Sonntag, 16. Juni 2019
Donnerstag, 30. Mai 2019
Der Zweck des Spielens.
Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen. Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.
Um wirklich zu spielen, muss der Mensch, solange er spielt, wieder Kind sein.
Johan Huizinga, Homo ludens
*
Die Freude am Spiel ist das schlechterdings ästhetische Vermögen: die Bereitschaft, die 'Sachen' nicht nur so anzuschauen, sondern so für wahr zu nehmen, als ob sie 'an und für sich selber' wären; nämlich ohne irgend ein Verhältnis zu irgend einem Andern, und vor allem nicht: zu meinem 'Bedürfnis'. Es ist eo ipso die Kraft zur Abstraktion und ergo der Reflexion. Kurz, am "Grunde" der Vernunft steht das Spiel – als die spezifisch männ- lich-kindliche Leistung…
Die Freude am Spiel ist das schlechterdings ästhetische Vermögen: die Bereitschaft, die 'Sachen' nicht nur so anzuschauen, sondern so für wahr zu nehmen, als ob sie 'an und für sich selber' wären; nämlich ohne irgend ein Verhältnis zu irgend einem Andern, und vor allem nicht: zu meinem 'Bedürfnis'. Es ist eo ipso die Kraft zur Abstraktion und ergo der Reflexion. Kurz, am "Grunde" der Vernunft steht das Spiel – als die spezifisch männ- lich-kindliche Leistung…
Nota: Der Gedanke, dass die Dinge so, wie sie im Fluss des Geschehens erscheinen, eben nicht 'an und für sich' sind, ist alles andere als ein naturwüchsiger; er kommt undeutlich erst bei den ionischen Naturphilosophen und ausdrücklich erst bei den Eleaten vor.
Mittwoch, 22. Mai 2019
Credo quia absurdum.
aus Süddeutsche.de, 21. 5. 2019
Ganztag? Bitte nur freiwillig
... Und doch bleibt ein seltsamer Widerspruch: Pädagogikprofessoren mögen begeistert sein von Schulen wie der am Buntentorsteinweg - doch die Mehrheit der Eltern will keine gebundene Ganztagsschule. Zwar wünschen sich einer Studie zufolge 72 Prozent Ganztagsangebote in der Schule, aber 48 Prozent davon meinten eine sogenannte offene. Soll heißen: Unterricht am Vormittag, freiwillige Angebote am Nach- mittag. ...
Auch die Politik schreckt davor zurück, verpflichtende Ganztagsangebote zum Standard zu erklären. Zwar versprach die große Koalition einen "Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter bis 2025", inklusive Milliardenausbauprogramm, aber von Ganztagsunterricht war im Koalitionsvertrag keine Rede. Wie kann das sein, wenn doch dessen Vorteile so klar zu überwiegen scheinen?
Ein Anruf am DIPF Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, bei Eckhard Klieme, der früher die nationale Pisa-Studie leitete und mit Kollegen "StEG" verantwortet, eine Verbundstudie zur Entwicklung von Ganztagsschulen. Klieme sagt: "Die Sache ist eben nicht so klar, wie sie aussieht." Als Pädagoge befürworte auch er das gebundene Konzept, weil es mehr Förderchancen und flexiblere Unter- richtsformen ermögliche. Doch als Bildungsforscher, der die Realität beobachte, müsse er sagen: "Die empirischen Studien liefern bislang keinen belastbaren Beleg dafür, dass sich Schüler an gebundenen Ganztagsschulen besser entwickeln."
"Das ist leider so", bestätigt Kliemes Kollege Klaus Klemm. Jahrzehntelang war Klemm Professor für Bildungsforschung und Bildungsplanung, und ebenso lange beschäftigt ihn das Thema Bildungsgerech- tigkeit. Er ist einer der Autoren, die unter anderem im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung nach den Erfolgs- geheimnissen guter Ganztagsschule geforscht haben. Diese Erfolgsgeheimnisse gebe es, sagt Klemm, aber sie ließen sich nur im Einzelfall nachweisen, nicht in einer Statistik.
Das Problem fange bei der Definition der Kultusministerkonferenz an. "Wenn zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen schon sieben Stunden Schule an drei Tagen die Woche reichen, um als gebundene Ganztags- schule zu gelten, dann fällt faktisch jedes G-8-Halbtagsgymnasium* schon darunter." Exzellente Ganztags- schulen böten weit mehr, aber sie würden statistisch mit den anderen in einen Topf geworfen - aufgrund einer Definition, die Klemm vor allem "ökonomisch motiviert" nennt. "Würde ich höhere Anforderungen definieren, wären Ganztagsschulen plötzlich erheblich teurer."
Hinzu kommt: Solange der pädagogische Erfolg des gebundenen Ganztags nicht nachgewiesen ist, herrscht kein öffentlicher Erwartungsdruck an die Politik, hier mehr Tempo zu machen. Was den Politikern womög- lich ganz recht sei, sagt Eckhard Klieme, weil sie sich ansonsten mit dem Bildungsbürgertum anlegen müssten. Er spricht von "Doppelbödigkeit". Auf der einen Seite seien alle für mehr Bildungsgerechtigkeit. "In dem Augenblick aber, in dem Nägel mit Köpfen gemacht werden und eine Schule etwa verpflichtenden Nachmittagsunterricht mit Sprachförderung für alle einführt, sinkt die Bereitschaft, die eigenen Kinder hinzuschicken, und das Gerede von systematischer Förderung der Benachteiligten löst sich in Wohlgefallen auf."
Und damit meint er nicht nur die Eltern. Auch viele Lehrer könnten sich nicht vorstellen, den ganzen Arbeitstag in der Schule zu verbringen. "Unterschwellig herrscht in unserer Gesellschaft immer noch die Meinung vor: Es ist gut, wenn die Kinder nachmittags betreut sind. Aber mehr muss gar nicht", sagt Klieme. ...
Nota. - Der Autor der Süddeutschen macht kein Hehl daraus: Ginge es nach ihm, wäre "der Ganztag" un- freiwillig. Dass keine belastbaren Studien über den pädagogischen Sinn der Ganztagsverschulung vorgelegt werden können, macht ihm gar nichts aus. "Bildungsgerechtigkeit" heißt das Glaubensbekenntnis, während jeder, der kein eigenes Interesse an dem Zwangstag hat - und dazu zählen offenbar die Eltern; die Kinder fragt keiner - weiß, dass Alle in einen Topf für fast alle Kinder die ungerechteste Lösung ist.
*) Und wenn Sie nicht aufpassen, lieber Leser, dann steckt er so ganz nebenbei die Finger auch schon nach den Gymnasien aus; bis zum Abitur, nehm' ich an.
JE
Sonntag, 19. Mai 2019
Wie und warum Schulen notwendig geworden sind.
... Das ist der entscheidende Gedanke: Die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben setzt heute eine Menge Wissen voraus, das der Mensch nicht einfach so nebenher und ganz von alleine erwirbt. Das ist weniger selbst- verständlich, als es klingt. Denn bis vor rund anderthalb Jahrhunderten galt dieser Satz nur für die Angehörigen der herrschenden Klassen. Deren Kinder brauchten immer eine ganz besondere Schule, die sie später zum Herr- schen - und dazu gehört das glaubwürdige Repräsentieren der Herrschaft - befähigte. Und gleich an dieser Stel- le fällt auf: Eine Schule musste diese Schule nicht unbedingt sein, denn eine solche taugte wohl für werdende Kleriker, nicht aber für künftige Krieger und Regenten. Doch einer besonderen Lehrzeit im Dienst bei einem Fürsten mussten auch die Kinder des Adels sich unterziehen.
Die Kinder der einfachen Leute, und die waren die große Mehrheit, wuchsen in den Haushalt ihrer Familie hinein, und die war in der agrarischen Gesellschaft die eigentliche Produktions- und Wirtschaftsstätte. Zum Bauern wuchs man auf dem eigenen Hof heran. (Die Kinder der Tagelöhner lernten Vieh hüten.) Das zünf- tige Handwerk mit seinem ausgefeilten Lehrlings- und Gesellensystem gehörte schon zu dem privilegierteren Teil der städtischen Gesellschaften.
Und schließlich die kaufmännischen Patrizier - waren die Gesellschaftsklasse, in der "die Schule" zur Norm geworden ist. Die städtischen Bürgerschulen wurden, nach der Reformation zumal, zum Grundbestand, auf dem unser heutiges Schulwesen aufgebaut ist, auf sie geht das humanistische Gymnasium zurück, das zum Paradigma der Schule wurde. Hier lernte man, was man als Bürger unter Bürgern wissen und können musste, als Berufsmensch, der sich unter seinesgleichen im Marktgeschehen zu orientieren und behaupten wusste. Und als dann das Kapital in die Industrie zu fließen begann, wurden neben den Kaufleuten immer mehr Ingenieure gebraucht. Die Realschulen machten den Gymnasien Konkurrenz, und die spezialisierten sich auf die Vorbereitung zum Höheren Staatsdienst.
Dagegen war die Volksschule von Anbeginn Restschule. Die bildete nicht zum Bürger, sondern konditionierte zum Untertan und Tagelöhner. Lesen, schreiben, das Kleine Einmaleins und der Katechismus, mehr wurde nicht benötigt. Das war der Typ des Proletariers, den die Industrialisierung brauchen konnte.
Die Geschichte der Schule im 20. Jahrhundert ist schließlich die Geschichte, wie das Schulsystem immer mehr zum Schatten und zum Wurmfortsatz der Verwaltungen wurde, der öffentlichen mehr noch als der wirtschaft- lichen. Mit der Explosion des Öffentlichen Dienstes explodierten die Gymnasien, und mit wachsender Masse sanken die Maßstäbe.
Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück: Die Aufgabe einer Schule ist es, Wissen zu vermitteln, das der Mensch nicht einfach so nebenher und ganz von alleine erwirbt. Setzt die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben heute mehr Wissen voraus als früher, so dass eine längere Lernzeit erforderlich würde?
