tests beigetragen und zu einem dramatischen Anstieg in 
Gebrauch und Bedeutung quantitativer Messungen geführt. So berief man sich bei
spielsweise in den USA jüngst auf PISA als maßgebliche Rechtfertigung für das „Race­
to ­the­ Top“-­Programm. Dieses Programm hat die Bedeutung standardisierter Tests in 
der Evaluation von Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern und Schullei-
tern weiter verstärkt. Mit solchen Tests wird die Arbeit von Schülern, Lehrern und 
Schulleitern aufgrund von Testergebnissen bewertet und klassifiziert, die weithin als 
ungenau bekannt sind. (vgl. etwa den unerklärten Abstieg Finnlands vom ersten Platz
der PISA-­Rangliste).
­ 
In der Bildungspolitik hat der dreijährige Testzyklus von PISA die Aufmerksamkeit auf
kurzfristige Maßnahmen verlagert in der Absicht, schnell im Ranking aufzuholen, ob
wohl die Forschung zeigt, dass nachhaltige Veränderungen in der Bildungspraxis 
nicht Jahre, sondern Jahrzehnte benötigen, um fruchtbar zu werden. So wissen wir 
zum Beispiel, dass der Status von Lehrern und das Ansehen des Lehrerberufs einen 
starken Einfluss auf die Unterrichtspraxis haben. Dieser Status ist aber von Kultur zu 
Kultur sehr verschieden und nicht leicht durch kurzfristige politische Maßnahmen ver-
änderbar.

­ 
Da PISA nur einen engen Ausschnitt messbarer Aspekte von Bildung betont, lenken 
die Tests die Aufmerksamkeit von den weniger messbaren oder nicht messbaren Bil-
dungs­ und Erziehungszielen wie z.B. der körperlichen, moralischen, staatsbürgerli-
chen und künstlerischen Entwicklung ab. Dadurch wird die öffentliche Vorstellung 
von dem, was Bildung ist und sein soll, in gefährlicher Weise verengt. 
­ 
Als Organisation für wirtschaftliche Entwicklung ist die OECD naturgemäß auf die 
ökonomische Rolle der öffentlichen Schulen fokussiert. Aber die Vorbereitung auf 
einträgliche Arbeit kann nicht das einzige, ja nicht einmal das Hauptziel öffentlicher 
Bildung und Erziehung sein. Unser Schulwesen muss Schülerinnen und Schüler auch 
auf die Mitwirkung an der demokratischen Selbstbestimmung, auf moralisches Han
deln und auf ein Leben in persönlicher Entwicklung, Reifung und Wohlbefinden vor
bereiten.
­ 
Im Gegensatz zu Organisationen der Vereinten Nationen (UN) wie UNESCO oder UN-
ICEF, die ein klares und legitimes Mandat im Bildungsbereich haben, verfügt die 
OECD nicht über ein solches Mandat. Auch gibt es derzeit keine Mechanismen, die 
eine wirkungsvolle demokratische Teilhabe an deren Entscheidungsprozessen zu Bil-
dungsfragen ermöglichen. 
­ 
Um PISA und eine große Zahl daran anschließender Maßnahmen durchzuführen, ist 
die OECD „ Public Private Partnerships“  und Allianzen mit multinationalen, profitori-
entierten Unternehmen eingegangen, die bereitstehen, um aus jedem von PISA iden-
tifizierten –  realen oder vermeintlichen –  Bildungsdefizit Profit zu schlagen. Einige 
dieser Firmen verdienen an den Bildungsdienstleistungen die sie für öffentliche Schu
len und Schulbezirke bereitstellen. Diese Firmen verfolgen u.a. auch Pläne, eine profi
torientierte Grundschulbildung in Afrika zu entwickeln, wo die OECD derzeit plant, 
PISA einzuführen. 
­ 
Schließlich und am wichtigsten: Das neue PISA­Regime mit seinen kontinuierlichen 
globalen Testzyklen schadet unseren Kindern und macht unsere Klassenzimmer bil-
dungsärmer durch gehäufte Anwendung von Multiple­Choice­Testbatterien, vorge-
fertigten (und von Privatfirmen konzipierten) Unterrichtsmodulen, während sich die 
Autonomie unserer Lehrer weiter verringert. Auf diese Weise hat PISA den ohnehin 
schon hohen Grad an Stress an unseren Schulen weiter erhöht und gefährdet das 
Wohlbefinden von Schülern und Lehrern.

