Donnerstag, 12. Dezember 2013

Begabung ist wieder im Kommen.

aus Der Standard, Wien, 13. 12. 2013

Unterschiedliche Schulerfolge sind eher genetisch bedingt
Britische Forscher werteten die Noten aus, die 11.000 Zwillinge ablieferten - Die Unterschiede legen nahe, dass es beim Schulerfolg mehr auf die Gene als auf die Umgebung ankommt

von Klaus Taschwer

London/Wien - Wie ist das nun mit den Begabungen in Mathematik, Sprachen oder Musik? Liegt es an der Erziehung, oder spielen nicht doch die Gene eine wichtigere Rolle? Diese Fragen sind naturgemäß schwer zu klären, da sowohl die genetische Ausstattung wie auch die Umgebung - also etwa die frühkindliche Erziehung, die Lehrer in der Schule - im Normalfall ziemlich einzigartig sind.

Die einzige Methode, solche Fragen zu untersuchen, sind Studien mit Zwillingen, konkret: Vergleichsuntersuchungen zwischen eineiigen und zweieiigen Zwillingen. Während die einen genetisch völlig identisch sind, teilen sich die anderen im Schnitt nur die Hälfte jener Gene, die bei anderen Menschen variieren. Gibt es innerhalb der genetisch identischen Zwillingspaare geringere Unterschiede als zwischen den nichtidentischen Zwillingen, spielen die Gene eine stärkere Rolle.
 
Britische Forscher um Nicholas Shakeshaft (King's College in London) haben die Noten von 11.000 eineiigen und zweieiigen Zwillingen ausgewertet, die diese mit 16 Jahren beim sogenannten General Certificate of Secondary Education (GCSE) erreichten. Das ist eine Art früher Matura, die eine Vorprüfung für die Hochschulzugangsberechtigung ist.
 
Die im Fachblatt "PLoS One" veröffentlichten Ergebnisse sprechen eine ziemlich eindeutige Sprache. Die Forscher fanden heraus, dass in Pflichtfächern wie Englisch, Mathematik und den Naturwissenschaften 58 Prozent der Unterschiede bei den GCSE-Noten durch genetische Differenzen erklärt werden können.
 
Erfolg bei Naturwissenschaften liegt eher in den Genen
 
Nur 29 Prozent der Unterschiede sind Folge der gemeinsam geteilten Umgebung wie Schulen, Nachbarschaft und Familie. Der Rest geht auf individuelle Erfahrungen zurück. Zudem zeigte sich, dass die Noten in den Naturwissenschaften, also Biologie. Chemie und Physik, eher "erblich" bedingt sind als jene in den Geisteswissenschaften (also in den Kunstfächern oder Musik).
 
Für den Erstautor Nicholas Shakeshaft belege die Studie, dass Kinder nun einmal unterschiedlich leicht in der Schule lernen und dass Schulerfolge etwas mehr auf "nature" denn auf "nurture" zurückgehen.
Nicht ganz so klar sind die bildungspolitischen Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind. Für Studienleiter Robert Plomin, einen Verhaltensgenetiker, ist freilich offensichtlich, dass die unterschiedlichen Talente der Schüler möglichst individuell gefördert werden müssten, um so größtmögliche Lernerfolge zu erzielen. 


Abstract
PLoS One: Strong Genetic Influence on a UK Nationwide Test of Educational Achievement at the End of Compulsory Education at Age 16 


Nota.

Das ist nur ein Schein, dass die verbreitete Abneigung gegen den Begabungsbegriff in den letzten 50 Jahren egalitär gedacht war und es gut mit dem Schüler gemeint hätte. Sie lag im Interesse der pädagogischen Zunft, die aus dem Mythos von der Allmacht der Erziehung einen sprudelnden Geldquell gemacht hat.
JE  

aus Die Presse, Wien, 12. 12. 2013

Requiem für den „Mozart-Effekt“
Klassische Musik fördert Intelligenz auch dann nicht, wenn sie aktiv ausgeübt wird. Und auch sonst steht das Gehirn eher unter der Macht der Gene.