Jein. Einerseits ist die Masse von Wissen, das einer heute braucht, unermesslich, doch andererseits ist es so schnell überholt wie nie zuvor, und man tut gut daran, es sich nicht allzu gut zu merken, damit im Gedächtnis gleich Platz geschaffen werden kann, wenn neue Nachrichten eintreffen; und was man grad eben nicht gewärtig hat, darauf kann man jederzeit im Internet zugreifen.
Es ist nicht wirklich so, dass man heute (noch) mehr wissen muss als gestern; memorieren bis der Kopf raucht ist jedenfalls so unangebracht wie nie. Aber man müsste besser wissen. Was damit gemeint ist? Aber das wissen Sie doch längst selber! Gemeint ist, dass man das, was die (flüchtigen) Daten bedeuten, gründlicher verstehen soll- te - denn dann fällt man nicht jedesmal in Verwirrung, wenn man die alten Daten gegen neue auswechseln muss. Der Haken sei der, dass man das Verstehen der Schüler nicht mit einem Test erheben kann? Da haben Sie nun auch wieder Recht.
Und wenn man bei PISA I zuerst noch annahm, mit den 'Kompetenzen zur Welterschließung' sei Verständnis gemeint gewesen, wurde bald klar, dass lediglich die Testmethode des Multiple choice mit dem Brecheisen durchgesetzt werden sollte.
Dieses hinzugefügt habend, kann ich mich den Ausführungen von Prof. Schirlbauer weitgehend anschließen; doch nicht ohne anzumerken, dass es wohl in der Natur der Schule selber liegt, dass sie mehr zum Memorieren neigt als zum verstehen-Lehren.
8. 7. 15
Mittwoch, 15. Mai 2019
Die Zwangstagsschule kommt gottlob nicht vom Fleck.
t-online
aus Tagesspiegel.de, 15. 5. 2019
Ganztagsbetreuung würde Milliarden kosten
In Deutschland fehlen hunderttausende Hortplätze für Grundschüler Bei der Ganztagsbetreuung gibt es regional große Unterschiede. Bisher gibt es nur für 48 Prozent ein entsprechendes Angebot.
Laut einer Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) muss der Staat Milliarden in die Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern investieren. Wie das Deutsche Jugendinstitut (DJI) in der am Mittwoch veröffentlichten Untersuchung berechnete, fehlen bis 2025 zwischen 322.000 und 665.000 neue Plätze, um den geplanten Rechtsanspruch umzusetzen. Dafür wären je nach Szenario 1,9 Milliarden Euro bis 3,9 Milliarden Euro Investitionen nötig.
Ab dem ersten Lebensjahr bis zum Schuleintritt haben Eltern bereits heute einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz. Längst nicht alle Eltern in Deutschland haben aber die Möglichkeit, auch ihre Grundschulkinder in Ganztagsschule oder Hort unterzubringen. „Nur einem Teil der Eltern gelingt es bislang, ihre Betreuungswünsche zufriedenstellend zu erfüllen“, erklärte DJI-Direktor Thomas Rauschenbach. „Die Unterversorgung ist regional unterschiedlich.“
Ganztagsbetreuung soll auch die Chancengleichheit erhöhen
Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD ist ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder vorgesehen. Damit soll nicht nur die Vereinbarkeit von Familie und Beruf leichter werden, sondern es sollen auch alle Kinder die gleichen Bildungschancen bekommen.
Die DJI-Forscher befragten für ihre Berechnungen zunächst die Eltern nach ihren Wünschen. „Der von den Eltern genannte Bedarf an einem Ganztagsbetreuungsangebot im Grundschulalter lag im Jahr 2017 bei 71 Prozent“, erklärte Studienleiter Christian Alt. Derzeit gebe es aber nur für 48 Prozent ein entsprechendes Ganztagsangebot. Bis zum Jahr 2025 solle diese Lücke geschlossen werden.
Anschließend ermittelten die Forscher, dass es in Deutschland rund 2,8 Millionen Kinder im Grundschulalter zwischen 6,5 und 10,5 Jahren gibt. Sie nahmen an, dass die Eltern ihre Kinder an fünf Tagen in der Woche je acht Stunden betreut haben wollen. Von diesen 40 Wochenstunden würden derzeit 21,2 Stunden durch Unterricht abgedeckt, also müssten die Kinder 18,8 Stunden pro Woche zusätzlich betreut werden. Dafür ermittelten die Forscher schließlich die Personalkosten von Fachkräften sowie die Kosten für die Einrichtung der Plätze.
Die jährlichen Betriebskosten betragen bis zu 2,6 Milliarden
Wenn alle aktuellen Elternwünsche in Deutschland durch ein entsprechendes Angebot abgedeckt werden sollten, wären laut DJI 665.000 zusätzliche Plätze nötig. Die Betriebskosten lägen jährlich bei 2,6 Milliarden Euro.
Da ein Teil der Eltern nur eine verlässliche Betreuung für die Zeit bis maximal 14:30 Uhr, also nur eine kurze Übermittagsbetreuung wünscht, müssten in diesem Modell bis 2025 nur etwa 322.000 zusätzliche Ganztagsplätze geschaffen werden. Für den Betrieb wären dann nur 1,3 Milliarden Euro jährlich nötig. (AFP)
Nota. - Sie nahmen an, dass die Eltern ihre Kinder an fünf Tagen in der Woche je acht Stunden betreut haben wollen. Sie nahmen - hätten Sie's erraten? - das größtmögliche Volumen an. Weiter unten erfahren wir beiläufig, dass "ein Teil der Eltern" nur eine Kinderbetreuung bis halb Drei wünscht, was angesichts der ohnehin schon üblichen Schulzeiten gar keine Verlängerung bedeutete. Na ein Glück aber auch! In der Regel sympathisieren Eltern ja mit ihren Kindern, und so wollen sie ihnen den freien Nachmittag, an den sie sich selbst noch gern erinnern, nicht vorenthalten - und wenn die Interessenverwalter von Industrie und pädagogischer Zunft noch so laut ins Horn stoßen.
Dass ihre Kinder irgendeinen Vorteil von der Ganztagsverschulung hätten, glauben sie nicht und versucht ihnen auch niemand mehr weiszumachen. Dass die Schulhöfe ein geeigneterer Ort wären, "soziale Ver- haltensweisen einzuüben", als die Straße, Parks und Spielplätze, traut sich erst recht keiner mehr zu sagen. Übrig bleibt - da mussten sie aber suchen! - die angebliche "Chancengleichheit". Gemeint ist: Wenn man die Türkenkinder auch am Nachmittag von ihren bildungsfernen Familien fernhält, weichen auf die Dauer vielleicht die "Parallelgesellschaften" auf.
Das ist etwas, was nur den Schulexperten in den Ministerien einfallen kann. Einer, der täglich vor der Klasse steht, kommt nicht auf so eine Schnapsidee. Aber dass dabei auch alle andern Kinder von ihren Familien ferngehalten würden und auch noch am Nachmittag den Pädagogen als Erwerbsmaterial zur Verfügung stünden, nimmt er gern in Kauf.
JE
aus Tagesspiegel.de, 15. 5. 2019
Ganztagsbetreuung würde Milliarden kosten
In Deutschland fehlen hunderttausende Hortplätze für Grundschüler Bei der Ganztagsbetreuung gibt es regional große Unterschiede. Bisher gibt es nur für 48 Prozent ein entsprechendes Angebot.
Laut einer Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) muss der Staat Milliarden in die Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern investieren. Wie das Deutsche Jugendinstitut (DJI) in der am Mittwoch veröffentlichten Untersuchung berechnete, fehlen bis 2025 zwischen 322.000 und 665.000 neue Plätze, um den geplanten Rechtsanspruch umzusetzen. Dafür wären je nach Szenario 1,9 Milliarden Euro bis 3,9 Milliarden Euro Investitionen nötig.
Ab dem ersten Lebensjahr bis zum Schuleintritt haben Eltern bereits heute einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz. Längst nicht alle Eltern in Deutschland haben aber die Möglichkeit, auch ihre Grundschulkinder in Ganztagsschule oder Hort unterzubringen. „Nur einem Teil der Eltern gelingt es bislang, ihre Betreuungswünsche zufriedenstellend zu erfüllen“, erklärte DJI-Direktor Thomas Rauschenbach. „Die Unterversorgung ist regional unterschiedlich.“
Ganztagsbetreuung soll auch die Chancengleichheit erhöhen
Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD ist ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder vorgesehen. Damit soll nicht nur die Vereinbarkeit von Familie und Beruf leichter werden, sondern es sollen auch alle Kinder die gleichen Bildungschancen bekommen.
Die DJI-Forscher befragten für ihre Berechnungen zunächst die Eltern nach ihren Wünschen. „Der von den Eltern genannte Bedarf an einem Ganztagsbetreuungsangebot im Grundschulalter lag im Jahr 2017 bei 71 Prozent“, erklärte Studienleiter Christian Alt. Derzeit gebe es aber nur für 48 Prozent ein entsprechendes Ganztagsangebot. Bis zum Jahr 2025 solle diese Lücke geschlossen werden.
Anschließend ermittelten die Forscher, dass es in Deutschland rund 2,8 Millionen Kinder im Grundschulalter zwischen 6,5 und 10,5 Jahren gibt. Sie nahmen an, dass die Eltern ihre Kinder an fünf Tagen in der Woche je acht Stunden betreut haben wollen. Von diesen 40 Wochenstunden würden derzeit 21,2 Stunden durch Unterricht abgedeckt, also müssten die Kinder 18,8 Stunden pro Woche zusätzlich betreut werden. Dafür ermittelten die Forscher schließlich die Personalkosten von Fachkräften sowie die Kosten für die Einrichtung der Plätze.
Die jährlichen Betriebskosten betragen bis zu 2,6 Milliarden
Wenn alle aktuellen Elternwünsche in Deutschland durch ein entsprechendes Angebot abgedeckt werden sollten, wären laut DJI 665.000 zusätzliche Plätze nötig. Die Betriebskosten lägen jährlich bei 2,6 Milliarden Euro.