Diese Entwicklungen stehen in offenem Widerspruch zu weithin anerkannten Prinzipi-
en guter Bildungspolitik und demokratischer Praxis: 
­ 
Keine tiefgreifende Reform sollte auf nur einem einzigen, beschränkten Qualitäts
maßstab beruhen. 
­ 
Keine tiefgreifende Reform sollte die wichtige Rolle von außerschulischen Faktoren 
ignorieren, wozu insbesondere die sozioökonomische Ungleichheit einer Gesellschaft 
gehört. In vielen Ländern hat die soziale Ungleichheit über die letzten 15 Jahre dra
matisch zugenommen, was die sich ausweitende Bildungskluft zwischen Reich und 
Arm erklärt. Diesem sozialpolitischen Problem kommen auch die ausgeklügeltsten Bil
dungsreformen nicht bei. 
­ 
Eine Organisation wie die OECD— wie jede Organisation, die das Leben unserer Ge-
sellschaften tiefgreifend beeinflusst— sollte von den Mitgliedern dieser Gesellschaften
demokratisch zur Rechenschaft gezogen werden können.

Doch wir schreiben nicht nur, um Mängel und Probleme aufzuzeigen. Wir möchten ebenso 
konstruktive Ideen und Vorschlägeanbieten, die dazu beitragen können, die oben angeführten 
Probleme zu verringern. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit nennen wir die folgenden:
­ 
Alternativen zu Ranglisten: Es sind aussagekräftigere und weniger sensationsheischende 
Wege für Bildungsvergleiche zu finden. Es macht zum Beispiel weder pädagogischen noch 
politischen Sinn, Entwicklungsländer, in denen 15Jährige regelmäßig zur Kinderarbeit ver-
pflichtet werden, mit Ländern der Ersten Welt zu vergleichen.Zudem setzt dies die OECD 
dem Vorwurf des Bildungskolonialismus aus; 
­ 
Partizipation aller relevanten Akteure: Bis jetzt haben Psychometriker, Statistiker und 
Ökonomen den größten Einfluss auf Testkonzeption und ­durchführung. Ihnen steht 
sicher ein Platz am Tisch zu. Dies gilt aber auch für Eltern, Pädagogen, Vertreter der 
Bildungsverwaltung, Studenten und Schüler ebenso wie für Wissenschaftler aus Diszi-
plinen wie der Anthropologie, Soziologie, Geschichte, Philosophie, Linguistik wie 
auch der Kunst und den Geisteswissenschaften. Woran und wie wir die Bildung von 
15­jährigen Schülern bemessen, sollte Gegenstand von Diskussionen sein, bei denen 
alle diese Gruppen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene einbezogen 
sind. 
­ 
Einbeziehung der vollen Bandbreite nationaler und internationaler Organisationen: 
Insbesondere Organisationen, deren Auftrag über den ökonomischen Aspekt öffentli-
cher Bildung hinausgeht und die sich mit Gesundheit, umfassender Entwicklung, 
Wohlbefinden und Glück der Schüler und Lehrer beschäftigen. Das würde sowohl die 
oben erwähnten Organisationen der Vereinten Nationen als auch –  um nur einige zu 
nennen –  Verbände von Lehrern, Eltern und Schulverwaltungen miteinschließen.
­ 
Kostentransparenz: Die direkten und indirekten Kosten der Durchführung von PISA 
sollten veröffentlicht werden, so dass die Steuerzahler der Mitgliedstaaten alternative
Verwendungen der Millionenausgaben für diese Tests erwägen und bestimmen kön-
nen, ob sie weiterhin an diesen Tests teilnehmen wollen.
­ 
Unabhängige Aufsicht und Überwachung: Unabhängige internationale Beobachter
teams sollten die Durchführung von PISA von der Konzeption bis zur Umsetzung 
überwachen, so dass häufig geäußerte Kritik bezüglich Testformat, Statistik­ und Aus
wertungsmethoden angemessen diskutiert werden kann und Vorwürfe von Einseitig-
keit und unfairen Vergleichen geprüft werden können. 
­ 
Rechenschaftslegung und Interessenkonflikte: Es sollte detailliert Rechenschaft über 
die Rolle privater, profitorientierter Unternehmen in der Vorbereitung, Ausführung 
und Nachfolge von PISA abgelegt werden, um scheinbare oder tatsächliche Interes-
senkonflikte zu vermeiden. 
­ 
Besinnungspause: Die OECD­Testmaschinerie sollte heruntergefahren werden. Um 
Zeit für die Diskussion der hier erwähnten Aspekte auf lokaler, nationaler und inter-
nationaler Ebene zu gewinnen, wäre es nützlich, den nächsten PISA-­Zyklus auszuset-
zen. Das würde Zeit verschaffen, um das Gelernte, das aus den vorgeschlagenen Über
legungen hervorgeht, zu verarbeiten.