Keine Komposition der Musikgeschichte hat derartigen Lärm ausgelöst wie Mozarts Sonate in D-Dur für zwei Klaviere, KV 448. 1998 veranlasste dieses Werk bzw. eine besondere Rezeption den Gouverneur des US-Bundesstaats Georgia, Zell Miller, per Gesetz jedem frisch geborenen Landeskind eine CD mit klassischer Musik zukommen zu lassen, Florida folgte mit einer Verordnung, derzufolge in staatlichen Kindergärten täglich eine Stunde klassische Weisen zu ertönen hätten.

All das kam von der Mozart-Rezeption der Psychologin Frances Rauscher (UC Irvine): Sie hatte bei Tests bemerkt, dass das bloße Hören einiger Sequenzen von KV 448 den IQ erhöht, vor 20 Jahren stand es in Nature (363, S. 611), die Medien gierten danach, ein Genie erfand den Namen „Mozart-Effekt“, ein noch größeres Genie ließ sich den Namen als Marke für allerlei Hirnförderndes schützen. Nur Rauschers Kollegen murrten, sie konnten den Befund nicht reproduzieren, 1999 gab Nature beiden Seiten Raum (400, S. 827): Kenneth Steele (Appalachian State University) trug den Effekt zu Grabe – und empfahl ein „Requiem für den Mozart-Effekt" –, aber Rauscher blieb dabei, selbst bei Ratten habe sie den Effekt bemerkt. Steele replizierte, dass das Gehör von Ratten erst in Frequenzen fein wird, in die die Musik des Meisters nicht hinaufdringt.

Zu einem abschlägigen Befund kam 2007 auch eine Expertenkommission der deutschen Regierung, sie ließ eine Möglichkeit offen: Das passive Hören von Musik bringe zwar nichts, aber vielleicht sei das aktive Erlernen eines Instruments hilfreich. Das ist auch die Hoffnung vieler Eltern, die ihre Kinder zum Musikunterricht schicken und dafür oft innerfamiliäre Misstöne hinnehmen. Aber auch damit ist es nichts, Samuel Mehr (Harvard) hat es gezeigt: Er hat auf dem Campus Eltern mit vierjährigen Kindern rekrutiert und sie in zwei Gruppen aufgeteilt, die eine erhielt Musikunterricht, die andere Malstunden.

Musik sagt etwas über den Menschen

Dann wurde nicht generell der IQ gemessen, sondern es wurden detailliert verschiedene Fähigkeiten getestet. Zwar zeigten sich Differenzen, aber die waren erstens minimal („keine statistische Signifikanz“) und zweitens hatte in manchen Bereichen die eine Gruppe das Gehirn vorn, in anderen die andere (PLoS One, 11. 12.). „Der ,Mozart-Effekt‘ ist nicht da“, schließt Mehr, und er bedauert es nicht, Musik habe schon ihren eigenen Wert: „Musik ist alt, und jede Kultur hat Musik. Musik sagt etwas darüber, was es heißt, Mensch zu sein. Wir wären verrückt, wenn wir das unsere Kinder nicht lehren würden.“

Wenn aber schon die Himmelsmacht nichts bewegt, kann es dann irgendein anderer Umwelteinfluss? In Großbritannien gibt es für alle 16-Jährigen eine Prüfung, natürlich sind auch Zwillinge dabei, eineiige und zweieiige, Erstere teilen hundert Prozent der Gene, Letztere im Schnitt die Hälfte. Wenn also Erstere anders abschneiden, dann hängt das an den Genen. Nicolas Shakeshaft (London) hat die Daten von 11.000 Zwillingen ausgewertet, er fand einen Unterschied: Fast 60 Prozent der Intelligenz hängen mit den Genen zusammen, zum Rest trug die Umwelt bei (PLoS One, 11. 12.). „Dabei geht es nicht um 60 Prozent der Intelligenz einer Person“, erläutert Shakeshaft, „sondern um 60 Prozent der Unterschiede zwischen Personen, in der Population, wie sie heute ist. Das heißt, dass die Erblichkeit nicht fixiert ist. Wenn sich die Umwelt ändert, mag sich auch der Einfluss der Gene ändern.“