Da ein Teil der Eltern nur eine verlässliche Betreuung für die Zeit bis maximal 14:30 Uhr, also nur eine kurze Übermittagsbetreuung wünscht, müssten in diesem Modell bis 2025 nur etwa 322.000 zusätzliche Ganztagsplätze geschaffen werden. Für den Betrieb wären dann nur 1,3 Milliarden Euro jährlich nötig. (AFP)
Nota. - Sie nahmen an, dass die Eltern ihre Kinder an fünf Tagen in der Woche je acht Stunden betreut haben wollen. Sie nahmen - hätten Sie's erraten? - das größtmögliche Volumen an. Weiter unten erfahren wir beiläufig, dass "ein Teil der Eltern" nur eine Kinderbetreuung bis halb Drei wünscht, was angesichts der ohnehin schon üblichen Schulzeiten gar keine Verlängerung bedeutete. Na ein Glück aber auch! In der Regel sympathisieren Eltern ja mit ihren Kindern, und so wollen sie ihnen den freien Nachmittag, an den sie sich selbst noch gern erinnern, nicht vorenthalten - und wenn die Interessenverwalter von Industrie und pädagogischer Zunft noch so laut ins Horn stoßen.
Dass ihre Kinder irgendeinen Vorteil von der Ganztagsverschulung hätten, glauben sie nicht und versucht ihnen auch niemand mehr weiszumachen. Dass die Schulhöfe ein geeigneterer Ort wären, "soziale Ver- haltensweisen einzuüben", als die Straße, Parks und Spielplätze, traut sich erst recht keiner mehr zu sagen. Übrig bleibt - da mussten sie aber suchen! - die angebliche "Chancengleichheit". Gemeint ist: Wenn man die Türkenkinder auch am Nachmittag von ihren bildungsfernen Familien fernhält, weichen auf die Dauer vielleicht die "Parallelgesellschaften" auf.
Das ist etwas, was nur den Schulexperten in den Ministerien einfallen kann. Einer, der täglich vor der Klasse steht, kommt nicht auf so eine Schnapsidee. Aber dass dabei auch alle andern Kinder von ihren Familien ferngehalten würden und auch noch am Nachmittag den Pädagogen als Erwerbsmaterial zur Verfügung stünden, nimmt er gern in Kauf.
JE
Freitag, 3. Mai 2019
Mathematik veranschaulichen?
»Formschöne Gebilde eröffnen die Bereitschaft zur geistigen
Verarbeitung«, sagt Jürgen Flachsmeyer, 83. Der
inzwischen emeritierte Mathematiker war mehr als 30 Jahre lang Professor
für Geometrie und Topologie an der Universität Greifswald.
aus spektrum.de, 20. 2. 2019
»Wir vermiesen vielen Schülern die Mathematik«
Jürgen Flachsmeyer, Mathematikprofessor im Ruhestand, ist überzeugt: Bei den meisten Menschen kann mehr Verständnis für Mathe erreicht werden. Wie, erklärt er im Interview.
von Jan-Martin Wiarda
Herr Flachsmeyer, Sie haben seit vielen Jahren eine Mission: Sie wollen zeigen, dass bei den meisten Menschen mehr Verständnis für Mathe erreicht werden kann. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Es ist doch widersinnig: Die Mathematik und ihre junge Schwester Informatik sind mit unserer Geistes- kultur, ja mit unserer gesamten aktuellen gesellschaftlichen Praxis aufs Engste verflochten, und doch emp- finden viele Menschen den beiden gegenüber Abneigung oder, noch schlimmer, sogar Angst. Das kann mich als Mathematiker nicht kaltlassen.
Woher kommt denn diese Distanz zur Mathematik?
Der wichtigste Grund liegt meines Erachtens darin, dass die meisten Menschen der Welt vorwiegend emotional gegenübertreten und sich erst in zweiter Linie rational analytisch mit ihr auseinandersetzen. Bei diesem zweiten Schritt ist die Mathematik als die allgemeinste Strukturwissenschaft mit ihrer Methodik der eigentliche Kernpunkt. Ihre Verwurzelung im Abstrakten hat nur leider für viele Menschen von sich aus keine natürliche Anziehungskraft, sondern im Gegenteil sogar Abstoßungspotenzial.
Auch weil viele das Gefühl haben, schon immer eine Niete in Mathe gewesen zu sein.
Das sind Schutzbehauptungen. Sicher: Der Umgang und die Vertrautheit mit der Mathematik erfordern eine strikte Ausbildung und einen gehörigen Aufwand. Gleich den Künsten, die ebenfalls ein großes Übungspensum abverlangen. Doch das wäre für die meisten zu schaffen – wenn nicht die Unterrichtskultur für die Mathematik und die Naturwissenschaft in der Schule unter einem ernsthaften Mangel litte.
Wie würden Sie diesen Mangel beschreiben?
Wir müssen uns stärker um das Verstehen bei den Schülern bemühen, weil nicht Verstandenes abgewiesen wird. Doch viele Mathematiklehrer nehmen zu wenig Rücksicht auf die unterschiedlichen Denktypen. Langsame Denker werden fälschlich als weniger begabt eingestuft; man unterstellt ihnen eine geringere Leistungskraft. Mein Doktorvater war ein Beispiel für solch einen international sehr erfolgreichen, aber langsamen Denktypus. Er hatte Glück, gefördert zu werden, doch die meisten Schüler erfahren nicht diese Beachtung, sie erleben Misserfolge und wenden sich von der Mathematik ab. Der ausufernde Nachhilfesektor ist ein beredtes Zeugnis vom Scheitern unseres Matheunterrichts.
Ist das nicht einseitig negativ dargestellt? Es gibt doch viele engagierte Mathelehrer, die hervorragende Arbeit leisten!
Ja, die gibt es. Aber im Kern vermiesen wir vielen Schülern die Mathematik und vergeuden noch dazu wertvolle Talente. Es gibt zahllose Familien, die unter den finanziellen Kosten der Nachhilfe leiden. Der gesellschaftliche Verdruss über die Mathematikschwäche junger Menschen ist groß. Die Bildungspolitiker müssten ernstlich aufgeschreckt sein.
Sind sie doch auch. Neulich hat zum Beispiel eine Kommission im Auftrag des Hamburger Bildungssenators umfangreiche Reformvorschläge für den Mathematikunterricht vorgelegt – mit bundesweit großer Beachtung.
Das ist ja sehr lobenswert, auf die praktische Umsetzung darf man gespannt sein. Doch auch wenn ich den Hamburgern natürlich Erfolg wünsche: In den meisten Ländern ist eher Verdrängung als Verarbeitung angesagt, und nicht nur die Politiker agieren so, wir alle tun es. Seit Jahrzehnten stellt beispielsweise die Bruchrechnung in Deutschland einen großen Stolperstein dar. In einer Talkshow machte sich neulich ein bekannter Moderator darüber lustig, dass man beim Teilen von zwei Zahlen den Schülern Widersinniges beibringe, weil 30 geteilt durch ½ das Resultat 60 ergibt. Es sei doch klar, dass beim Teilen von Quantitäten das Ergebnis einer Teilung kleiner als die Ausgangsgröße werde. »So etwas Unvernünftiges wie 30 : (½) = 60 kann ich natürlich nicht erklären! In Mathematik war ich schon immer schlecht«, verkündete er, und was machten die Zuschauer? Sie klatschten frenetisch.
In der Tat ist es gesellschaftlich salonfähig, seine schlechten Mathekenntnisse zum Besten zu geben. »Ich konnte noch nie richtig schreiben«, so kokettieren Prominente dagegen selten.
Der Schriftsteller, Lyriker und Kulturkritiker Hans Magnus Enzensberger hat einmal mit Esprit die Kluft zwischen den großen Kulturleistungen der Mathematik und der herrschenden Mathematikignoranz in der Gesellschaft beschrieben und sah selbst bei gebildeten Leuten »eine Art intellektueller Kastration«. Man kann sie den Leuten vorwerfen oder sich fragen, wie sie mit unserer Lehrerbildung zusammenhängt. Ich habe zum Beispiel in meiner Forschung Mathematiklehrer der gymnasialen Unterstufe befragt, und die konnten oft auch nicht richtig erklären, wieso die Bruchrechnung zu dem eben zitierten Ergebnis kommt. Ich lasse an dieser Stelle noch mal Enzensberger sprechen: »Der Unterricht fördert letzten Endes den mathematischen Analphabetismus.«
Kleiner Exkurs: Wie würden Sie denn die Lösung der Rechenaufgabe erklären?
Wenn a gleich 1 ist (aufgefasst als ein Ganzes) und b eine natürliche Zahl, so bedeutet der Stammbruch 1/b, dass man das Ganze in b gleich große Teile zu zerlegen hat. Damit kommt man durch Vielfachbildung zu den Brüchen a/b für die natürlichen Zahlen. Hingegen hat man das Teilen der Zahl a durch b im Falle, dass b kleiner als a ist, so aufzufassen: »Wie viel mal steckt b in a drin?«. Der Ausdruck »geteilt« kann also nicht immer im Sinne des Feststellens von Teilstücken aufgefasst werden! Im Grunde kommt es darauf an, dass man fleißig übt. Dass die Lehrkräfte einem dafür die Zeit lassen. Und eine Portion Kopfrechnen sollte man auch noch beherrschen, selbst im Zeitalter der Computer.
Ich gebe zu, die Erklärung muss ich mir auch noch mal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Aber zurück zum Matheproblem unserer Gesellschaft. Ist das typisch deutsch?
Von wegen. Neulich bot ich im Rahmen einer Hochschuldidaktik-Tagung einen spontanen Workshop »Lebendige Mathematik« an, und es kam nur ein einziger Teilnehmer. Der war Professor an einer amerikanischen Universität und berichtete, dass dort ebenfalls die meisten Grundschüler die Mathematik mit Argwohn betrachten. Unsere Gesellschaft ist halt so: Man möchte mehr locker plaudern als konzentriert nachdenken. Das war zwischendurch mal anders.
