Die gestrige FAZ berichtete, dass entgegen dem Augenschein die Freizeit der Deutschen in den letzten fünf Jahren geschrumpft ist:
aus FAZ, 29. 8. 2013
"...Besonders stark geschrumpft, nämlich um mehr als eine dreiviertel Stunde, ist die Freizeit von Jugendlichen. 'Die Einführung des Abiturs nach zwölf Schuljahren und mehr Ganztagsschulen tragen sicherlich zu einem erheblichen Teil dazu bei, dass sich die Freizeit von Vierzehn- bis Siebzehnjährigen stark reduziert hat', sagt Reinhardt. 'Daneben führt aber auch die steigende Anzahl von (Pflicht-)Terminen, der Druck, online aktiv sein zu müssen, oder der Wunsch vieler Eltern nach sinnvollen Tätigkeiten des Nachwuchses zu weniger freier Zeit bei Kindern und Jugendlichen.'..."
Gesellschaft
heißt Arbeitsteilung und Kooperation. Wer in der Gesellschaft lebt,
lebt von der Gesellschaft. Zivili- sationsmüdigkeit ist – Kunststück –
ein Zivilisationsprodukt. „Zurück zur Natur“ ist die Luxusparole derer,
die schon alles haben. Wer mit dem Ausstieg ernstmachen wollte, müßte
zuerst der Gesellschaft zurückerstatten, was er bereits von ihr genommen
hat. Dann mag er ziehen…
Der Mensch ist ein Kulturwesen; das
Kulturwesen. Neben seiner ersten, physiologischen, hat er eine zweite,
historische und selbstgemachte Natur. Oder richtiger: Da er Kulturwesen
ist, hat er auch seine erste Natur nur als Kulturgeschöpf; er kann nicht
mehr wählen. Daß er überhaupt wählen will, verdankt er seiner
selbstgemachten Geschichte und zeigt, daß er schon gewählt hat: Nur als
Kulturmensch kann er Naturwesen sein wollen.
Ob
Kinder in die Gesellschaft und ihre Kultur hineinwachsen sollen oder
nicht, steht nicht im Ermessen ihrer (zufälligen) Eltern. Jene sind
selber Kulturprodukte und mögen, wenn sie die Bedingung erfüllen, die
Kultur fliehen; aber andere ungefragt ins Exil schicken, das dürfen sie
nicht. Die allgemeine Schulpflicht ist selbst ein kultureller Reichtum.
Denn
Aufgabe der Schule ist es, das kulturelle Erbe der Menschheit an die
nachwachsende Generation weiter zu reichen. Ihr Zweck ist Bildung.
Ausbildung
für den Arbeitsmarkt ist ihr erst in neuerer Zeit als Pensum
zugewachsen, mit der Industrialisierung und ihren verallgemeinerten
Qualifikationsstandards. Die Schule hörte auf, privilegiertes
Bildungsinstitut der herrschenden Klassen zu sein, und wurde allgemeine
Dienstleistungsindustrie für den Arbeitsmarkt: vergesellschaftete
Produktion des Arbeitsvermögens…
Die Realschule drängte das Gymnasium in die Defensive.
Heute
ist das, was man in der Schule lernen kann, so unbrauchbar für das
berufliche Fortkommen wie nie zuvor. Was du gestern gelernt hast, ist
heute schon veraltet. Der technologische Fortschritt macht jeden Tag
neue Fertigkeiten und, was fast dasselbe ist, neue Formen der
Arbeitsteilung erforderlich. Wer sich am Arbeitsmarkt halten will, muß
sich permanent „weiterbilden“. Die Idee, die Schule könne den
Heranwachsenden „mit allem ausstatten, was er im Leben mal brauchen
wird“, ist vorsintflutlich und findet einen (wackligen) Anhaltspunkt nur
noch im beschäftigungspolitischen Standesinteresse der Lehrerschaft.
Max
Scheler hat in seiner Wissenssoziologie unser Wissen in drei Klassen
geschieden. ‚Herrschaftswissen’ bezeichnet all jene Kenntnis, die die
Mächtigkeit der Menschen über ihre Lebensumstände erweitert: Wissen, das
nützt. ‚Bildungswissen’ ist ein solches, das man „nur so“ besitzt: um
seiner selbst willen; die Bekanntschaft mit Kunst und Philosophie etwa.
„Heilswissen“ schließlich ist alles, was mit dem Sinn des Lebens zu tun
hat.
Die
propagierte Verwissenschaftlichung der Schule im letzten
Vierteljahrhundert hat sich am Ende als die flachselbstverständliche
Subsumtion aller möglichen Wissensgehalte unters Diktat der Nützlichkeit
erwiesen. Deutschunterricht wird heute so erteilt, als ginge es
lediglich um die Ausbildung neuer Deutschlehrer. Griechisch und Latein
sind ganz entfallen; wer will denn heut auch schon noch Altphilologe
werden?
Von Humanismus am Gymnasium keine Spur ; es ist selbst nur noch eine große (und nicht enden wollende) Realschule.
Der
Pflasterstein, den die Finanzpolitiker dieser Tage in den Froschteich
geworfen haben, kann zum Befreiungsschlag der Bildungspolitik werden.
Der gesunde Menschenverstand hat vernehmlich das Wort ergriffen, und das
laute Quaken der ‚Betroffenen’ läßt ahnen, daß er ins Schwarze
getroffen hat.
Natürlich
muß das dreizehnte Schuljahr gestrichen werden. Die jungen Leute werden
viel zu lange vom allgemeinen gesellschaftlichen Verkehr ferngehalten,
und der ist schließlich selber eine kulturierende Instanz.
Aber
gewiß nicht, um den unnützen Ausbildungsplunder von dreizehn Jahren nun
in deren zwölfe zu stopfen. Es muß die Chance beim Schopf ergriffen
werden, die Lehrpläne gründlich auszumisten – nicht von Bildungswissen,
sondern von unbrauchbaren Realien. Es ist völlig in der Ordnung, daß die
Inhalte abendländischer Bildung zuerst einmal für die Schule gelernt
werden und nicht „fürs Leben“: Nützen können sie sowieso nicht, und
wertschätzen wird man sie erst aus gewonnenem Abstand. Aber daß
Kenntnisse, die der persönlichen Karriere zugedacht waren,
ausschließlich fr den Lehrer und die nächste Klassenarbeit gebüffelt,
dann aber schleunigst vergessen werden, um neuem Dreitageschrott Platz
zu machen, das ist ein Unrecht an den Schülern und eine Zumutung für den
Steuerzahler.
Nur
wenn die Schule wieder Stätte allgemeiner Bildung wird und die
Ausbildung für den Arbeitsmarkt spezialisierten Instituten überläßt, die
was davon verstehen, kann auf die Dauer die allgemeine Schulpflicht
gegen die Ivan Illichs und andere luxurierende Kulturflüchter verteidigt
-, und kann verhindert werden, daß Bildung schließlich wieder zum
Privileg weniger Auserwählter wird.
Bildung aber braucht Muße.
Input
und Output haben da nichts zu suchen. Schulstreß und Bildung schließen
einander aus. Es ist also klar, in welche Richtung jede ernstgemeinte
Diskussion um weitere Schulreform nunmehr zu gehen hat: Reduktion der
Stundenpläne, Rückgewinnung von freier Zeit.
Und
es gibt keinen Grund, damit bis zur gymnasialen Oberstufe zu warten.
Indianerspiele, Kokeln hinterm Haus, Streunen durch Keller und
Dachböden, zielloses Vagieren in Stadt und Land weiten den Blick und
wecken den Wunsch, mehr zu wissen. Sie sind echte Bildungselemente, wie
die elektronischen Medien übrigens auch.
Und alles braucht seine Zeit.
Lehrer,
die der angeblich wachsenden Gewaltbereitschaft an den Schulen nicht
mehr Herr werden, sollten sich zusammenschließen und dafür starkmachen,
ihre Schüler nicht mehr länger, als zu Bildungszwecken unvermeidlich, zu
klaustrieren, aus der Welt auszusperren und in ihrem natürlichen
Unternehmungsgeist zu hemmen. Eine Menge Probleme erledigen sich dann
von selbst, und die Kultur gewinnt.
Kampf dem Schulstreß! Arbeitszeitverkürzung auch für Kinder!
Nieder mit der Ganztagsschule! Rettet den schulfreien Nachmittag!
Kurz, schrumpft die Schule.
Jochen Ebmeier
Diaphora Gesellschaft für neue Erziehung mbH (gemeinnützig)
Jochen Ebmeier
Diaphora Gesellschaft für neue Erziehung mbH (gemeinnützig)
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