Wir zweifeln nicht, dass die PISA­Experten der OECD den aufrichtigen Wunsch haben, 
Bildung zu verbessern. Aber wir können nicht verstehen, wie die OECD zum globalen 
Schiedsrichter über Mittel und Ziele von Bildung in der ganzen Welt werden konnte. 

Die enge Ausrichtung der OECD auf standardisierte Tests droht Lernen in Pedanterie zu 
verwandeln und Freude am Lernen zu beenden. Durch den von PISA stimulierten inter-
nationalen Wettlauf um Testergebnisse hat die OECD die Macht erhalten, weltweit Bil-
dungspolitik zu bestimmen, ohne jede Debatte über die Notwendigkeit oder Begrenzt-
heit der OECD­-Ziele. Durch das Messen einer großen Vielfalt von Bildungstraditionen 
und ­kulturen mit einem engen und einseitigen Maßstab kann am Ende unseren Schulen 
und unseren Schülern irreparabler Schaden zugefügt werden.

(Autorisierte Fassung von „Open Letter to Andreas Schleicher“; Übersetzung: Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.)

Heinz ­Dieter Meyer
Professor, State University of New York

Katie Zahedi, 
Schulleiterin, Linden Avenue Middle School, Red Hook, New York



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Freitag, 9. Mai 2014

Warum wir unsere Kindheit vergessen.

aus Der Standard, Wien, 10. 5. 2014

Neue Hirnzellen zerstören alte Erinnerungen
An das meiste, was wir in unserer frühen Kindheit erlebt haben, können wir uns nicht mehr erinnern - Forscher haben nun im Tierversuch einen Grund dafür eruiert

von Klaus Taschwer

Toronto/Wien - "Erinnerst du dich noch, was du am Muttertag vor einem Jahr gemacht hast?" Fragt man ein vierjähriges Kind nach Ereignissen vor einem Jahr, hat es meist noch lebhafte Erinnerungen daran. Zehn oder zwanzig Jahre später sind viele Erinnerungen an die ersten Lebensjahre hingegen schon weitgehend verschwunden.
 
Anfang 2014 haben US-Forscher um Patricia Bauer das Alter ermittelt, in dem der Vergessensprozess einsetzt. Nach Befragungen von 83 Kindern zwischen drei und neun Jahren stellte sich heraus: Das "verflixte" Jahr scheint das siebente zu sein. Acht- oder neunjährige Kinder haben einen Gutteil ihrer Erinnerungen an die früheste Kindheit verloren.
 
Doch wie ist es neurophysiologisch zu erklären, dass diese frühkindliche Erinnerung verblasst? Dieser Frage ist nun das kanadische Forscherpaar Sheena Josselyn und Paul Frankland (Hospital for Sick Children in Toronto) mit einigen Kollegen nachgegangen - und zwar nicht bei Kindern, sondern bei Nagetieren.
 