Oder die Gene selbst ändern sich. Das vermutet man etwa bei den Ashkenasim, den Juden Mittel- und Osteuropas. Von den anderen Bewohnern der Region haben vier Promille einen IQ über 140, von den Ashkenasim sechs Mal so viel. Wie das? Ashkenasim haben auch gehäuft Mutationen – etwa an Genen für Lipide in Zellmembranen –, die den Körper krank machen, aber das Gehirn fördern. Darauf machte 2005 Henry Harpending (Utah) aufmerksam. Und warum setzten sich diese zwiespältigen Mutationen durch? Ashkenasim durften lange nur Berufe ausüben, die Rechenkunst erfordern, Handel und Geldverleih: „In diesen Berufen fördert ein erhöhter IQ den Erfolg, anders als bei der übrigen Bevölkerung, die vor allem aus Bauern bestand“, schloss Harpending.


aus scinexx

Mozart-Effekt als Mythos entlarvt
Früher Musik -Unterricht macht Kinder zwar nicht schlauer, ist aber trotzdem sinnvoll

Musik hat viele positive Effekte: Sie hilft gegen Stimmungstief, lindert Flugangst und soll sogar die Intelligenz verbessern helfen. Letzteres war bisher allerdings stark umstritten. US-Forscher haben daher erneut überprüft, ob eine frühe musikalische Ausbildung Kinder schlauer machen kann. Ihr Fazit: Der "Mozart-Effekt" ist leider ein Mythos. Dennoch habe Musik einen wichtigen Platz in der Erziehung, betonen die Forscher im Fachmagazin "PloS ONE".

Kinder, die früh ein Instrument lernen oder singen, profitieren davon auch Jahre später noch. Studien zeigen, dass das wiederholte Üben und sich Verbessern die Konzentration und Selbstdisziplin fördert, das Selbstbewusstsein stärkt und, wie erst kürzlich nachgewiesen, auch die spätere Sprachverarbeitung verbessern kann.

Im Jahr 1993 sorgten Forscher der University of California in Irvine für Aufsehen, als sie noch einen Vorteil musikalischer Früherziehung belegten: die Steigerung des Intelligenzquotienten. Ihrem Experiment nach reichte es sogar schon aus, zehn Minuten lang der Musik von Mozart zu lauschen, um dann einen um acht bis neun Punkte höheren IQ zu bekommen. Das Problem dabei: Obwohl dieser "Mozart-Effekt" noch Jahre später in der Öffentlichkeit herumgeisterte, ist er in der wissenschaftlichen Welt hoch umstritten.

Hartnäckiger Irrglaube

Es gelang nicht, diesen Effekt in Folgestudien nachzuvollziehen, auch wenn einige Forscher zumindest ín einigen Unterbereichen kognitiver Fähigkeiten wie dem räumlichen Vorstellungsvermögen, positive Effekte zu erkennen glaubten. Dennoch: "Mehr als 80 Prozent der erwachsenen US-Amerikaner glauben heute, dass Musik die Schulnoten und die Intelligenz ihrer Kinder verbessern kann", konstatiert Erstautor Samuel Mehr von der Harvard University in Cambridge. Aber Belege dafür, dass Musikunterricht generell die kognitive Entwicklung der Kinder verbessere, gebe es nach wie vor kaum.

Die Forscher fanden nur fünf Studien in der Literatur, die ihre Teilnehmer randomisiert - also zufällig - auf die Experimentgruppen verteilt hatten und die damit grundlegenden Kriterien der Forschung genügten. Von diesen zeigte nur eine einzige einen geringen positiven Effekt: Nach einem Jahr Musikschule war der IQ der Kinder um 2,7 Punkte gestiegen - kaum genug um statistisch signifikant zu sein, so die Wissenschaftler.