Wann genau?
Nach dem Sputnik-Schock Ende der 1950er Jahre. Als der sowjetische Satellit Sputnik im Orbit piepte, legten die Vereinigten Staaten vor Schreck ein groß angelegtes Mathematikprogramm auf. Erstrangige Forscher der Mathematik und mustergültige Pädagogen etablierten mit großem staatlichen Engagement eine tief greifende Neuordnung des Schulunterrichts. Dieser Enthusiasmus schwappte auch nach Europa. Leider hat man es damals übertrieben, so dass irgendwann die Überforderung einsetzte.
Und die führte wozu?
Der Mathematikunterricht kehrte zur alten Oberflächlichkeit zurück. Der Schulstoff in Mathematik sei heillos überladen, schimpfte zum Beispiel vor einigen Jahren ein bekannter Pädagoge bei einem Vortrag. Einer seiner konkreten Vorschläge lautete damals: Auf den Lehrsatz des Pythagoras über das rechtwinklige Dreieck könne man verzichten. Das stieß bei den anwesenden Eltern auf Zustimmung. Ich habe dagegengehalten.
Was haben Sie gesagt?
Ich sagte: Wir haben alle heute Morgen das elektrische Licht eingeschaltet. Damit wir das können, brauchte es ingenieurtechnisches Können und Wissen. Und die Schulen müssen die Grundlagen dafür legen, zum Beispiel indem sie die komplexen Zahlen vermitteln, die für die Berechnung von Energie und Schaltkreisen nötig sind. Doch müssen komplexe Zahlen in der Schule gar nicht mehr behandelt werden. Besagter Pädagoge erklärte, für solche Dinge hätten wir doch »unsere Spezialisten«. Aber auf welchem intellektuellen Mistbeet sollen die denn heranwachsen, bitte schön? Dazu braucht man eine gewisse Geisteskultur in der Gesellschaft und auf so einer elementaren Stufe wie dem Pythagoras keine Aussonderung von Spezialisten. Nicht jeder kann alles durchschauen, aber der Pythagoras ist ein Angelpunkt für die Ausmessung der Welt.
Das brauchen wir später nie wieder, ist tatsächlich so ein Satz, mit dem Schüler allzu komplexe Mathematikoperationen ablehnen.
Das mag ja sogar stimmen, doch in der Schulzeit brauchen sie es zum geistigen Training. Man muss später immer wieder objektiven Zwängen richtig begegnen können. Die erfordern ein logisch stringentes Vorgehen. Dieses muss man an konkreten, noch leicht überschaubaren Geistesdingen üben, ganz entsprechend wie im Sportunterricht. Dort übt man zum Beispiel Hochsprung, den man später in seinem Leben auch meist nicht mehr ausübt, aber man hat seinen Körper vorher zur allgemeinen Leistungsfähigkeit trainiert.
Inzwischen stößt die Digitalisierung in immer mehr Lebensbereiche vor. Welche Folgen muss das für den Mathematikunterricht haben?
Mathematik und Informatik müssen zum Allgemeingut einer guten Schulausbildung werden, sonst werden sich viele Menschen letztlich auf die Software ohne rechten Einblick verlassen und der Autorität der Computer blindlings vertrauen. Welche schädlichen Folgen das hat, können wir schon beim Umgang vieler Schüler mit ihrem Taschenrechnern beobachten. Der wird schon bei simplen Multiplikations- und Divisionsaufgaben herangezogen, und was dann auf dem Display steht, wird auch nach falschem Tastendruck in apodiktischer Gewissheit akzeptiert. Dabei würde oft eine einfache Überschlagsrechnung reichen, um misstrauisch zu werden.
Sie haben am Anfang gesagt, das Vermittlungsproblem der Mathematik liege in ihrer Verwurzelung im Abstrakten. Was könnte guter Mathematikunterricht dagegen tun?
Wir müssen die Schüler mit neuen Formen der Veranschaulichung gewinnen. Ein praktisches Beispiel ist die Verquickung von Origami, also traditionellen japanischen Papierfalttechniken, und der Mathematik. Auch die Verbindung von Gotik und Kreisgeometrie kann für Schüler spannende Einblicke bieten, motivieren kann sie, dass wir den Zusammenhang der Kunst von Leonardo da Vinci oder Albrecht Dürer mit der Elementargeometrie aufzeigen. Wir zeigen, wie die Mathematik konkret in unserem Kulturleben und in unserer Geschichte und Gegenwart wirkt und wie ästhetisch sie sein kann. Leider finden derartige Vorschläge in den Kultusministerien kaum Interesse.
Erklären Sie bitte das Origami-Beispiel noch etwas genauer.
Meine Grundhaltung ist: Durch mehr Verstehen kommt mehr Lernfreude, durch mehr Lernfreude kommt mehr Erfolg! Wie erreicht man mehr Verstehen? Durch die eigene Hand! Es gibt eine passende chinesische Weisheit: »Ich höre und vergesse, ich sehe und erinnere mich, ich tue es und verstehe.« Das ist es. Wir müssen die Schüler zu Mithelfern im Lernprozess machen, und das gelingt zum Beispiel mit Origami. Form- und farbschöne Gebilde, die durch eigene Hände entstehen, schaffen Freude und eröffnen die Bereitschaft zur geistigen Verarbeitung. Schon vier Jahre alte Kitakinder können dessen Grundtechniken erlernen. Mit dem Schuleintritt müsste die handwerkliche Tätigkeit des Papierfaltens systematisch angepackt werden. In Japan ist dem so. Dort und in Israel setzt man Origami sogar für therapeutische Zwecke bei Inklusionskindern ein. Origami-Objekte sind flache und zugleich räumliche Figuren. In der fünften Klasse kommt dann die Mathematik der Figuren hinzu. Die Verquickung mit dem Papierfalten macht manchen Schüler zum kleinen Entdecker. So kann aus der Pflicht die Freude quellen.
Wer bekommt mehr Schokolade? Sind das blaue Quadrat links und das blaue Dreieck in der Mitte gleich groß? Die Antwort wird dank einer Hilfslinie leicht erkennbar.
Sie fordern mehr Geduld mit den Schülern, mehr Zeit zum Üben und Wiederholen. Woher soll diese Unterrichtszeit kommen?
Die übliche Unterrichtszeit bietet in sich einen gewissen Vorrat, weil man bei Erfolg nicht mehr gegen so viel unverstandenes Wissen und unbeherrschtes Können anrennen muss. Außerdem öffnet sich eine Brücke zur Nachmittagsbeschäftigung und zu den Eltern, weil auch die nicht mehr so sehr vom mathematischen Tun der Schüler abgeschreckt werden, sondern zu einem Teil selbst mittun können. Noch mal zum Origami: In Japan ist das Papierfalten eine moderne Haus- und Familienkultur.
Führt mehr Tiefe, die Sie fordern, nicht zu noch mehr Druck und Abneigung gegenüber der Mathematik?
Nein! Besseres Verstehen mindert den Druck.
Wie lange forschen Sie schon zum Thema Mathematikabneigung in unserer Gesellschaft?
Das bewegt mich schon seit meiner ganzen Berufsausübung und jetzt im Ruhestand.
Wie engagieren Sie sich persönlich für ein neues Verständnis von Mathematik und Matheunterricht?
Ich
reise zu Kongressen und Tagungen, aber viel wichtiger ist das
praktische Engagement: Meine Frau und ich besuchen noch immer regelmäßig
den Matheunterricht nahe gelegener Schulen. Eine von Origami
inspirierte Aufgabe, die ich den Schülern dann zum Beispiel stelle, geht
so: Zuerst sollen sie ein Origami-Blatt zweimal nacheinander parallel
zu den Kanten falten. Das Blatt hat, wenn man es wieder öffnet, vier
kongruente Quadrate. Dann sollen die Schüler ein zweites Blatt nehmen
und diagonal falten, wieder zweimal, so dass das wieder geöffnete Blatt
in vier kongruente rechtwinklige und gleichschenklige Dreiecke
unterteilt ist.
Das klingt jetzt noch nicht so lebenspraktisch.
Abwarten.
Nun sollen sich die Schüler vorstellen, dass wir zwei quadratische
Tafeln Schokolade so aufgeteilt hätten. Wäre das fair? Hätte jeder der
Schüler, an die eins der acht Stücke verteilt wurde, die gleiche Menge
Schokolade bekommen? Mathematisch gesehen läuft die Frage darauf hinaus,
ob alle Stücke den gleichen Flächeninhalt aufweisen. Das erscheint auf
den ersten Blick nicht so, weil die dreieckigen Teile einen größeren
Umfang haben. Aber in Wirklichkeit ist der Flächeninhalt tatsächlich
gleich. Und das lässt sich sogar ganz leicht beweisen mit dem Verfahren
»Siehe!«. Man zieht eine Zusatzlinie im Dreiecksteil und im Quadratteil.
Dann sieht man, dass beide Teile jeweils aus kongruenten Teilen
bestehen. Sie waren gewissermaßen nur anders zusammengelegt. Damit hat
man den Schülern die Invarianz des Flächeninhaltes und auch automatisch
die Invarianz des Volumens, der Masse gegen Formänderung dargeboten. Die
Schüler haben das an diesem Beispiel sofort intus. Und solche
Erklärungen bietet das Origami haufenweise!
Sie sind über 80 Jahre. Was motiviert Sie, weiterzumachen?
Ich
bin seit 2000 im Ruhestand und damit am Lebensabend meines Daseins. Ob
mein Wissen noch für die Jugend genutzt werden kann? Das Entstehen einer
Interessengemeinschaft von Eltern, Pädagogen, Studenten und
Bildungsforschern in Sachen Mathematik via Origami ist mein Wunschtraum.