Dabei machten die Neurobiologen eine erstaunliche Entdeckung: Physische Bewegung und das Wachstum von neuen Hirnzellen im Hippocampus - jener seepferdchenförmigen Hirnregion, die bei der Gedächtnisbildung eine wichtige Rolle spielt - dürften dafür sorgen, dass frühe Erinnerungen verschwinden. Die beiden Forscher haben dafür eine ganze Reihe von Experimenten durchgeführt. Zunächst versetzten sie ganz jungen und erwachsenen Mäusen leichte Elektroschocks, wenn sie sich in einer bestimmten Umgebung aufhielten. Während die Jungmäuse den Zusammenhang nach einem Tag wieder vergessen hatten (weil sich in der frühen Lebensphase viele neue Neuronen bilden), hielt die Erinnerung bei erwachsenen Nagern einige Wochen an.
 
Doch damit gaben sich Josselyn und Frankland nicht zufrieden: Sie ließen die trainierten Mäuse im Laufrad rennen (was die Produktion von Hirnzellen anregt) und manipulierten Mäusehirne, um die Bildung von Neuronen zu stimulieren oder abzuschwächen. Dabei zeigte sich ein eindeutiger Zusammenhang: Je mehr neue Hirnzellen am Hippocampus dazukamen, desto schlechter erinnerten sich die Tiere, wie die Forscher in "Science" schreiben.
 
Um auf Nummer sicher zu gehen, wurden die Experimente auch mit jungen Meerschweinchen und Degus, einer südamerikanischen Nagetierart, erfolgreich wiederholt. Diese Ergebnisse seien nur auf den ersten Blick kontraintuitiv, sagt Josselyn. Sie seien theoretisch auch bereits vor zehn Jahren vorausgesagt worden.
 
"Mehr Neuronen erweitern zwar die Fähigkeit, sich zu erinnern", so die Forscherin. "Doch Erinnerung basiert auf Schaltkreisen. Wenn man da etwas Neues hinzufügt, können sie unterbrochen werden." Womöglich kommen bei Siebenjährigen besonders viele neue Neuronen dazu.


Donnerstag, 8. Mai 2014

Lehrer sind mit ihrer Arbeit zufrieden.

aus DiePresse.com


Lehrer jammern nicht über ihre Arbeit - sie sind zufriedener als Vergleichsgruppen, zeigt eine repräsentative deutsche Studie.
Die negativen Nachrichten über den Beruf des Lehrers überwiegen im Allgemeinen. Lehrer seien gestresst, heißt es, sie müssten immer mehr Erziehungsaufgaben übernehmen. Gleichzeitig würden sie von den Eltern unter Druck gesetzt, der Arbeitsplatz sei schlecht ausgestattet, der Lärmpegel belastend und die Öffentlichkeit würde an ihren Fähigkeiten zweifeln.

Insgesamt entsteht ein Bild des Lehrers, der mit seiner Arbeit unzufrieden ist. Doch das trügt, zeigt eine repräsentative Studie der Universität des Saarlandes. Demnach sind Lehrer sehr zufrieden mit ihrer Arbeit - sogar zufriedener als Vergleichsgruppen wie Erzieher oder Ärzte. "Querschnittlich war die Arbeitszufriedenheit in keiner Gruppe höher als bei den Lehrkräften; ihre berufliche Anerkennung differierte kaum von den Vergleichsgruppen", heißt es in der Studie.

Vergleich mit Ärzten und Erziehern

Die Forscher Johannes Schult, Manuela Münzer-Schrobildgen und Jörn Sparfeldt vom Fachbereich Bildungswissenschaften arbeiteten für ihre Studie "Belastet, aber hochzufrieden?" mit Daten des Sozio-oekonomischen Panels, der größten multidisziplinäre Langzeitstudie in Deutschland. Dafür werden bereits seit 1984 dieselben Personen und Familien befragt, aktuell sind es rund 25.000 zufällig ausgewählte Erwachsene. Zwischen 2006 und 2011 beantworteten sie Fragen zu Beruf und Arbeitsbelastung, im Jahr 2006 waren darunter 425 Lehrer.

