dave100
Die FAZ berichtete gestern, 11. 5. 2014, über einen Offenen Brief an den Leiter der PISA-Konsortien, der inzwischen von hunderten von Pädagogen und Wissenschaftlern in aller Welt unterzeichnet wurde.
Hier der Brief im Wortlaut:
Offener Brief an Andreas Schleicher, OECD, Paris
Sehr geehrter Herr Dr. Schleicher,
wir wenden uns an Sie in Ihrer Funktion als verantwortlicher Direktor der OECD für das
„Programme of International Student Assessment“
(PISA). Im dreizehnten Jahr nach sei
ner Einführung ist PISA heute weltweit als Instrument bekannt, um Ranglisten von
OECD-Mitgliedsländern und Nicht-OECD-Staaten (mehr als 60 in der letzten Zählung) zu
erstellen und zwar aufgrund der Bewertung von Testleistungen von 15jährigen Schüle-
rinnen und Schülern in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen. Die PISA-Ergebnis-
se werden regelmäßig von Regierungen, Bildungsministern sowie den Herausgebern
von Tageszeitungen ängstlich erwartet und werden in zahllosen politischen Dokumen-
ten als unhinterfragbare Autorität zitiert. PISA hat die Bildungspraxis in vielen Ländern
inzwischen tiefgreifend beeinflusst. Als Folge der PISATests reformieren Staaten ihre
Bildungssysteme in der Hoffnung, ihr Abschneiden im PISARanking zu verbessern. In
vielen Ländern führte der mangelnde Fortschritt bei den PISATests dazu, eine „
Bil-
dungskatastrophe“ oder einen „ PISA-Schock“
auszurufen, gefolgt von Rücktrittsforde-
rungen und weitreichenden Reformen gemäß PISA-Maßstäben.
Wir sind offen gestanden tief besorgt über die negativen Folgen der PISA-Rankings.
Nachfolgend einige unserer Bedenken:
Obwohl standardisierte Tests schon länger in vielen Ländern (trotz gravierender Vor-
behalte gegenüber deren Validität und Zuverlässigkeit) gebraucht werden, hat PISA
zu einer Eskalation solcher Tests beigetragen und zu einem dramatischen Anstieg in
Gebrauch und Bedeutung quantitativer Messungen geführt. So berief man sich bei
spielsweise in den USA jüngst auf PISA als maßgebliche Rechtfertigung für das „Race
to the Top“-Programm. Dieses Programm hat die Bedeutung standardisierter Tests in
der Evaluation von Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern und Schullei-
tern weiter verstärkt. Mit solchen Tests wird die Arbeit von Schülern, Lehrern und
Schulleitern aufgrund von Testergebnissen bewertet und klassifiziert, die weithin als
ungenau bekannt sind. (vgl. etwa den unerklärten Abstieg Finnlands vom ersten Platz
der PISA-Rangliste).
In der Bildungspolitik hat der dreijährige Testzyklus von PISA die Aufmerksamkeit auf
kurzfristige Maßnahmen verlagert in der Absicht, schnell im Ranking aufzuholen, ob
wohl die Forschung zeigt, dass nachhaltige Veränderungen in der Bildungspraxis
nicht Jahre, sondern Jahrzehnte benötigen, um fruchtbar zu werden. So wissen wir
zum Beispiel, dass der Status von Lehrern und das Ansehen des Lehrerberufs einen
starken Einfluss auf die Unterrichtspraxis haben. Dieser Status ist aber von Kultur zu
Kultur sehr verschieden und nicht leicht durch kurzfristige politische Maßnahmen ver-
Da PISA nur einen engen Ausschnitt messbarer Aspekte von Bildung betont, lenken
die Tests die Aufmerksamkeit von den weniger messbaren oder nicht messbaren Bil-
chen und künstlerischen Entwicklung ab. Dadurch wird die öffentliche Vorstellung
von dem, was Bildung ist und sein soll, in gefährlicher Weise verengt.
