Montag, 26. August 2013
„Erziehungswissenschaft“ oder: Die Standesideologie der pädagogischen Zunft.
Der Weg eines Wissensfachs von der Aporetik, die zwanglos von einem Problem zum andern fortgeht, so wie sie es sich (praktisch) stellen, zur Wissenschaft ist in den idiographischen Disziplinen nichts anderes als die Ausarbeitung des theoretischen Modells, in dem das Idion logisch schematisiert ist. Es ist die Bestimmung eines Begriffs – seinem Umfang (extensio) und seinem Inhalt (intensio) nach.
Gibt es von „Erziehung“ einen Begriff? Kann es eine Erziehungswissenschaft geben?
Der Begriff wäre die Antwort auf die Frage: Wer tut da was mit wem? Das ist das Idion. Wer mit wem, das wäre der Umfang; was, das wäre der Inhalt. Das Wie wäre gegebenenfalls Gegenstand des historischen Berichts, und wenn überhaupt, dann ließen sich aus ihm verallgemeinernde Sätze ableiten, die zwar ‚Gesetzlichkeit’ nicht für sich in Anspruch nehmen, aber doch einen pragmatischen Hinweis geben könnten, was man versuchen kann und was man besser unterlässt. Doch dies ist klar: Ohne Wer-was-mit-wem kann nach Wie gar nicht erst gefragt werden. Nicht nur auch, sondern gerade als historisches Fach ist „Erziehungswissenschaft“ auf einen klaren und bestimmten Begriff angewiesen.
Ich mache es kurz: Die pp. Erziehungswissenschaft, d. h. ihre Königsdisziplin, die Allgemeine Pädagogik, kann einen solchen Begriff nicht geben.
„Erziehen = Von einem Menschen s1 auf einen Menschen s2 gerichtetes absichtsvolles und geplantes Zuführen von Impulsen mit dem Ziel, dass s2 diese Impulse als Reize oder Informationen so verarbeitet, dass s2 Verhaltensbereitschaften bewahrt oder erwirbt oder so verändert, das s2 (in einer festgelegten Zeit) Verhalten realisiert, das den Soll-Zuständen von s1 entspricht.“ Diese denkwürdige Definition, die uns Lutz Michael Alisch und Lutz Roessner in „Erziehungswissenschaft und Erziehungspraxis“* gegeben haben, trifft auf den Bananenverkäufer auf dem Wochenmarkt und auf den Schaffner in der Straßenbahn ebenso zu. Ist sie bloß ein Kuriosum? Nein, sie spricht die Hilflosigkeit der ganzen Branche aus.
Irgendwie hat es mit Erwachsenen und mit Kindern zu tun (und kommen Sie mir jetzt nicht mit ‚Erwachsenenpädagogik’, Sie bringen ja alles nur noch mehr durcheinander!). Ach, und wenn wir in der Geschichte zurückblicken, da stellen wir sogleich fest, dass es den ‚Begriff’, genauer: das Wort ‚Erwachsener’ grad mal seit zweihundert Jahren gibt – man merkt es schon an der verlegenen grammatikalischen Form: ein substantiviertes Partizip Perfekt. Vorher gab es Männer und Frauen (und Mütter und Väter); aber ein soziales Corps, das einem andern sozialen Corps namens Kinder als dessen Oppositum auflauerte, das gab es nicht. Denn ein kint war noch im Mittelhochdeutschen zunächst ein Sohn oder eine Tochter, später konnte jeder Jüngere jedem Älteren gegenüber ein kint heißen. Nur einen bestimmten biologischen Entwicklungsstand – das bedeutet ‚Kind’ erst in der bürgerlichen Gesellschaft.
Tatsächlich entsteht der Sozialstatus ‚Kind’ erst in eben dem Maße, wie die Angehörigen der sich ausbildenden bürgerlichen Gesellschaft zu ‚autonomen Subjekten’ (in der Philosophie), zu ‚Warenproduzenten’ (in der Nationalökonomie) und zu ‚Berufsmenschen’ (in der Soziologie) erwachsen. Seither erst kommen auch die Vokabeln ‚Erziehung’ und ‚Pädagogik’ in Gebrauch. Die Marktwirtschaft sorgt für einen so hohen Grad gesellschaftlicher Arbeitsteilung, dass an ein stilles, stetiges Hineinwachsen wie in den Handwerksstuben und den Bauernhöfen des Ancien Régime nicht mehr zu denken war. Seither bedarf es einer besonderen Schutz-, Dressur- und Zubereitungsphase, um zu einem vollgültigen Glied der Berufswelt gemacht zu werden. Von Pädagogen, von wem denn sonst?