Die Forscher verglichen die Antworten der Lehrer mit anderen Berufsgruppen: mit Erziehern, weil sie ebenfalls pädagogisch arbeiten, mit Pflegern, weil sie ähnlich viele soziale Kontakte haben. Außerdem wurden Ärzte einbezogen, weil sie gesellschaftlich eine ähnlich herausgehobene Stellung haben, Verwaltungsbedienstete, weil sie auch im öffentlichen Dienst arbeiten sowie Ingenieure als Kontrastgruppe.

Hoher Zeitdruck, mangelnde Anerkennung

Klagen gab es unter den befragten Lehrern vor allem über einen hohen Zeitdruck - gut 59 Prozent der befragten Lehrer empfinden das als Problem. Außerdem beklagte rund ein Drittel der befragten Lehrer die mangelnde Anerkennung - stärker litten darunter nur Verwaltungsbedienstete.

Die "vergleichsweise hohen Arbeitszufriedenheit" bleibt aber eine überraschende Erkenntnis. Warum andere Studien oft schlechtere Ergebnisse bringen? Die Forscher vermuten, dass diese oft nicht repräsentativ sind. Möglicherweise nähmen vor allem besonders gestresste Lehrer an Stress-Umfragen teil.

"Persönlich spannend finde ich, dass das ein positives Signal an die Studierenden ist", sagt der Forscher Johannes Schult, der Junglehrer unterrichtet, gegenüber DiePresse.com. In Zeiten des Lehrermangels ist das nicht unwesentlich.

Weiterführender Link: Zur Studie

(rovi)

Montag, 5. Mai 2014

Tiger-Mütter haben kurze Beine.

aus Die Presse, Wien, 06.05.2014

Soziologie
„Tiger Mother“ hat doch recht 
Die Kinder eingewanderter Asiaten lassen in US-Schulen die anderen hinter sich. Das liegt nicht an höherer kognitiver Leistungsfähigkeit, es liegt an der Arbeitsethik.


Als „Tiger Mother“ wurde sie 2011 mit einem Schlag bekannt, die US-Chinesin Amy Chua, bzw. wurde sie es mit zwei Schlägen: Erst publizierte sie im „Wall Street Journal“ „Why Chinese Mothers are Superior“, dann legte sie ein Buch nach, „Battle Hymn of the Tiger Mother“, darin legte sie ausführlicher dar, wie Chinesinnen aus ihren Kindern Mathematikcracks und Musikwunderkinder machen. Mit Dauerdruck: „Chinesische Eltern drillen ihre Kinder jeden Tag. Wenn das Kind keine perfekten Noten nach Hause bringt, hat es einfach nicht hart genug gearbeitet“, fasste Chua in einem Interview zusammen: „Westliche Eltern werden ihr Kind für eine Eins minus loben. Die chinesische Mutter wird nach Luft schnappen und fragen, was falschgelaufen ist.“

Das wurde heftig debattiert, aber Chua konnte ihren Erfolg vorzeigen: Ihre Tochter hatte es auf die Eliteuniversität Harvard geschafft. Ein ganz so überwältigendes Wunder war das allerdings nicht: Chua und ihr Mann sind Professoren in Yale, Chuas Vater lehrte in Berkeley, da fehlte es für die Karriere der Tochter an nichts. Ein viel größeres Mirakel ist da schon, dass neben Chuas Tochter auch Kinder eingewanderter Vietnamesen an die akademische Spitze drängen. Deren Eltern sind weder reich noch gebildet, im Gegenteil, sie sind ohne Geld und Kenntnis der englischen Sprache gekommen, oft als Boat People nach dem US-Fiasko in Vietnam.