Musikunterricht versus Kunst oder gar nichts

Mehr und seine Kollegen haben daher nun noch einmal selbst zwei Studien zu diesem Thema durchgeführt. Für die erste rekrutierten sie 29 Eltern mit vier Jahre alten Kindern aus der Gegend um Cambridge in Neuengland. Die Vierjährigen absolvierten als erstes einen Test auf Wortschatz, mathematische Fähigkeiten und Lernverhalten. "Wenn es einen Effekt der Musik auf die Intelligenz der Kinder gibt, sollte er sich damit sensibler nachweisen lassen als mit einem allgemeinen IQ-Test", erklärt Mehr.

Eine Hälfte der Kinder nahm gemeinsam mit ihren Eltern an einem Programm zur musikalischen Frühförderung teil, die anderen erhielten stattdessen eine Förderung in bildender Kunst. Um einen Einfluss unterschiedlicher Lehrer auszuschließen, unterrichtete die gleiche Person beide Gruppen. An der zweiten Studie nahmen 45 Eltern mit ihren Kindern teil. In ihr erhielt eine Gruppe die musikalische Frühförderung, die andere dagegen keinen besonderen Unterricht.

Keine signifikanten Vorteile

Das Ergebnis: Ein Effekt auf die geistige Entwicklung der Kinder war nicht festzustellen, wie die Forscher berichten. In beiden Studien schnitten die Kinder aus der Musikgruppe nicht besser ab als die aus der jeweiligen Kontrollgruppe. "Es gab kleinere Unterschiede in der Leistung zwischen den Gruppen, aber keiner davon war groß genug, um statistisch signifikant zu sein", so Mehr. "Selbst wenn wir die feinsten Analysen anwendeten - der Effekt war einfach nicht da."

Für die Forscher ist damit klar: Eine musikalische Förderung von Kindern ist keine Abkürzung zu Intelligenz und schulischem Erfolg - und schon gar nicht Mittel zum Zweck. Das aber bedeute nicht, dass musikalische Früherziehung keinerlei Nutzen und positive Effekte hat, wie die Forscher betonen. Ganz im Gegenteil. Es gebe gute Gründe, Kinder so früh wie möglich mit Musik vertraut zu machen.

Musik sei schon von Beginn der Menschheit an ein einzigartiger, wichtiger Teil unserer Kultur und unseres Wesens. Es wäre daher geradezu verrückt, Kinder daran keinen Anteil haben zu lassen. "Alles spricht dafür, Musik zu unterrichten, aber das sollte nichts mit irgendwelchen erhofften späteren kognitiven Vorteilen zu tun haben", so Mehr.

(Harvard University, 13.12.2013 - NPO)
 

Samstag, 7. Dezember 2013

Lügen haben viele Beine.

aus NZZ, 2. 12. 2013              

Gelogen wird immer  
Annäherung an ein verpöntes Alltagsphänomen

von Claudia Wirz 

Alle Menschen lügen, Kinder wie Erwachsene. Manchmal ganz unbewusst und meistens nicht mit bösen Absichten. Doch obwohl es alle tun, hat die Lüge einen miserablen Ruf.

«Die Wahrheit ist das Kostbarste, was wir haben. Gehen wir sparsam damit um!» Diesen kühnen Ratschlag erteilte Samuel Langhorne Clemens, besser bekannt unter dem Namen Mark Twain. Der Schöpfer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn fand nicht nur als Autor von Jugendliteratur freche Lausbuben interessanter als brave Musterknaben, er war auch ein veritabler Anwalt der Lüge. In seinem bemerkenswerten Vortrag über die «Kunst des Lügens», deren Niedergang er beklagt, bezeichnet Twain die Lüge, diese zehnte Muse, als besten und verlässlichsten Freund des Menschen. Und da die Lüge zum Leben notwendig ist, erhebt er sie zur Tugend.

Eine soziale Kompetenz

Eine Tugend aber wolle von Generation zu Generation gepflegt und kultiviert sein, meint Twain, und deshalb sollte das Lügen seiner Meinung nach ein Schulfach sein; im pädagogischen Jargon des Lehrplans 21 womöglich gar eine «Kompetenz». Wer ob solcher Überlegung moralische Bedenken bekommt, sei beruhigt. «Es gibt», so rechnet Twain vor, «869 Arten zu lügen, aber nur eine davon ist direkt verboten: Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.»