Der Artikel erschien ursprünglich im RiffReporter-Projekt »Der Bildungsforscher«. Nota. - Mathematik ist die Wissenschaft von räumlichen Verhältnissen. Zur Darstellung dieser Verhältnisse braucht man Zahlen. Die stammen ursprünglich nicht aus räumlicher Anschauung, sondern aus der Anschauung des Nacheinanders in der Zeit; bevor 1, 2, 3 da waren, waren erstens, zweitens, drittens dar. Die Zahlen braucht man zur Darstellung der Verhältnisse, aber der Grundlage der Mathematik ist die Anschauung von Räumen, die Zahlen gehören schon zum Technischen. Im schulischen Mathematikunterricht wird im Gegenteil die Anschauung als ein didaktisches - unterrichts-technisches - Hilfsmittel behandelt, um möglichst schnell zu den Zahlen und ihrem Zweck: dem Rechnen überzugehen.Nun ist der Zweck des Rechnens wiederum - Verhältnisse von Räumen festzustellen. Das wird im Gymnasium später hinzugefügt - nachem zuvor manche wache Intelligenz durch jahrelange immer gleiche Rechenübungen zermürbt worden ist. Die Anschauung wurde getötet, und wenn sie wiedeer zu einem gewissen Recht kommt, ist der Horror vor den Zahlenbergen zu groß geworden, dass vile mehr Schüler als nötig zu der Einstellung gekommen sind: Mathematik ist nichts für mich.
*
Man hätte meinen können, die zeitweilige Forsierung der Mengenlehre im Mathematikunterricht hätte dort Abhilfe geschaffen. Doch sie wurde in kürzester Zeit zu einem noch größeren Abschreckungsmittel, als das Rechnen im Laufrad gewesen war. Lag es an Mengenlehre selbst oder daran, dass man auch bei ihr nicht schnell genug von der Anschauung zum... Rechnen übergehen konnte? JE
aus spektrum.de, 20. 2. 2019
»Wir vermiesen vielen Schülern die Mathematik«
Jürgen Flachsmeyer, Mathematikprofessor im Ruhestand, ist überzeugt: Bei den meisten Menschen kann mehr Verständnis für Mathe erreicht werden. Wie, erklärt er im Interview.
von Jan-Martin Wiarda
Herr Flachsmeyer, Sie haben seit vielen Jahren eine Mission: Sie wollen zeigen, dass bei den meisten Menschen mehr Verständnis für Mathe erreicht werden kann. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Es ist doch widersinnig: Die Mathematik und ihre junge Schwester Informatik sind mit unserer Geistes- kultur, ja mit unserer gesamten aktuellen gesellschaftlichen Praxis aufs Engste verflochten, und doch emp- finden viele Menschen den beiden gegenüber Abneigung oder, noch schlimmer, sogar Angst. Das kann mich als Mathematiker nicht kaltlassen.
Woher kommt denn diese Distanz zur Mathematik?
Der wichtigste Grund liegt meines Erachtens darin, dass die meisten Menschen der Welt vorwiegend emotional gegenübertreten und sich erst in zweiter Linie rational analytisch mit ihr auseinandersetzen. Bei diesem zweiten Schritt ist die Mathematik als die allgemeinste Strukturwissenschaft mit ihrer Methodik der eigentliche Kernpunkt. Ihre Verwurzelung im Abstrakten hat nur leider für viele Menschen von sich aus keine natürliche Anziehungskraft, sondern im Gegenteil sogar Abstoßungspotenzial.
Auch weil viele das Gefühl haben, schon immer eine Niete in Mathe gewesen zu sein.
Das sind Schutzbehauptungen. Sicher: Der Umgang und die Vertrautheit mit der Mathematik erfordern eine strikte Ausbildung und einen gehörigen Aufwand. Gleich den Künsten, die ebenfalls ein großes Übungspensum abverlangen. Doch das wäre für die meisten zu schaffen – wenn nicht die Unterrichtskultur für die Mathematik und die Naturwissenschaft in der Schule unter einem ernsthaften Mangel litte.
Wie würden Sie diesen Mangel beschreiben?
Wir müssen uns stärker um das Verstehen bei den Schülern bemühen, weil nicht Verstandenes abgewiesen wird. Doch viele Mathematiklehrer nehmen zu wenig Rücksicht auf die unterschiedlichen Denktypen. Langsame Denker werden fälschlich als weniger begabt eingestuft; man unterstellt ihnen eine geringere Leistungskraft. Mein Doktorvater war ein Beispiel für solch einen international sehr erfolgreichen, aber langsamen Denktypus. Er hatte Glück, gefördert zu werden, doch die meisten Schüler erfahren nicht diese Beachtung, sie erleben Misserfolge und wenden sich von der Mathematik ab. Der ausufernde Nachhilfesektor ist ein beredtes Zeugnis vom Scheitern unseres Matheunterrichts.
Ist das nicht einseitig negativ dargestellt? Es gibt doch viele engagierte Mathelehrer, die hervorragende Arbeit leisten!
Ja, die gibt es. Aber im Kern vermiesen wir vielen Schülern die Mathematik und vergeuden noch dazu wertvolle Talente. Es gibt zahllose Familien, die unter den finanziellen Kosten der Nachhilfe leiden. Der gesellschaftliche Verdruss über die Mathematikschwäche junger Menschen ist groß. Die Bildungspolitiker müssten ernstlich aufgeschreckt sein.
Sind sie doch auch. Neulich hat zum Beispiel eine Kommission im Auftrag des Hamburger Bildungssenators umfangreiche Reformvorschläge für den Mathematikunterricht vorgelegt – mit bundesweit großer Beachtung.
Das ist ja sehr lobenswert, auf die praktische Umsetzung darf man gespannt sein. Doch auch wenn ich den Hamburgern natürlich Erfolg wünsche: In den meisten Ländern ist eher Verdrängung als Verarbeitung angesagt, und nicht nur die Politiker agieren so, wir alle tun es. Seit Jahrzehnten stellt beispielsweise die Bruchrechnung in Deutschland einen großen Stolperstein dar. In einer Talkshow machte sich neulich ein bekannter Moderator darüber lustig, dass man beim Teilen von zwei Zahlen den Schülern Widersinniges beibringe, weil 30 geteilt durch ½ das Resultat 60 ergibt. Es sei doch klar, dass beim Teilen von Quantitäten das Ergebnis einer Teilung kleiner als die Ausgangsgröße werde. »So etwas Unvernünftiges wie 30 : (½) = 60 kann ich natürlich nicht erklären! In Mathematik war ich schon immer schlecht«, verkündete er, und was machten die Zuschauer? Sie klatschten frenetisch.
In der Tat ist es gesellschaftlich salonfähig, seine schlechten Mathekenntnisse zum Besten zu geben. »Ich konnte noch nie richtig schreiben«, so kokettieren Prominente dagegen selten.
Der Schriftsteller, Lyriker und Kulturkritiker Hans Magnus Enzensberger hat einmal mit Esprit die Kluft zwischen den großen Kulturleistungen der Mathematik und der herrschenden Mathematikignoranz in der Gesellschaft beschrieben und sah selbst bei gebildeten Leuten »eine Art intellektueller Kastration«. Man kann sie den Leuten vorwerfen oder sich fragen, wie sie mit unserer Lehrerbildung zusammenhängt. Ich habe zum Beispiel in meiner Forschung Mathematiklehrer der gymnasialen Unterstufe befragt, und die konnten oft auch nicht richtig erklären, wieso die Bruchrechnung zu dem eben zitierten Ergebnis kommt. Ich lasse an dieser Stelle noch mal Enzensberger sprechen: »Der Unterricht fördert letzten Endes den mathematischen Analphabetismus.«
Kleiner Exkurs: Wie würden Sie denn die Lösung der Rechenaufgabe erklären?
Wenn a gleich 1 ist (aufgefasst als ein Ganzes) und b eine natürliche Zahl, so bedeutet der Stammbruch 1/b, dass man das Ganze in b gleich große Teile zu zerlegen hat. Damit kommt man durch Vielfachbildung zu den Brüchen a/b für die natürlichen Zahlen. Hingegen hat man das Teilen der Zahl a durch b im Falle, dass b kleiner als a ist, so aufzufassen: »Wie viel mal steckt b in a drin?«. Der Ausdruck »geteilt« kann also nicht immer im Sinne des Feststellens von Teilstücken aufgefasst werden! Im Grunde kommt es darauf an, dass man fleißig übt. Dass die Lehrkräfte einem dafür die Zeit lassen. Und eine Portion Kopfrechnen sollte man auch noch beherrschen, selbst im Zeitalter der Computer.
Ich gebe zu, die Erklärung muss ich mir auch noch mal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Aber zurück zum Matheproblem unserer Gesellschaft. Ist das typisch deutsch?
Von wegen. Neulich bot ich im Rahmen einer Hochschuldidaktik-Tagung einen spontanen Workshop »Lebendige Mathematik« an, und es kam nur ein einziger Teilnehmer. Der war Professor an einer amerikanischen Universität und berichtete, dass dort ebenfalls die meisten Grundschüler die Mathematik mit Argwohn betrachten. Unsere Gesellschaft ist halt so: Man möchte mehr locker plaudern als konzentriert nachdenken. Das war zwischendurch mal anders.
Wann genau?
Nach dem Sputnik-Schock Ende der 1950er Jahre. Als der sowjetische Satellit Sputnik im Orbit piepte, legten die Vereinigten Staaten vor Schreck ein groß angelegtes Mathematikprogramm auf. Erstrangige Forscher der Mathematik und mustergültige Pädagogen etablierten mit großem staatlichen Engagement eine tief greifende Neuordnung des Schulunterrichts. Dieser Enthusiasmus schwappte auch nach Europa. Leider hat man es damals übertrieben, so dass irgendwann die Überforderung einsetzte.
Und die führte wozu?
Der Mathematikunterricht kehrte zur alten Oberflächlichkeit zurück. Der Schulstoff in Mathematik sei heillos überladen, schimpfte zum Beispiel vor einigen Jahren ein bekannter Pädagoge bei einem Vortrag. Einer seiner konkreten Vorschläge lautete damals: Auf den Lehrsatz des Pythagoras über das rechtwinklige Dreieck könne man verzichten. Das stieß bei den anwesenden Eltern auf Zustimmung. Ich habe dagegengehalten.