„The Asian thing“

Wie geht das zu, haben die Asiaten es im Kopf, und was haben sie da? Die Vermutung einer intellektuellen Überlegenheit ist schon zum Klischee geronnen – „Frag doch den Inder!“ –, aber sie bestätigt sich in jedem PISA-Test: Singapur, China, Japan und Südkorea machen die Spitzenplätze untereinander aus. Das ist international nicht so leicht zu vergleichen – es geht um ganze Gesellschafts- und Erziehungssysteme –, aber auch dort, wo die Kulturen zusammenkommen, in den USA vor allem, zeigt sich das gleiche Bild: Auf den Schulen sind Asiaten anderen US-Bürgern überlegen, das Phänomen hat auch einen Namen, „The Asien thing“. Beim Eintritt in die Schule sind die Leistungen weißer und asiatischer US-Kinder gleich, ab der fünften Klasse setzen asiatische Kinder sich ab, in der zehnten ist der Unterschied auf dem Höhepunkt, das liest Soziologe Yu Xie, University of Michigan und Peking University, aus US-Langzeitstudien, in denen Lehrer die Leistungen ihrer Schüler bewerten (Pnas, 5. 5.).

Allerdings hat Yu noch einen zweiten Datensatz, den der kognitiven Leistungsfähigkeit. Und in dem unterscheiden sich weiße und asiatische Kinder nicht bzw. nur gering: Angeboren ist es also nicht, das „Asian thing“. Vom Sozioökonomischen kommt es auch nicht. Woher dann? Yu erwägt zwei Faktoren, der eine ist die Einwanderung selbst: Wer seine Heimat verlässt oder verlassen muss, hofft auf Besseres, zumindest für die Kinder, und tut dafür, was er kann. Aber das erklärt wenig: Min Zhou (Singapur) hat das „Asian thing“ auch in Armenvierteln von Los Angeles gefunden, dort leben Vietnamesen neben Latinos, Letzteren hat der Akt der Einwanderung keinen Leistungsschub gegeben. Asiaten schon, das zeigt sich auch in den intellektuellen Zentren der US-Westküste, in Silicon Valley etwa denken Asiaten vor (Rac Soc Probl 6, S. 38).

Und zwar die unterschiedlichsten, nicht nur die, deren Selbstdisziplin man auf Konfuzius zurückführen könnte – das ist ein klassischer Erklärungsversuch –, auch Einwanderer aus den Philippinen sind dabei, auf sie hatte Konfuzius keinerlei Einfluss. Was haben sie alle gemeinsam, gibt es irgendein Integral asiatischer Kulturen? Fragen in dieser Richtung waren in den USA eher verpönt, seit Daniel Moynihan 1965 den Report „The Negro Family“ veröffentlichte: Darin sah er die US-Schwarzen in einer „Kultur der Armut“ verfangen, einem „pathologischen Gewirr“, das sich selbst perpetuiere und seine Grundlage in schwachen Bindungen innerhalb der Familien habe.

Damit wollte die Mehrheit der US-Forscher nichts zu tun haben, sie setzten auf sozioökonomische Erklärungen. Aber die fassen das „Asian thing“ eben nicht, das wird doch eher von den Tigermüttern herangezogen, sie sorgen für die Disziplin und die Werte, die es im Verbund erlauben, aus gleicher Leistungsfähigkeit mehr Leistung herauszuholen: im Glauben, dass nichts angeboren ist, sondern alles erworben/erarbeitet werden kann. Und verbreitet wird er überall gleich, Zhou hat bei US-Vietnamesen Sätze notiert, die bei Chua stehen könnten: „A is for average, and B is Asian fail.“


„A is for Average, and B is Asian fail“

Natürlich sind es nicht nur die Mütter, es sind die engen Verbände, in den Familien wie über sie hinaus, asiatische Immigranten werden von Netzwerken empfangen, die beim Überwinden von Hürden helfen, sprachlichen, bürokratischen. Aber der Erfolg hat seinen Preis: Wer es schafft, ist dennoch weniger mit sich zufrieden als weiße Mitschüler. Und wer der asiatischen Arbeitsethik nicht folgen kann, gilt als Versager und sieht sich auch so. Und das alles ist nicht von Dauer, es wird eingeschmolzen im Tiegel der USA: Der Effekt zeigt sich nur in den ersten beiden Generationen nach der Einwanderung.