Als Organisation für wirtschaftliche Entwicklung ist die OECD naturgemäß auf die
ökonomische Rolle der öffentlichen Schulen fokussiert. Aber die Vorbereitung auf
einträgliche Arbeit kann nicht das einzige, ja nicht einmal das Hauptziel öffentlicher
Bildung und Erziehung sein. Unser Schulwesen muss Schülerinnen und Schüler auch
auf die Mitwirkung an der demokratischen Selbstbestimmung, auf moralisches Han
deln und auf ein Leben in persönlicher Entwicklung, Reifung und Wohlbefinden vor
bereiten.
Im Gegensatz zu Organisationen der Vereinten Nationen (UN) wie UNESCO oder UN-
ICEF, die ein klares und legitimes Mandat im Bildungsbereich haben, verfügt die
OECD nicht über ein solches Mandat. Auch gibt es derzeit keine Mechanismen, die
eine wirkungsvolle demokratische Teilhabe an deren Entscheidungsprozessen zu Bil-
dungsfragen ermöglichen.
Um PISA und eine große Zahl daran anschließender Maßnahmen durchzuführen, ist
die OECD „ Public Private Partnerships“
und Allianzen mit multinationalen, profitori-
entierten Unternehmen eingegangen, die bereitstehen, um aus jedem von PISA iden-
tifizierten –
realen oder vermeintlichen –
Bildungsdefizit Profit zu schlagen. Einige
dieser Firmen verdienen an den Bildungsdienstleistungen die sie für öffentliche Schu
len und Schulbezirke bereitstellen. Diese Firmen verfolgen u.a. auch Pläne, eine profi
torientierte Grundschulbildung in Afrika zu entwickeln, wo die OECD derzeit plant,
PISA einzuführen.
Schließlich und am wichtigsten: Das neue PISARegime mit seinen kontinuierlichen
globalen Testzyklen schadet unseren Kindern und macht unsere Klassenzimmer bil-
dungsärmer durch gehäufte Anwendung von MultipleChoiceTestbatterien, vorge-
fertigten (und von Privatfirmen konzipierten) Unterrichtsmodulen, während sich die
Autonomie unserer Lehrer weiter verringert. Auf diese Weise hat PISA den ohnehin
schon hohen Grad an Stress an unseren Schulen weiter erhöht und gefährdet das
Wohlbefinden von Schülern und Lehrern.
Diese Entwicklungen stehen in offenem Widerspruch zu weithin anerkannten Prinzipi-
en guter Bildungspolitik und demokratischer Praxis:
Keine tiefgreifende Reform sollte auf nur einem einzigen, beschränkten Qualitäts
maßstab beruhen.
Keine tiefgreifende Reform sollte die wichtige Rolle von außerschulischen Faktoren
ignorieren, wozu insbesondere die sozioökonomische Ungleichheit einer Gesellschaft
gehört. In vielen Ländern hat die soziale Ungleichheit über die letzten 15 Jahre dra
matisch zugenommen, was die sich ausweitende Bildungskluft zwischen Reich und
dungsreformen nicht bei.
Eine Organisation wie die OECD—
wie jede Organisation, die das Leben unserer Ge-
sellschaften tiefgreifend beeinflusst—
sollte von den Mitgliedern dieser Gesellschaften
demokratisch zur Rechenschaft gezogen werden können.
Doch wir schreiben nicht nur, um Mängel und Probleme aufzuzeigen. Wir möchten ebenso
konstruktive Ideen und Vorschlägeanbieten, die dazu beitragen können, die oben angeführten
Probleme zu verringern. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit nennen wir die folgenden:
Alternativen zu Ranglisten: Es sind aussagekräftigere und weniger sensationsheischende
Wege für Bildungsvergleiche zu finden. Es macht zum Beispiel weder pädagogischen noch
politischen Sinn, Entwicklungsländer, in denen 15Jährige regelmäßig zur Kinderarbeit ver-
pflichtet werden, mit Ländern der Ersten Welt zu vergleichen.Zudem setzt dies die OECD
pflichtet werden, mit Ländern der Ersten Welt zu vergleichen.Zudem setzt dies die OECD
dem Vorwurf des Bildungskolonialismus aus;
Partizipation aller relevanten Akteure: Bis jetzt haben Psychometriker, Statistiker und
Ökonomen den größten Einfluss auf Testkonzeption und durchführung. Ihnen steht
sicher ein Platz am Tisch zu. Dies gilt aber auch für Eltern, Pädagogen, Vertreter der
Bildungsverwaltung, Studenten und Schüler ebenso wie für Wissenschaftler aus Diszi-
plinen wie der Anthropologie, Soziologie, Geschichte, Philosophie, Linguistik wie
auch der Kunst und den Geisteswissenschaften. Woran und wie wir die Bildung von
15jährigen Schülern bemessen, sollte Gegenstand von Diskussionen sein, bei denen
alle diese Gruppen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene einbezogen
sind.
