Neue Hirnzellen zerstören alte Erinnerungen
An
das meiste, was wir in unserer frühen Kindheit erlebt haben, können wir
uns nicht mehr erinnern - Forscher haben nun im Tierversuch einen Grund
dafür eruiert
von Klaus Taschwer
Toronto/Wien - "Erinnerst du dich noch, was du am Muttertag vor einem Jahr gemacht hast?" Fragt man ein vierjähriges Kind nach Ereignissen vor einem Jahr, hat es meist noch lebhafte Erinnerungen daran. Zehn oder zwanzig Jahre später sind viele Erinnerungen an die ersten Lebensjahre hingegen schon weitgehend verschwunden.
Anfang 2014 haben US-Forscher um Patricia Bauer das Alter ermittelt, in dem der Vergessensprozess einsetzt. Nach Befragungen von 83 Kindern zwischen drei und neun Jahren stellte sich heraus: Das "verflixte" Jahr scheint das siebente zu sein. Acht- oder neunjährige Kinder haben einen Gutteil ihrer Erinnerungen an die früheste Kindheit verloren.
Doch wie ist es neurophysiologisch zu erklären, dass diese frühkindliche Erinnerung verblasst? Dieser Frage ist nun das kanadische Forscherpaar Sheena Josselyn und Paul Frankland (Hospital for Sick Children in Toronto) mit einigen Kollegen nachgegangen - und zwar nicht bei Kindern, sondern bei Nagetieren.
Dabei machten die Neurobiologen eine erstaunliche Entdeckung: Physische Bewegung und das Wachstum von neuen Hirnzellen im Hippocampus - jener seepferdchenförmigen Hirnregion, die bei der Gedächtnisbildung eine wichtige Rolle spielt - dürften dafür sorgen, dass frühe Erinnerungen verschwinden. Die beiden Forscher haben dafür eine ganze Reihe von Experimenten durchgeführt. Zunächst versetzten sie ganz jungen und erwachsenen Mäusen leichte Elektroschocks, wenn sie sich in einer bestimmten Umgebung aufhielten. Während die Jungmäuse den Zusammenhang nach einem Tag wieder vergessen hatten (weil sich in der frühen Lebensphase viele neue Neuronen bilden), hielt die Erinnerung bei erwachsenen Nagern einige Wochen an.
Doch damit gaben sich Josselyn und Frankland nicht zufrieden: Sie ließen die trainierten Mäuse im Laufrad rennen (was die Produktion von Hirnzellen anregt) und manipulierten Mäusehirne, um die Bildung von Neuronen zu stimulieren oder abzuschwächen. Dabei zeigte sich ein eindeutiger Zusammenhang: Je mehr neue Hirnzellen am Hippocampus dazukamen, desto schlechter erinnerten sich die Tiere, wie die Forscher in "Science" schreiben.
Um auf Nummer sicher zu gehen, wurden die Experimente auch mit jungen Meerschweinchen und Degus, einer südamerikanischen Nagetierart, erfolgreich wiederholt. Diese Ergebnisse seien nur auf den ersten Blick kontraintuitiv, sagt Josselyn. Sie seien theoretisch auch bereits vor zehn Jahren vorausgesagt worden.
"Mehr Neuronen erweitern zwar die Fähigkeit, sich zu erinnern", so die Forscherin. "Doch Erinnerung basiert auf Schaltkreisen. Wenn man da etwas Neues hinzufügt, können sie unterbrochen werden." Womöglich kommen bei Siebenjährigen besonders viele neue Neuronen dazu.
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