Freitag, 2. Mai 2014

Pädagogik handelt von allem; für jeden extra.

Oskar Laske (1874-1951), Narrenschiff; Ausschnitt

Noverre* forderte von einem guten Ballettmeister außer der Tanzkunst bloß noch Meß-, Ton- und Dichtkunst, Malerei und Anatomie. Hingegen über die Erziehung schreiben, heißt beinahe über alles auf einmal schreiben, da sie die Entwickelungen einer ganzen, obwohl verkleinerten Welt im kleinen eines Mikrokosmus des Mikrokosmus zu besorgen und zu bewachen hat. Alle Kräfte, womit die Völker arbeiten oder glänzen, waren früher als Keime unter der Hand des Erziehers dagewesen. Ginge man noch weiter, so begehrte jedes Jahrhundert, jedes Volk, zuletzt jeder Knabe und jedes Mädchen seine eigne Erziehlehre, Fibel, Hausfranzösin usw.

*) 1727-1810; Tänzer und Choreograph
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Jean Paul, Levana oder Erziehlehre, Vorrede 1. Aufl. 1806

Wahre Gewaltprävention.



Was früher überschüssige Kräfte hieß und Rauflust, ist heute Gewaltbereitschaft und Aggression. Was früher als eine ärgerliche und unvermeidliche Begleiterscheinung des Heranwachsens galt, ist heute Anzeichen des Werteverfalls und Indiz des kulturellen Niedergangs. Nichts, was sich auswächst, sondern etwas, das es sozialhygienisch zu therapieren gilt.
 
Sicher gab es früher nicht weniger Handgreiflichkeit als heute. Aber eines ist wahr: Die heute zu beobachtende Verrohung war in den fünfziger, sechziger Jahren unvorstellbar. Was hat sich geändert?
 
Der oftbeschworene Werteverfall hat bereits stattgefunden; damals.
 
In meiner Kindheit und Jugend standen Ehre und Anstand in Ansehen. Nicht etwa, dass wir diese Wörter in den Mund genommen hätten, das taten nur Streber, die sich den Erwachsenen anbiederten. Bei uns andern waren es Selbstverständlichkeiten, die erst dann benennbar werden, wenn sie fehlen. Die Selbstverständlichkeit, die nur per negationem aussprechbar war, hieß Ich bin doch nicht feige. Zu zweit, dritt oder noch mehren über einen einzelnen herfallen; auf einen einschlagen, der am Boden liegt; mit den Füßen treten, ja, einen schlagen der schon heulte und selbst obszöne Schimpfwörter grölen: das war feige. Was sich seither als Verrohung breit macht, ist nichts als zunehmende Feigheit.
 
Was hat die Zeitenwende im Übergang von den sechziger zu den siebziger Jahren damit zu tun? 

Damals setzte sich die Auffassung durch, Ehre und Anstand seien ein spezifischer Männerwahn und ein Mythos, der nur der Verklärung des Jahrtausende alten Patriarchats diente. Das volle Menschsein emanzipieren hieß: lernen, wie wir mit unseren Bedürfnissen umgehen: „Was bringt mir das?“ Wo das Bedürfnis erheischte, dem Kampfe auszuweichen, war es jetzt mutig, dem Hohn der andern zum Trotz  das Hasenpanier zu ergreifen. Feige sein konnte nun auch ein Gebot der Klugheit sein, o ja. Eine Schande ist es seither jedenfalls nicht mehr: Über die Folgen berichten Fernsehen und Zeitungen jeden Tag. Die einen prügeln feige, die andern sehen feige weg.
 
Die einzig ‚nachhaltige’ Gewaltprävention wäre unserer Tage: Ehre und Anstand wieder zur Geltung bringen und Feigheit wieder zu einer Schande machen. Oder allgemeiner gesagt: unsere gesamte Kultur vermännlichen.

•April 14, 2010