Einbeziehung der vollen Bandbreite nationaler und internationaler Organisationen:
Insbesondere Organisationen, deren Auftrag über den ökonomischen Aspekt öffentli-
cher Bildung hinausgeht und die sich mit Gesundheit, umfassender Entwicklung,
Wohlbefinden und Glück der Schüler und Lehrer beschäftigen. Das würde sowohl die
oben erwähnten Organisationen der Vereinten Nationen als auch –
um nur einige zu
nennen – Verbände von Lehrern, Eltern und Schulverwaltungen miteinschließen.
Kostentransparenz: Die direkten und indirekten Kosten der Durchführung von PISA
sollten veröffentlicht werden, so dass die Steuerzahler der Mitgliedstaaten alternative
Verwendungen der Millionenausgaben für diese Tests erwägen und bestimmen kön-
nen, ob sie weiterhin an diesen Tests teilnehmen wollen.
Unabhängige Aufsicht und Überwachung: Unabhängige internationale Beobachter
teams sollten die Durchführung von PISA von der Konzeption bis zur Umsetzung
überwachen, so dass häufig geäußerte Kritik bezüglich Testformat, Statistik und Aus
wertungsmethoden angemessen diskutiert werden kann und Vorwürfe von Einseitig-
keit und unfairen Vergleichen geprüft werden können.
Rechenschaftslegung und Interessenkonflikte: Es sollte detailliert Rechenschaft über
die Rolle privater, profitorientierter Unternehmen in der Vorbereitung, Ausführung
und Nachfolge von PISA abgelegt werden, um scheinbare oder tatsächliche Interes-
senkonflikte zu vermeiden.
Besinnungspause: Die OECDTestmaschinerie sollte heruntergefahren werden. Um
Zeit für die Diskussion der hier erwähnten Aspekte auf lokaler, nationaler und inter-
nationaler Ebene zu gewinnen, wäre es nützlich, den nächsten PISA-Zyklus auszuset-
zen. Das würde Zeit verschaffen, um das Gelernte, das aus den vorgeschlagenen Über
legungen hervorgeht, zu verarbeiten.
Wir zweifeln nicht, dass die PISAExperten der OECD den aufrichtigen Wunsch haben,
Bildung zu verbessern. Aber wir können nicht verstehen, wie die OECD zum globalen
Schiedsrichter über Mittel und Ziele von Bildung in der ganzen Welt werden konnte.
Die enge Ausrichtung der OECD auf standardisierte Tests droht Lernen in Pedanterie zu
verwandeln und Freude am Lernen zu beenden. Durch den von PISA stimulierten inter-
nationalen Wettlauf um Testergebnisse hat die OECD die Macht erhalten, weltweit Bil-
dungspolitik zu bestimmen, ohne jede Debatte über die Notwendigkeit oder Begrenzt-
heit der OECD-Ziele. Durch das Messen einer großen Vielfalt von Bildungstraditionen
und kulturen mit einem engen und einseitigen Maßstab kann am Ende unseren Schulen
und unseren Schülern irreparabler Schaden zugefügt werden.
(Autorisierte Fassung von „Open Letter to Andreas Schleicher“; Übersetzung: Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.)
Heinz Dieter Meyer
Professor, State University of New York
Katie Zahedi,
Schulleiterin, Linden Avenue Middle School, Red Hook, New York
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