Darum ist Pädagogik ein „Fach“, und darum braucht es eine „Erziehungswissenschaft“. Seine Extensio – das sind die Versorgungsansprüche der Pädagogen. Ihre Intensio sind die Wörter, die sie gebrauchen, um diesen Umstand zu verschleiern. Vorangegangen ist auf diesem Wege Friedrich Daniel Schleiermacher, den sie darum mit Grund als ihren Stiftungsvater erkennt.
Historisch war es zwar Johann Friedrich Herbart, der sie eine halbe Generation zuvor mit seiner Allgemeinen Pädagogik als akademisches Fach begründet hat. Aber er war ein erklärter Gegner der Schule. Und zwar nicht zuletzt aus diesem Grunde: weil sie auf die Dauer einen Berufsstand züchtet, dessen Eigeninteresse sich an die Stelle der pädagogischen Zwecke zu drängen neigt – zumal, wenn es „in öffentlichem Dienst“ auftreten darf. Kein Wunder, dass man ihm einen Schleiermacher vorzieht.
Der allererste Schritt beim Verschleiern ist, den pädagogischen Berufsstand aus dem Blickfeld verschwinden und in einem ‚Großen Ganzen’ untergehen zu machen. Der Schleiermacher blieb bis heute darin vorbildlich: „Ein großer Teil der Tätigkeit der älteren Generation erstreckt sich auf die jüngere, und sie ist umso unvollkommener, je weniger gewusst wird, was man tut und warum man es tut. Es muss also eine Theorie geben, die von dem Verhältnisse der älteren Generation zur jüngeren ausgehend die Frage stellt: Was will eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?“
Da „die jüngere Generation“ hier nur als Objekt in Frage kommt, die nichts zu „wollen“ hat, mag ihm dieser Ausdruck hier durchgehen. Wenn aber die „ältere Generation“ etwas will, dann… muss sie ein Subjekt sein. Das ist sie offenkundig nicht, wie sollte sie? Der Ausdruck ist eine bloße Mystifikation, unter der sich ein materielles Interesse tarnt. Die Pädagogenschaft „will“ stellvertretend für alle andern. Man hätte wohl meinen können, mit der ‚älteren Generation’ seien hier die Eltern von Kindern gemeint. Aber deren „erziehende Tätigkeit verteilt sich ihnen unter ihr ganzes übriges Leben und tritt nicht gesondert hervor.“ Davon gibt es daher keine Wissenschaft. „Man bezieht also die Erziehungslehre auf diejenigen, die den Eltern beim Erziehen helfen“ – verschämt ausgedrückt; man bezieht es also auf die Erwerbspädagogen.
Wie kommen die aber zu ihrer Stellvertreterrolle, was rechtfertigt sie? Plötzlicher Anflug christlicher Demut: „Ich sehe keinen andern Rat, als an dieser Stelle unserer Untersuchung abzubrechen und zu sagen, wir müssen an die jetzt bestehende Form der Erziehung unsere Theorie anschließen.“ Und das ist die Quintessenz des Ganzen! Zum Trost breitet er uns einen Weihrauchschleier drüber: Es nennt ‚das Ganze’ „Praxis“, und damit ist es glücklich aller Kritik entzogen; der wissenschaftlichen zumal.
Wissenschaft ist öffentliches Wissen. Sie ist entstanden, um in der Öffentlichkeit ein Feld abzustecken, innerhalb dessen Meinungsverschiedenheiten, die immer auch von Interessen geprägt sind, vernünftiger Weise nicht mehr möglich sind. Dies ist ihr historischer Sinn.
Das Aufkommen der Wissenschaften im Abendland des siebzehnten, achtzehnten Jahrhunderts war das politische Weltergeignis schlechthin. Herrschaft konnte von nun an gemessen werden an dem, was ‘als vernünftig erkannt’ war. Und nur so ist eine repräsentative, nämlich die Staatsbürger repräsentierende politische Ordnung überhaupt denkbar.
Die Öffentlichkeit erwartet allerdings von der Wissenschaft, dass sie Gesetzestafeln erstellt, in die man die ‘konkreten Fälle’ nur noch einzutragen braucht, um die ‘richtige Lösung’ sogleich ablesen zu können. Es liegt daher im Interesse sowohl der Öffentlichkeit als auch der Wissenschaft selbst, ihre Grenzen möglichst scharf zu ziehen.