Was haben Sie gesagt?
Ich sagte: Wir haben alle heute Morgen das elektrische Licht eingeschaltet. Damit wir das können, brauchte es ingenieurtechnisches Können und Wissen. Und die Schulen müssen die Grundlagen dafür legen, zum Beispiel indem sie die komplexen Zahlen vermitteln, die für die Berechnung von Energie und Schaltkreisen nötig sind. Doch müssen komplexe Zahlen in der Schule gar nicht mehr behandelt werden. Besagter Pädagoge erklärte, für solche Dinge hätten wir doch »unsere Spezialisten«. Aber auf welchem intellektuellen Mistbeet sollen die denn heranwachsen, bitte schön? Dazu braucht man eine gewisse Geisteskultur in der Gesellschaft und auf so einer elementaren Stufe wie dem Pythagoras keine Aussonderung von Spezialisten. Nicht jeder kann alles durchschauen, aber der Pythagoras ist ein Angelpunkt für die Ausmessung der Welt.
Das brauchen wir später nie wieder, ist tatsächlich so ein Satz, mit dem Schüler allzu komplexe Mathematikoperationen ablehnen.
Das mag ja sogar stimmen, doch in der Schulzeit brauchen sie es zum geistigen Training. Man muss später immer wieder objektiven Zwängen richtig begegnen können. Die erfordern ein logisch stringentes Vorgehen. Dieses muss man an konkreten, noch leicht überschaubaren Geistesdingen üben, ganz entsprechend wie im Sportunterricht. Dort übt man zum Beispiel Hochsprung, den man später in seinem Leben auch meist nicht mehr ausübt, aber man hat seinen Körper vorher zur allgemeinen Leistungsfähigkeit trainiert.
Inzwischen stößt die Digitalisierung in immer mehr Lebensbereiche vor. Welche Folgen muss das für den Mathematikunterricht haben?
Mathematik und Informatik müssen zum Allgemeingut einer guten Schulausbildung werden, sonst werden sich viele Menschen letztlich auf die Software ohne rechten Einblick verlassen und der Autorität der Computer blindlings vertrauen. Welche schädlichen Folgen das hat, können wir schon beim Umgang vieler Schüler mit ihrem Taschenrechnern beobachten. Der wird schon bei simplen Multiplikations- und Divisionsaufgaben herangezogen, und was dann auf dem Display steht, wird auch nach falschem Tastendruck in apodiktischer Gewissheit akzeptiert. Dabei würde oft eine einfache Überschlagsrechnung reichen, um misstrauisch zu werden.
Sie haben am Anfang gesagt, das Vermittlungsproblem der Mathematik liege in ihrer Verwurzelung im Abstrakten. Was könnte guter Mathematikunterricht dagegen tun?
Wir müssen die Schüler mit neuen Formen der Veranschaulichung gewinnen. Ein praktisches Beispiel ist die Verquickung von Origami, also traditionellen japanischen Papierfalttechniken, und der Mathematik. Auch die Verbindung von Gotik und Kreisgeometrie kann für Schüler spannende Einblicke bieten, motivieren kann sie, dass wir den Zusammenhang der Kunst von Leonardo da Vinci oder Albrecht Dürer mit der Elementargeometrie aufzeigen. Wir zeigen, wie die Mathematik konkret in unserem Kulturleben und in unserer Geschichte und Gegenwart wirkt und wie ästhetisch sie sein kann. Leider finden derartige Vorschläge in den Kultusministerien kaum Interesse.
Erklären Sie bitte das Origami-Beispiel noch etwas genauer.
Meine Grundhaltung ist: Durch mehr Verstehen kommt mehr Lernfreude, durch mehr Lernfreude kommt mehr Erfolg! Wie erreicht man mehr Verstehen? Durch die eigene Hand! Es gibt eine passende chinesische Weisheit: »Ich höre und vergesse, ich sehe und erinnere mich, ich tue es und verstehe.« Das ist es. Wir müssen die Schüler zu Mithelfern im Lernprozess machen, und das gelingt zum Beispiel mit Origami. Form- und farbschöne Gebilde, die durch eigene Hände entstehen, schaffen Freude und eröffnen die Bereitschaft zur geistigen Verarbeitung. Schon vier Jahre alte Kitakinder können dessen Grundtechniken erlernen. Mit dem Schuleintritt müsste die handwerkliche Tätigkeit des Papierfaltens systematisch angepackt werden. In Japan ist dem so. Dort und in Israel setzt man Origami sogar für therapeutische Zwecke bei Inklusionskindern ein. Origami-Objekte sind flache und zugleich räumliche Figuren. In der fünften Klasse kommt dann die Mathematik der Figuren hinzu. Die Verquickung mit dem Papierfalten macht manchen Schüler zum kleinen Entdecker. So kann aus der Pflicht die Freude quellen.
Wer bekommt mehr Schokolade? Sind das blaue Quadrat links und das blaue Dreieck in der Mitte gleich groß? Die Antwort wird dank einer Hilfslinie leicht erkennbar.
Sie fordern mehr Geduld mit den Schülern, mehr Zeit zum Üben und Wiederholen. Woher soll diese Unterrichtszeit kommen?
Die übliche Unterrichtszeit bietet in sich einen gewissen Vorrat, weil man bei Erfolg nicht mehr gegen so viel unverstandenes Wissen und unbeherrschtes Können anrennen muss. Außerdem öffnet sich eine Brücke zur Nachmittagsbeschäftigung und zu den Eltern, weil auch die nicht mehr so sehr vom mathematischen Tun der Schüler abgeschreckt werden, sondern zu einem Teil selbst mittun können. Noch mal zum Origami: In Japan ist das Papierfalten eine moderne Haus- und Familienkultur.
Führt mehr Tiefe, die Sie fordern, nicht zu noch mehr Druck und Abneigung gegenüber der Mathematik?
Nein! Besseres Verstehen mindert den Druck.
Dienstag, 30. April 2019
Ersatzfamilien?
daddylicious
Den folgenden Text habe ich im Sommer 1991 geschrieben als Entgegnung auf einen enthusia- stischen Bericht über Kinderdörfer und Pflegefamilien, der in einer ostberliner Tageszeitung er- schienen war. Als Leserbrief war er viel zu lang, und ich überließ ihn seinem Schicksal. Schließlich tauchte er in N°1 der Heimerzieherzeitung Berlin-Brandenburg vom Sept./Okt. 1991 auf. JE
Die eigenen Eltern kann niemand ersetzen.
oder: Das Gegenteil des Schlechten ist nicht immer das Gute.
Heimerziehung in der DDRwar bekannt als ein Kollektivismus der Kaserne, wo die Geselligkeit durch die Vor- schrift ersetzt wurde. Die SED-Obrigkeit war so schnell bei der Hand gewesen, den "unwürdigen Eltern" ihre Kinder wegzunehmen. Da liegt es nun nahe, sich das Heil vom geraden Gegenteil zu erhoffen: Die schlechteste Familie ist immer noch besser als das beste Heim - und wenn es dreist eine Ersatzfamilie ist.
Allerdings sollte man dabei Paul Watzlawicks Hinweis nich überhören, "dass das Gegenteil von schlecht nicht notwendigerweise gut ist, sondern noch schlechten sein kann".* Denn sieht man sich das von etlichen so warm befürwortete Alternativ-Modell der Albert-Schweizeer-Kinderdörfe einmal näher an, so finden wir hier genau das wieder, was zuvor abgelehnt worden war: An die Stelle der "schlechten" Familie soll die "bessere" gesetzt werden - und nun sogar, indem man Kindern bessere... Eltern verschreibt.
Es wird wohl seinen Grund haben, weshalb das Patentrezepz der Ersatzfamilie im Westen, wo es seit Kriegs- ende ungehindert propagiert werden konnte, so wenig Echo gefunden hat - und dass sich die Hermann-Gmeiner-Kinderdörfer unteer der Hand vom Vater-und-Mutter-Spiel längst verabschiedet haben. Es handelt sich nämlich um eine pädagogische Tretmine. Vom Standpunkt der betroffenen Kinder ebenso, wie für die Ersatzeltern.
Eine Beziehungsfalle
Wenn ein Kind Vater und Mutter vorloren hat, leuchtet es jedermann ohne weiteres ein, dass man ihm sein Andenken an die Eltern erhalten und pflegen muss - egal, was für krumme Hunde sie zu Lebzeiten auch ge- wesen sind: ist doch dieses Andenken das eigenste, was das Kind hat und was ihm verblieben ist!
Aber komisch - erst müssen die Eltern gestorben sein.
Denn solange sie leben, ist drlei Taktgefühl ganz und gar nicht selbstverständlich. Sind die lebenden Eltern Ver- sager, so glaubt man, dem Kind einen Gefallen zu tun, wenn man ihm sagt: Denk nicht mehr dran, hier hast du neue Eltern, die sind viel besser für dich!
Das kann nicht gutgehen.
Sicher kann man mit Freundlichkeit und Güte ein Kind dazu bringen, einige Jahre lang gute Miene zu diesem Spiel zu machen. Aber früher oder später wird es sich dafür rächen, dass man es um einen Teil seiner Lebens- geschichte, ja um den Kern seiner persönlichen Idetität hat betrügen wollen - so, als dürfte man ihm selbst das Intimste fortnehmen, weil es eben "noch ein Kind" ist. (Und im Interesse des Kindes muss man sogar wün- schen, dass es sich früher dafür zu rächen beginnt, als später...)
Es ist bestimmt kein Zufall, dass in unsere Kinderheimen der Anteil adoptierter Kinder so unvergleichlich viel höher ist, als in der Gesamtbevölkerung!
Denn nicht nur für die Kindern, auch für die Ersatz-Eltern ist das Vater-Mutteer-Spiel eine Zumutung, der sie nicht gewachsen ein können.