Viele beherzte Parteigänger wird diese Lehre insbesondere in der Pädagogik nicht haben. Die Lüge hat generell einen schlechten Ruf. Sie gilt als verboten, als moralischer Sündenfall, und der Begriff «Lügner» ist keine charmante Bezeichnung für einen normalen Kerl, sondern ein ziemlich heftiges Schimpfwort. Dabei ist die Lüge im Alltagsleben allgegenwärtig. Alle Menschen sind Lügner, das wussten schon die Autoren der Bibel. Aber nicht jede Lüge wird mit böser oder schädlicher Absicht ausgesprochen. Ganz im Gegenteil: Die Lüge hat oft sogar etwas Wohltätiges, wenn sie dem Gegenüber etwa in Bezug auf die neue Frisur die unangenehme Wahrheit erspart. Sie ist ein sozialer Schmierstoff, ohne den eine friedliche zwischenmenschliche Kommunikation kaum möglich wäre.

Der amerikanische Psychologe und Lügenforscher Robert Feldman wollte in einem Experiment herausfinden, wie bewusst und wie häufig in einem alltäglichen Zufallsgespräch gelogen wird und was die Motive sind. Dazu bat er jeweils zwei Personen, die sich nicht kannten, sich in einem zehnminütigen Gespräch gegenseitig vorzustellen. Das Gespräch wurde aufgezeichnet und später zusammen mit den Versuchspersonen auf erzählte Unwahrheiten überprüft. Das Ergebnis: Im Durchschnitt belogen sich die Gesprächspartner gegenseitig knapp dreimal innerhalb von zehn Minuten. Oft waren diese Lügen unbewusst und offenbarten sich dem «Lügner» erst im Nachhinein in der filmischen Rückschau. Entsprechend waren die meisten Lügen eher harmloser Natur. Sie dienten in erster Linie als Kommunikationshilfe - um sich selber ins beste Licht zu rücken, Höflichkeiten auszutauschen oder um den anderen das hören zu lassen, was er vermeintlich hören will. Kleine Lügen also, die ihre Aussender in der Regel auch nicht wirklich bereuten. Aber auch die kleinen Lügen sind gemäss Feldman nicht ohne Tücken. Jede Lüge, meint er, nage an der Glaubwürdigkeit und könne neue generieren. Und das führe letztlich zu einer «Lügenkultur» im Alltag.

Wie jede soziale Interaktion muss natürlich auch der Umgang mit Lügen erlernt werden. Der Linguist Jörg Meibauer hat zusammen mit Bettina Kümmerling-Meibauer den Lügenerwerb des Kindes in Zusammenhang mit der Kinder- und Jugendliteratur untersucht. Wie die Autoren in einem 2011 erschienenen Fachaufsatz schreiben, besteht hier ein enger Zusammenhang. Denn Lügen sind ein wichtiges Thema in der Kinderliteratur - man denke nur an die Nase von Pinocchio. Da man kindlichen Adressaten aber sinnvollerweise nur Geschichten vorsetzen kann, die sie aufgrund ihrer sprachlichen und geistigen Entwicklung auch verstehen, stellt sich die Frage, ab wann sich das Sensorium für die Lüge und die moralische Urteilsfähigkeit ausbilden.

Die Lüge betrachten die Autoren als «Sprechakt der unaufrichtigen Behauptung». Um dieses Konzept verstehen und anwenden zu können, muss man sich in die Gefühls- und Gedankenwelt des anderen hineinversetzen können. Diese Fähigkeit erwerben Kinder im Alter von etwa vier Jahren, wie die Forschung zeigt. Beim Betrachten von Bilderbüchern entwickeln Kinder in diesem Alter auch ein erstes Interesse an lügenden Figuren und an moralischen Aspekten der Lüge.

Lust am Nonsense

Nach der Einschulung führen Figuren wie Pinocchio oder Pippi Langstrumpf auf eine nächste Lügenebene. Die Lüge wird im letzteren Fall auch als Freude am Nonsens dargestellt. Während kleinere Kinder die Lüge grundsätzlich als moralisch schlecht beurteilen, lernen ältere zu differenzieren. So wird in der Literatur für Kinder in den ersten Schuljahren laut den Forschern eine Würdigung verschiedener Lügenarten und -motive vorgenommen. Auf der nächsten Stufe werden die jugendlichen Leser und Leserinnen dann in komplexe Lügennetze verstrickt. Ein Paradebeispiel dafür ist «Emil und die Detektive». In solchen Jugendromanen rücken zunehmend lügende Erwachsene in den Fokus. 

Schwierig ist für Kinder - auch für ältere - die Unterscheidung von Lüge und Ironie.

Während die Erforschung des kindlichen Lügenerwerbs auf eine Tradition zurückblicken kann, weiss man laut den Autoren erst wenig über die Fähigkeiten von Kindern, Lügenerzählungen zu verstehen. In einer amerikanischen Studie mit Dritt- und Fünftklässlern von 1999 zeigte sich, dass viele Kinder Schwierigkeiten mit dem Verstehen moralischer Texte haben, was die Forscher nicht allein als Folge der Lesefähigkeiten, sondern auch der moralischen Urteilsfähigkeit betrachten.

Lügen ist indessen weder ein rein menschliches Verhalten noch ausschliesslich ein Sprechakt, sofern man die gezielte Täuschung zur Lüge zählt. «Wo das Gesetz von Fressen und Gefressenwerden regiert, sind Tarnung, Täuschung, Lug und Trug unverzichtbare Lebensmaximen», schreibt der deutsche Primatologe Volker Sommer. Gelogen wird in diesem Sinne im Tierreich allenthalben. Um ein Opfer zu fangen und zu fressen oder um Artgenossen von einem besonderen Leckerbissen wegzulocken. 

Besonders raffiniert ist das Repertoire der Täuschungen bei Primaten. Nicht einmal das Lügen kann der Mensch also für sich alleine beanspruchen.

Donnerstag, 5. Dezember 2013

Hausaufgaben sind Schul-Aufgaben.

 
Alexandra H.  / pixelio.de
Hausaufgaben am Wohnzimmertischinstitution logo


Sebastian Mense  
Kommunikation, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Universität Kassel 

25.11.2013 11:27

Hausaufgaben gehören als Schulaufgaben an ihren Entstehungsort zurück, nämlich in die Schule. Das ist das Fazit einer Studie der Kasseler Erziehungswissenschaftlerin Dr. Martina Nieswandt, die die Hausaufgabensituation in Migranten-Haushalten untersuchte. 

Begonnen hat alles mit einem erziehungswissenschaftliches Seminar zum Thema Hausaufgaben an Grundschulen. Martina Nieswandt stellte fest, dass es zum gegebenen Zeitpunkt fast ausschließlich quantitative Studien zu diesem Thema gab, welche die Effektivität von Hausaufgaben unter bestimmten Voraussetzungen betonten (z. B. qualitativ gute Aufgaben, qualitativ gute elterliche Betreuung und Integration der Aufgaben in den Unterricht). Die Hausaufgabensituationen selbst aber hatte sich noch nie jemand so richtig angesehen. Schnell stand fest, dass genau hierauf der Forscherblick fallen sollte unter der Fragestellung, was genau in den Situationen passiert, die als notwendige Übungssituationen deklariert werden. Nach dem Erscheinen der PISA-Studien und dem festgestellten Zusammenhang von Bildungserfolg und Elternhaus sollten zudem Familien mit Migrationshintergrund im Fokus der Studie stehen, weil Hausaufgaben, so die Annahme, durchaus zur Bildungsungleichheit beitragen könnten, da Eltern ihre Kinder mitunter weniger dabei unterstützen könnten. Insbesondere die Benachteiligung der zahlreichen Kinder und Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund ist bislang noch nicht hinreichend erklärt, deshalb ist die Studie auf diese Migrantengruppe begrenzt.

Zu Beginn dieser ethnographisch angelegten Studie bestand zunächst einmal die Schwierigkeit, als Deutsche Zugang zu Familien mit türkischem Migrationshintergrund zu bekommen, die dann ihr Einverständnis geben sollten, sich beim Erledigen der Hausaufgaben beobachten zu lassen. Allein dieser sogenannte Zugang zum Forschungsfeld war schon ein kleines Abenteuer. Über eine Bekannte mit türkischen Wurzeln, eine Zufallsbekanntschaft aus einem Spielkreis für Kleinkinder, entstanden erste Kontakt, über Lehrerinnen an Schulen weitere und im Schneeballverfahren erschloss sich wiederum ein Forscherfeld. Gerade aber an Familien, in denen die Frauen über wenige Sprachkenntnisse verfügen und die wenige Kontakte zu Nachbaren etc. haben, war schwierig heranzukommen- aber nicht unmöglich.

Drei Mal je eine Woche lang (mit halbjährigen Unterbrechungen) war die Forscherin in der Zeit anwesend, in der Hausaufgaben angefertigt wurden und hat die Situationen beobachtet. Ein Sprachaufzeichnungsgerät hat die Dialoge zwischen Kindern und Eltern aufgezeichnet, sofern welche stattfanden, und die ausgefüllten Arbeitsblätter und die vollgeschriebenen Schulseiten wurden fotografiert.

In diversen Kolloquien (Promotionskolleg, ethnographisches Kolloquium) sowie auf Methodenworkshops und Tagungen wurden einzelne Sequenzen line by line analysiert und so versucht, einen anderen, fremden Blick auf die vertraute Kultur des Hausaufgaben Machens zu erhalten. Eine kurze Reise in die Türkei diente dem Einblick in die türkische Sprache und in die türkische Kultur. Zudem konnten aus Hospitationen an türkischen Schulen wichtige Impulse für die Verfremdung der Hausaufgabenstellungen gewonnen werden, da in der Türkei z. B. das Multiple Choice System als Aufgabenkultur vorherrscht, in Deutschland aber eine andere Aufgabendidaktik favorisiert wird. Diese unterschiedliche Aufgabenauffassung wird z. T. auch in den Daten deutlich.

Am Ende der Dateninterpretation steht das Ergebnis, dass es sich bei Hausaufgabensituationen um intergenerationale Tischgespräche zwischen Eltern und Kindern handelt. Dabei stehen Fehler im Mittelpunkt der Diskussionen und die Aktivitäten zielen zumeist darauf ab, ein möglichst fehlerfreies Produkt anzufertigen, je nachdem wie gut die elterliche Kontrolle ist. Solche „Bewältigungssituationen“ haben oft wenig mit den ursprünglich intendierten Übungssituationen zu tun. Und für Kinder mit Migrationshintergrund und deren Eltern kann, je nach Bildungsabschluss der Eltern und Sprachfähigkeit, sehr wohl noch ein sprachliches Hindernis hinzu kommen. Denn die Aufgaben sind zum einen in der Bildungssprache Deutsch verfasst, also einer spezifischen elaborierten und an der Schriftsprache orientierten Sprache. Zudem werden Fachtermini benutzt und die Frage, was mit Bausteinen gemeint ist, hält mitunter länger auf als die Bearbeitung eines Arbeitsblattes zu Morphemen (als kleinste sinnunterlegte Worteinheit).

Fazit: Hausaufgaben gehören als Schulaufgaben an ihren Entstehungsort zurück, nämlich in die Schule. Und die Art der Aufgabenstellungen für unterschiedlich motivierte Schülerinnen und Schüler wäre dann noch einmal gesondert zu thematisieren.

Publikation: Nieswandt, Martina: Hausaufgaben yapmak. Ein Ethnographischer Blick auf den Familienalltag. Klinkhardt. Kempten. Erscheint im Januar 2014 


Nota.

Hausaufgaben sind ein Übel, weil sie den Kindern den Nachmittag verderben, den sie sonst viel produktiver verbringen könnten. Sie werden sehen: Auch diese am gesunden Menschenverstand orientierte Studie wird wieder dazu herhalten müssen, den Kindern den bislang schul-, aber leider nicht hausaufgabenfreien Nachmittag streitig zu machen. Zum Ausgleich kultureller Benachtgeiligungen kann die Schule notorisch nicht viel beitragen. Aber zur sinnlosen Vernichtung von Zeit und Freiheit schon.
JE 

Mittwoch, 4. Dezember 2013

Pisa nicht zu ernst nehmen.

aus Der Standard, Wien, 4. 12. 2013                                                                         Harry Hautumm, pixelio.de

"Unterricht steht und fällt mit dem Lehrer" 

Interview | Lisa Nimmervoll 

Mathematiker Rudolf Taschner über das, was Pisa misst und was nicht, die Rechenkünste seiner Studentinnen, die Tücken der Statistik und den Erfolgsverdacht "Drill for Pisa"

STANDARD: Die österreichischen Schüler rechnen heute so gut wie vor zehn Jahren. Ist das gut?
Nach dem boykottbedingten Absturz 2009 sind sie wieder auf dem Niveau von 2000, 2003, 2006 bzw. darunter. Alles paletti bei Pisa?
 
Taschner: Es sind ja nicht die gleichen Schüler wie jene vor zehn Jahren. Und die Aufgaben sind nicht die gleichen. Ich bezweifle, dass man die Niveaus der Rechenfertigkeiten so locker vergleichen kann. Allzu ernst nehmen sollte man Pisa nicht. Da ist es viel wichtiger, dass via Pisa der Stellenwert der Mathematik in Österreich gewonnen hat. ...

STANDARD: Die unangefochtenen Siegerregionen liegen in Südostasien: Schanghai, Hongkong, Singapur, Taipeh, Korea, Macau, Japan. Da heißt es schnell: Drill for Pisa. Was sagen Sie zu der Dominanz?

Taschner: Natürlich wird es den Drill für Pisa geben, vor allem in den genannten Ländern. Bei unserer Aktion "Ausgerechnet Pisa - Österreich zeigt, was es kann" im math.space haben wir uns dazu mit Sicherheit nicht verleiten lassen. Dann wäre nämlich Pisa im Vordergrund gestanden und nicht die Mathematik. Mit einem mathematischen Blick den Gehalt einer Pisa-Aufgabe zu erfassen ist das Entscheidende. Wenn dabei ein Rechenfehler passiert, mag das schlecht fürs Pisa-Ranking sein, aber sonst ist es bedeutungslos. Die Dominanz der südostasiatischen Pisa-Sieger sollte erst dann Kopfzerbrechen bereiten, wenn damit eine Dominanz im kreativen Denken, in der Originalität und der Gedankentiefe einherginge - aber all dies kann Pisa ganz und gar nicht messen.

STANDARD: Was leistet die Pisa-Studie im Bereich Mathematik? Sie kennen die Beispiele. Die OECD betont ja immer, die Alltagsfähigkeit der Kompetenzen zu messen.

Taschner: Einige der mir bekannten Beispiele sind hervorragend, andere eher schlichter Natur und wieder andere, freundlich formuliert, eigenartig. Pisa misst, wie sich die Getesteten den Beispielen stellen. Mehr nicht. Also nur sehr bedingt mathematische Fertigkeiten und kaum mathematisches Wissen. Trotzdem: Auch die Pisa-Beispiele öffnen ein Tor zur Mathematik.

STANDARD: Ihr wichtigster Rat für guten Mathematikunterricht?

Taschner: Er steht und fällt mit der Persönlichkeit des Lehrers: eine Persönlichkeit, die bei jedem der ihr anvertrauten jungen Menschen die Begabung zum Fach möglichst gut zur Entfaltung zu bringen vermag - und die nicht nur viel von Mathematik weiß, sondern von der man auch überzeugt ist, dass sie von der Mathematik durchdrungen ist.