Nirgends ist das dringlicher als bei der Erziehung der heranwachsenden Generationen. Schon wegen unserer Zukunft, nicht wahr? Aber auch, weil der Steuerzahler sein Geld nicht gern vergeudet.. Doch die Öffentlichkeit glaubt nur zu gern, dass die Erziehungswissenschaft ihr Gesetzestafeln zeigt, aus denen abzulesen ist, „was zu tun sei“. Doch eben das kann sie nicht bieten. Sie ist keine ‚nomothetische’ Disziplin, die Naturgesetze freilegt, die auf die „Praxis“ nur noch anzuwenden wären. Die ein jeder, unabhängig von Stand und Geburt, aber unabhängig auch von persönlichem Vermögen, nur zu lernen bräuchte, um sie zu beherrschen. Gesetze, die eine berufliche Zunft als Ganze rechtfertigen könnten und den Einzelnen seiner Verantwortung enthöbe…
Und so hätte es gern auch die Erwebserzieherschaft. Ihre Vorlieben sind Techniken, Methoden und Strukturen, über nichts reden sie lieber. Dass zum Pädagogen nur taugt, wer dazu taugt, kommt unter den Teppich. Störend ist das Wuchern der sogenannten Erziehungswissenschaften nicht an sich selbst – das wäre nur ein akademisches (und vielleicht fiskalisches) Problem. Störend, nein: katastrophal ist, dass die Fiktion einer Wissenschaft, die „die Praxis begründet“, den Beruf des Erziehers radikal entwertet, indem sie seine personale Verantwortung an ein Drittes delegiert – eine anonyme Instanz, einen Wörterberg, den man dreht und wendet wie man will, weil er sich nicht wehren kann. Doch was er zu tun und zu lassen hat, muss der Erzieher selber wissen
Nicht „zu viel Wissenschaft“ gibt es bei uns im Erziehungsgetriebe. Davon kann es gar nicht zu viel geben, wenn man es so versteht, wie es in einem idiographischen Fach nur zu verstehen ist: als Kritik. Sondern es gibt zu viel Pseudowissenschaft, und umso mehr Kritik ist nötig: an dem „dialektischen Schein“, dass aus dem bloßen Kombinieren von Begriffen sachliche Erkenntnis möglich würde. Newtons nil in verbis! gehört über unsere Schulportale geschrieben.
Die empirische Sozialforschung kann – in Längs- und in Querschnitten – herausfinden, welche Institutionen in der Geschichte ursächlich irgendwie mit der Verbreitung einzelner kultureller Kompetenzen in einem Gemeinwesen zusammenhängen. Aber die Summe dieser Kompetenzen insgesamt begrifflich unter „Erziehung“ zu fassen, ist genau so ein definitorischer Gewaltakt wie „Intelligenz ist das, was der IQ-Test misst“. Darauf können sich Forscher in heuristischer Absicht einstweilen verständigen. Aber ansonsten ist es rein nominal und Schall und Rauch.
Eine solche historisch vergleichende Wissenschaft „vom Erziehen“ könnte, wenn sie eben mehr sein wollte als ein Zweig der Humanethologie, nur die Meinungen sammeln, die andere Leute über ein X geäußert haben, das sie „Erziehung“ nannten – und sie logisch-kritisch aufbereiten. Darüber hinaus kann sie in literarischer Sprache erzählen, was dieselben Leute – soweit man es sehen kann – dabei getan haben. In einer irgend exakten Weise beobachten kann sie es aber nicht, denn eben dazu bräuchte sie Begriffe, die sie nicht hat noch haben kann. Und in ganz besonders farbigen Worten kann sie uns ausmalen, was dabei „herausgekommen“ zu sein scheint – im Guten wie im Bösen. Das ist wörtlich gemeint: Es ist am Ende eine Frage von gut und böse. Das taugt nicht für Wissenschaft, sondern für den Roman.
In nüchterne Worte gebracht, zerfiele diese Forschungsrichtung in 1) Doxologie, und 2) historische Institutionssoziologie. Aber wie die beiden zusammenhängen – folgt die Meinung aus den Institutionen oder folgen die Institutionen aus den Meinungen; oder was heißt hier „Wechselwirkung“? – das bleibt immer Sache eines hermeneutischen Kunststücks. Und so allein gehört Wissenschaft in die pädagogischen Ausbildungspläne – historisch und kritisch.
Denn was er tun soll, muss ein Erzieher eben selber wissen. Er ist ein darstellender Künstler, der es immer drauf ankommen lassen muss.
*) München 1981, S. 38
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen