Samstag, 7. Dezember 2013

Lügen haben viele Beine.

aus NZZ, 2. 12. 2013              

Gelogen wird immer  
Annäherung an ein verpöntes Alltagsphänomen

von Claudia Wirz 

Alle Menschen lügen, Kinder wie Erwachsene. Manchmal ganz unbewusst und meistens nicht mit bösen Absichten. Doch obwohl es alle tun, hat die Lüge einen miserablen Ruf.

«Die Wahrheit ist das Kostbarste, was wir haben. Gehen wir sparsam damit um!» Diesen kühnen Ratschlag erteilte Samuel Langhorne Clemens, besser bekannt unter dem Namen Mark Twain. Der Schöpfer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn fand nicht nur als Autor von Jugendliteratur freche Lausbuben interessanter als brave Musterknaben, er war auch ein veritabler Anwalt der Lüge. In seinem bemerkenswerten Vortrag über die «Kunst des Lügens», deren Niedergang er beklagt, bezeichnet Twain die Lüge, diese zehnte Muse, als besten und verlässlichsten Freund des Menschen. Und da die Lüge zum Leben notwendig ist, erhebt er sie zur Tugend.

Eine soziale Kompetenz

Eine Tugend aber wolle von Generation zu Generation gepflegt und kultiviert sein, meint Twain, und deshalb sollte das Lügen seiner Meinung nach ein Schulfach sein; im pädagogischen Jargon des Lehrplans 21 womöglich gar eine «Kompetenz». Wer ob solcher Überlegung moralische Bedenken bekommt, sei beruhigt. «Es gibt», so rechnet Twain vor, «869 Arten zu lügen, aber nur eine davon ist direkt verboten: Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.»

Viele beherzte Parteigänger wird diese Lehre insbesondere in der Pädagogik nicht haben. Die Lüge hat generell einen schlechten Ruf. Sie gilt als verboten, als moralischer Sündenfall, und der Begriff «Lügner» ist keine charmante Bezeichnung für einen normalen Kerl, sondern ein ziemlich heftiges Schimpfwort. Dabei ist die Lüge im Alltagsleben allgegenwärtig. Alle Menschen sind Lügner, das wussten schon die Autoren der Bibel. Aber nicht jede Lüge wird mit böser oder schädlicher Absicht ausgesprochen. Ganz im Gegenteil: Die Lüge hat oft sogar etwas Wohltätiges, wenn sie dem Gegenüber etwa in Bezug auf die neue Frisur die unangenehme Wahrheit erspart. Sie ist ein sozialer Schmierstoff, ohne den eine friedliche zwischenmenschliche Kommunikation kaum möglich wäre.

Der amerikanische Psychologe und Lügenforscher Robert Feldman wollte in einem Experiment herausfinden, wie bewusst und wie häufig in einem alltäglichen Zufallsgespräch gelogen wird und was die Motive sind. Dazu bat er jeweils zwei Personen, die sich nicht kannten, sich in einem zehnminütigen Gespräch gegenseitig vorzustellen. Das Gespräch wurde aufgezeichnet und später zusammen mit den Versuchspersonen auf erzählte Unwahrheiten überprüft. Das Ergebnis: Im Durchschnitt belogen sich die Gesprächspartner gegenseitig knapp dreimal innerhalb von zehn Minuten. Oft waren diese Lügen unbewusst und offenbarten sich dem «Lügner» erst im Nachhinein in der filmischen Rückschau. Entsprechend waren die meisten Lügen eher harmloser Natur. Sie dienten in erster Linie als Kommunikationshilfe - um sich selber ins beste Licht zu rücken, Höflichkeiten auszutauschen oder um den anderen das hören zu lassen, was er vermeintlich hören will. Kleine Lügen also, die ihre Aussender in der Regel auch nicht wirklich bereuten. Aber auch die kleinen Lügen sind gemäss Feldman nicht ohne Tücken. Jede Lüge, meint er, nage an der Glaubwürdigkeit und könne neue generieren. Und das führe letztlich zu einer «Lügenkultur» im Alltag.

Wie jede soziale Interaktion muss natürlich auch der Umgang mit Lügen erlernt werden. Der Linguist Jörg Meibauer hat zusammen mit Bettina Kümmerling-Meibauer den Lügenerwerb des Kindes in Zusammenhang mit der Kinder- und Jugendliteratur untersucht. Wie die Autoren in einem 2011 erschienenen Fachaufsatz schreiben, besteht hier ein enger Zusammenhang. Denn Lügen sind ein wichtiges Thema in der Kinderliteratur - man denke nur an die Nase von Pinocchio. Da man kindlichen Adressaten aber sinnvollerweise nur Geschichten vorsetzen kann, die sie aufgrund ihrer sprachlichen und geistigen Entwicklung auch verstehen, stellt sich die Frage, ab wann sich das Sensorium für die Lüge und die moralische Urteilsfähigkeit ausbilden.

Die Lüge betrachten die Autoren als «Sprechakt der unaufrichtigen Behauptung». Um dieses Konzept verstehen und anwenden zu können, muss man sich in die Gefühls- und Gedankenwelt des anderen hineinversetzen können. Diese Fähigkeit erwerben Kinder im Alter von etwa vier Jahren, wie die Forschung zeigt. Beim Betrachten von Bilderbüchern entwickeln Kinder in diesem Alter auch ein erstes Interesse an lügenden Figuren und an moralischen Aspekten der Lüge.

Lust am Nonsense

Nach der Einschulung führen Figuren wie Pinocchio oder Pippi Langstrumpf auf eine nächste Lügenebene. Die Lüge wird im letzteren Fall auch als Freude am Nonsens dargestellt. Während kleinere Kinder die Lüge grundsätzlich als moralisch schlecht beurteilen, lernen ältere zu differenzieren. So wird in der Literatur für Kinder in den ersten Schuljahren laut den Forschern eine Würdigung verschiedener Lügenarten und -motive vorgenommen. Auf der nächsten Stufe werden die jugendlichen Leser und Leserinnen dann in komplexe Lügennetze verstrickt. Ein Paradebeispiel dafür ist «Emil und die Detektive». In solchen Jugendromanen rücken zunehmend lügende Erwachsene in den Fokus. 

Schwierig ist für Kinder - auch für ältere - die Unterscheidung von Lüge und Ironie.

Während die Erforschung des kindlichen Lügenerwerbs auf eine Tradition zurückblicken kann, weiss man laut den Autoren erst wenig über die Fähigkeiten von Kindern, Lügenerzählungen zu verstehen. In einer amerikanischen Studie mit Dritt- und Fünftklässlern von 1999 zeigte sich, dass viele Kinder Schwierigkeiten mit dem Verstehen moralischer Texte haben, was die Forscher nicht allein als Folge der Lesefähigkeiten, sondern auch der moralischen Urteilsfähigkeit betrachten.

Lügen ist indessen weder ein rein menschliches Verhalten noch ausschliesslich ein Sprechakt, sofern man die gezielte Täuschung zur Lüge zählt. «Wo das Gesetz von Fressen und Gefressenwerden regiert, sind Tarnung, Täuschung, Lug und Trug unverzichtbare Lebensmaximen», schreibt der deutsche Primatologe Volker Sommer. Gelogen wird in diesem Sinne im Tierreich allenthalben. Um ein Opfer zu fangen und zu fressen oder um Artgenossen von einem besonderen Leckerbissen wegzulocken. 

Besonders raffiniert ist das Repertoire der Täuschungen bei Primaten. Nicht einmal das Lügen kann der Mensch also für sich alleine beanspruchen.

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