Im Herzen die Mördergrube
Wie jedermann weiß, sind Kinder nicht zu allen Zeiten reizend, sie geben auch immer wieder mal Anlass, sich herzlich über sie zu ärgern; sie sind nämlich auch nicht besser als die Erwachsenen. Wo wäre die Mutter, wo wäre der Vater, dem es bei solchen Gelegenheiten nicht schon einmal heiß durch den Kopf geschossen ist: "Wieso musste gerade ich ein so missratenes Kind bekommen?" - oder gar: "Wie gut haben es doch Leute, die ohne Kinder sind!"
Natürlich schämen sie sich schon Sekunden später so liebloser und undankbarer Einfälle: "Was einem doch im Zorn für irres Zeug in den Sinn kommt!" Und vielleicht ist ihnen vor Wut sogar ein unbedachtes Wort entfah- ren. Aber dann sagen sie sich, wenn sie durch übermäßige Fachlektüre nicht verdorben sind: Besser, die Seele macht sich mal Luft, als dass die Kinder dauernd in einer Hochdruckkabine leben müssen. Und mit Recht ver- trauen die Eltern darauf, dass ihre Kinder, wenn auch gekränkt, doch im Grunde wissen, dass es "nicht so ge- meint" war.
Wie anders bei künstlichen Eltern! Gedanken solcher Art dürfen sie schon vor sich selbt gar nicht erst zulassen.
Denn ist der Satz: "Wieso musste gerade ich...?" erst einmal gedacht, dann folgt die Assoziation zurückgeben-um- tauschn-abschaffen so sicher wie das Amen in der Kirche. Und wenn sie gleich darauf vor Scham rotglühen und ihnen der Schweiß auf die Stirn tritt, dann... macht das die Sache nur noch schlimmer. Sie können sich nicht so leicht beruhigen: Ach, das musste mal raus, und: Mein Kind wird es schon nicht so schwer nehmen, es weiß ja, dass wir es lieben.
Das angenommene Kind kann ganz und gar nicht sicher sein, dass es - 'irgendwie' - geliebt wird. Es wird nie genau erfahren, aus welchm Grund seine Ersatzeltern es überhaupt "haben wolten". Es ist von Anfang an auf der Hut: Was wollen sie eigentlich von mir? Wie weit tragen ihre Versicherungen? Und natürlich wird es immer wieder die Tragfähigkeit der Eisdecke ausprobieren wollen.
Da kommt eine Spirale in Bewegung, selbst wo man es kaum wahrnimmt. Je energischer das Ersatzkind die Ersatzeltern auf die Probe stellt, umso stärker strapaziert es ihre Nerven. Und umso öfter meldet sich der Ver- dacht, dass ein Feher war, als man "ausgerechnet dieses Kind..."
Und ist die Idee einmal da, sitzt sie wie ein Stachel im Fleisch. Man muss sie mit großem Aufwand niederkämp- fen, indem man sich einredet dass - man sie nie gehabt habe.
Tödliche Ungewissheit
Der Gestus 'Ab heute bin ich deine Mutter' ist eine Lebenslüge, die dem Kind untergejubelt wird. Sie führt eine gründliche und wesentliche Unaufrichtigkeit in den Alltag der Ersatzfamilie ein. Nichts ist mehr selbstverständ- lich, alles unterliegt dem Zweifel: Ist das auch wahr? Auf was kann ich mich noch verlassen?
Man belauert sich selbst und alle andern. Und das ist das Gegenteil von familiärer Geborgenheit, mit der die Ersatzelternschaft eigentlich begründet werden sollte.
Jede pädagogische Stätte, die darauf begründet ist, dass den Kindern andere Eltern gegeben und dass ihnen zugemutet wird, einen Teil ihres Leben schlicht und einfach als ungeschehen zu betrachten, ist eine Zeitbombe auf ihrem Lebensweg. Das gute Gewissen der Erwachsenen von heute wird da erkauft mit einer Hypothek auf den Seelenfrieden der Kinder - morgen.
Es kann sein, dass Kinder aus dem einen oder andern Grund zeitweilig nicht im selben Haushalt leben können wie ihre Eltern. Aber ein Grund, ihrer leibliche Eltern durch "bessere" Eltern zu ersetzen, ist das noch lange nicht.
*) ders., Vom Schlechten des Guten, München 1986, S. 39
Nachtrag. Als der Text in einer Zeitschrift erschien, die die Standesinteressen der Heimerzieherschaft vertrat, musste es scheinen, dass er die Pflegeelternschaft kritisierte, um Heimeinweisungen zu propagieren. Das war ganz falsch. Ich betrieb damals das Projekt eines Kinderhauses, das im Gegenteil den Zweck verfolgte, "Heim- einweisungen überflüssig zu machen", indem es den Selbtheilungskräften der Familien eine Chance gab und sie in kritischen Phasen von übermäßigem Druck entlastete. Es hat sich damals schnell gezeigt, dass ich in der Heim- erzieherlobby einige meiner giftigsten Gegner hatte.
Im übrigen möge obiger Text nicht doktrinär missverstanden werden. Nicht dass in Pflegefamilien Ungewiss- heit herrscht, macht ihre Problematik aus - Unsicherheit gehört zum Leben, übermäßige Sicherheit erstickt alles -, sondern dass es zu viel davon gibt. Im konkreten Fall mag so ein Pflegeverhältni sehr gut ausgehen. Aber das ist nicht das Wahrscheinlichste. Es ist schon wahrscheinlicher, dass es für alle Beteiligten belastend ist - und ob man das riskiert, wäre im Einzelfall zu prüfen.
Dabei ist zu bedenken: Gehts gut, ist es gut; aber geht es schlecht, ist keine Reißleine da, und man merkt es immer zu spät.
Das bedeutet nur, dass man das Pflegeelternmodell nicht für eine Standardlösung halten soll, sondern für eine zu begründende Ausnahme.
Nicht verschwiegen werden darf, dass es für die Bevorzugung von Pfegeplätzen einen triftigen fiskalische Grund gibt: Sie sind viel billiger als Heimplätze. Nämlich im Einzelfall, wenn's soweit ist: wenn Fremdunter- bringung fällig wird. Doch ist die Betrachtung der Einzelfälle nicht nur fiskalisch, sondern vor allem fachlich falsch, weil kostspielig: Eine präventive, nämlich systemische Herangehensweise kommt nicht nur den Steuerzahler billiger, sondern reduziert flächendeckend die menschlichen Unkosten.
Den folgenden Text habe ich im Sommer 1991 geschrieben als Entgegnung auf einen enthusia- stischen Bericht über Kinderdörfer und Pflegefamilien, der in einer ostberliner Tageszeitung er- schienen war. Als Leserbrief war er viel zu lang, und ich überließ ihn seinem Schicksal. Schließlich tauchte er in N°1 der Heimerzieherzeitung Berlin-Brandenburg vom Sept./Okt. 1991 auf. JE
Die eigenen Eltern kann niemand ersetzen.
oder: Das Gegenteil des Schlechten ist nicht immer das Gute.
Heimerziehung in der DDRwar bekannt als ein Kollektivismus der Kaserne, wo die Geselligkeit durch die Vor- schrift ersetzt wurde. Die SED-Obrigkeit war so schnell bei der Hand gewesen, den "unwürdigen Eltern" ihre Kinder wegzunehmen. Da liegt es nun nahe, sich das Heil vom geraden Gegenteil zu erhoffen: Die schlechteste Familie ist immer noch besser als das beste Heim - und wenn es dreist eine Ersatzfamilie ist.
Allerdings sollte man dabei Paul Watzlawicks Hinweis nich überhören, "dass das Gegenteil von schlecht nicht notwendigerweise gut ist, sondern noch schlechten sein kann".* Denn sieht man sich das von etlichen so warm befürwortete Alternativ-Modell der Albert-Schweizeer-Kinderdörfe einmal näher an, so finden wir hier genau das wieder, was zuvor abgelehnt worden war: An die Stelle der "schlechten" Familie soll die "bessere" gesetzt werden - und nun sogar, indem man Kindern bessere... Eltern verschreibt.
Es wird wohl seinen Grund haben, weshalb das Patentrezepz der Ersatzfamilie im Westen, wo es seit Kriegs- ende ungehindert propagiert werden konnte, so wenig Echo gefunden hat - und dass sich die Hermann-Gmeiner-Kinderdörfer unteer der Hand vom Vater-und-Mutter-Spiel längst verabschiedet haben. Es handelt sich nämlich um eine pädagogische Tretmine. Vom Standpunkt der betroffenen Kinder ebenso, wie für die Ersatzeltern.
Eine Beziehungsfalle
Wenn ein Kind Vater und Mutter vorloren hat, leuchtet es jedermann ohne weiteres ein, dass man ihm sein Andenken an die Eltern erhalten und pflegen muss - egal, was für krumme Hunde sie zu Lebzeiten auch ge- wesen sind: ist doch dieses Andenken das eigenste, was das Kind hat und was ihm verblieben ist!
Aber komisch - erst müssen die Eltern gestorben sein.
Denn solange sie leben, ist drlei Taktgefühl ganz und gar nicht selbstverständlich. Sind die lebenden Eltern Ver- sager, so glaubt man, dem Kind einen Gefallen zu tun, wenn man ihm sagt: Denk nicht mehr dran, hier hast du neue Eltern, die sind viel besser für dich!
Das kann nicht gutgehen.
Sicher kann man mit Freundlichkeit und Güte ein Kind dazu bringen, einige Jahre lang gute Miene zu diesem Spiel zu machen. Aber früher oder später wird es sich dafür rächen, dass man es um einen Teil seiner Lebens- geschichte, ja um den Kern seiner persönlichen Idetität hat betrügen wollen - so, als dürfte man ihm selbst das Intimste fortnehmen, weil es eben "noch ein Kind" ist. (Und im Interesse des Kindes muss man sogar wün- schen, dass es sich früher dafür zu rächen beginnt, als später...)
Es ist bestimmt kein Zufall, dass in unsere Kinderheimen der Anteil adoptierter Kinder so unvergleichlich viel höher ist, als in der Gesamtbevölkerung!
Denn nicht nur für die Kindern, auch für die Ersatz-Eltern ist das Vater-Mutteer-Spiel eine Zumutung, der sie nicht gewachsen ein können.
Im Herzen die Mördergrube
Wie jedermann weiß, sind Kinder nicht zu allen Zeiten reizend, sie geben auch immer wieder mal Anlass, sich herzlich über sie zu ärgern; sie sind nämlich auch nicht besser als die Erwachsenen. Wo wäre die Mutter, wo wäre der Vater, dem es bei solchen Gelegenheiten nicht schon einmal heiß durch den Kopf geschossen ist: "Wieso musste gerade ich ein so missratenes Kind bekommen?" - oder gar: "Wie gut haben es doch Leute, die ohne Kinder sind!"
Natürlich schämen sie sich schon Sekunden später so liebloser und undankbarer Einfälle: "Was einem doch im Zorn für irres Zeug in den Sinn kommt!" Und vielleicht ist ihnen vor Wut sogar ein unbedachtes Wort entfah- ren. Aber dann sagen sie sich, wenn sie durch übermäßige Fachlektüre nicht verdorben sind: Besser, die Seele macht sich mal Luft, als dass die Kinder dauernd in einer Hochdruckkabine leben müssen. Und mit Recht ver- trauen die Eltern darauf, dass ihre Kinder, wenn auch gekränkt, doch im Grunde wissen, dass es "nicht so ge- meint" war.
Wie anders bei künstlichen Eltern! Gedanken solcher Art dürfen sie schon vor sich selbt gar nicht erst zulassen.
Denn ist der Satz: "Wieso musste gerade ich...?" erst einmal gedacht, dann folgt die Assoziation zurückgeben-um- tauschn-abschaffen so sicher wie das Amen in der Kirche. Und wenn sie gleich darauf vor Scham rotglühen und ihnen der Schweiß auf die Stirn tritt, dann... macht das die Sache nur noch schlimmer. Sie können sich nicht so leicht beruhigen: Ach, das musste mal raus, und: Mein Kind wird es schon nicht so schwer nehmen, es weiß ja, dass wir es lieben.
Das angenommene Kind kann ganz und gar nicht sicher sein, dass es - 'irgendwie' - geliebt wird. Es wird nie genau erfahren, aus welchm Grund seine Ersatzeltern es überhaupt "haben wolten". Es ist von Anfang an auf der Hut: Was wollen sie eigentlich von mir? Wie weit tragen ihre Versicherungen? Und natürlich wird es immer wieder die Tragfähigkeit der Eisdecke ausprobieren wollen.
Da kommt eine Spirale in Bewegung, selbst wo man es kaum wahrnimmt. Je energischer das Ersatzkind die Ersatzeltern auf die Probe stellt, umso stärker strapaziert es ihre Nerven. Und umso öfter meldet sich der Ver- dacht, dass ein Feher war, als man "ausgerechnet dieses Kind..."
Und ist die Idee einmal da, sitzt sie wie ein Stachel im Fleisch. Man muss sie mit großem Aufwand niederkämp- fen, indem man sich einredet dass - man sie nie gehabt habe.
Tödliche Ungewissheit
Der Gestus 'Ab heute bin ich deine Mutter' ist eine Lebenslüge, die dem Kind untergejubelt wird. Sie führt eine gründliche und wesentliche Unaufrichtigkeit in den Alltag der Ersatzfamilie ein. Nichts ist mehr selbstverständ- lich, alles unterliegt dem Zweifel: Ist das auch wahr? Auf was kann ich mich noch verlassen?
Man belauert sich selbst und alle andern. Und das ist das Gegenteil von familiärer Geborgenheit, mit der die Ersatzelternschaft eigentlich begründet werden sollte.
Jede pädagogische Stätte, die darauf begründet ist, dass den Kindern andere Eltern gegeben und dass ihnen zugemutet wird, einen Teil ihres Leben schlicht und einfach als ungeschehen zu betrachten, ist eine Zeitbombe auf ihrem Lebensweg. Das gute Gewissen der Erwachsenen von heute wird da erkauft mit einer Hypothek auf den Seelenfrieden der Kinder - morgen.
Es kann sein, dass Kinder aus dem einen oder andern Grund zeitweilig nicht im selben Haushalt leben können wie ihre Eltern. Aber ein Grund, ihrer leibliche Eltern durch "bessere" Eltern zu ersetzen, ist das noch lange nicht.
*) ders., Vom Schlechten des Guten, München 1986, S. 39
Nachtrag. Als der Text in einer Zeitschrift erschien, die die Standesinteressen der Heimerzieherschaft vertrat, musste es scheinen, dass er die Pflegeelternschaft kritisierte, um Heimeinweisungen zu propagieren. Das war ganz falsch. Ich betrieb damals das Projekt eines Kinderhauses, das im Gegenteil den Zweck verfolgte, "Heim- einweisungen überflüssig zu machen", indem es den Selbtheilungskräften der Familien eine Chance gab und sie in kritischen Phasen von übermäßigem Druck entlastete. Es hat sich damals schnell gezeigt, dass ich in der Heim- erzieherlobby einige meiner giftigsten Gegner hatte.
Im übrigen möge obiger Text nicht doktrinär missverstanden werden. Nicht dass in Pflegefamilien Ungewiss- heit herrscht, macht ihre Problematik aus - Unsicherheit gehört zum Leben, übermäßige Sicherheit erstickt alles -, sondern dass es zu viel davon gibt. Im konkreten Fall mag so ein Pflegeverhältni sehr gut ausgehen. Aber das ist nicht das Wahrscheinlichste. Es ist schon wahrscheinlicher, dass es für alle Beteiligten belastend ist - und ob man das riskiert, wäre im Einzelfall zu prüfen.
Dabei ist zu bedenken: Gehts gut, ist es gut; aber geht es schlecht, ist keine Reißleine da, und man merkt es immer zu spät.
Das bedeutet nur, dass man das Pflegeelternmodell nicht für eine Standardlösung halten soll, sondern für eine zu begründende Ausnahme.
Nicht verschwiegen werden darf, dass es für die Bevorzugung von Pfegeplätzen einen triftigen fiskalische Grund gibt: Sie sind viel billiger als Heimplätze. Nämlich im Einzelfall, wenn's soweit ist: wenn Fremdunter- bringung fällig wird. Doch ist die Betrachtung der Einzelfälle nicht nur fiskalisch, sondern vor allem fachlich falsch, weil kostspielig: Eine präventive, nämlich systemische Herangehensweise kommt nicht nur den Steuerzahler billiger, sondern reduziert flächendeckend die menschlichen Unkosten.
"Fremdunterbringung vermeiden."
aus Badische Zeitung, 30. April 2019
Zahl der Pflegekinder in Deutschland auf Höchststand
Berlin (dpa) - Die Zahl der in Pflegefamilien
untergebrachten Kinder ist auf einen Höchststand gestiegen. Das
berichtet die «Welt» und beruft sich auf eine Antwort der
Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linken im Bundestag.
Demnach stieg die Zahl der Kinder, die zur Vollzeitpflege in Pflegefamilien leben, kontinuierlich von gut 60.000 Kindern im Jahr 2008 auf den bisherigen Höchststand von mehr als 81.000 im Jahr 2017. Knapp 100 000 weitere Kinder und Jugendliche waren 2017 demnach in Heimerziehung untergebracht.
Durchschnittlich leben Kinder etwa 16 Monate lang in Kinder- und Jugendheimen, wie die «Welt» schreibt, die Dauer sei relativ konstant. Die Aufenthaltsdauer in Pflegefamilien stieg jedoch von 27 Monaten im Jahr 2008 auf inzwischen 30 Monate an.
Der Großteil der Kinder und Jugendlichen in Pflegefamilien kommen nach Angaben der Bundesregierung aus sozial schwachen Verhältnissen: 78 Prozent der Kinder stammen demnach aus Herkunftsfamilien, die Transferleistungen beziehen, 55 Prozent aus Alleinerziehendenhaushalten.
Den kinder- und jugendpolitischen Sprecher der Linksfraktion, Norbert Müller, zitiert die Zeitung mit den Worten: «Kinderarmut bedeutet strukturelle Kindeswohlgefährdung - das zeigen die Zahlen deutlich.» Die Verantwortung trügen dafür nicht die Eltern, sondern eine Sozialpolitik, die Arme systematisch ausgrenze und benachteilige.In vielen Bundesländern werden Pflegefamilien für Kinder und Jugendliche gesucht, wie vor wenigen Tagen eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur ergab. In Berlin fehlen jährlich etwa 500 Familien, wie die Familien für Kinder gGmbH erklärte. Nach Angaben des nordrhein-westfälischen Familienministeriums suchen die dortigen Jugendämter verstärkt nach Pflegeeltern. Auch in Bayern gibt es zu wenig Paare für die Betreuung von Kindern, die zeitweise oder dauerhaft nicht in ihrer eigenen Familie leben können. (dpa)
Nota. - Bis weit in die neunziger Jahre laute der letzte Schrei in der Jugendhilfe Fremdunterbringung nach Möglichkeit vermeiden! Das klang beinahe revolutionär - war doch das Heim ein Jahrhundert lang sowohl Fundament als auch Schlussstein der Jugendfürsorge gewesen! Dem Geist der Zeit und namentlich der "Heimkampagne" des Jahres '68 folgend, sollte aus der behördlichen Fürsorge nunmehr sozialarbeiterliche Hilfe werden; festgeschrieben im neuen Kinder- und Jugendhilfe-Gesetz, das nach langen Wehen 1991 endlich das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz aus dem Jahre 1927 ersetzt hat.
Wollte da ein Bürokratie freiwillig auf den Zugriff auf ihre Untertanen lockern? Ach, weit gefehlt. Es schoss vielmehr die Plethora der ambulanten Maßnahmen ins Kraut, die vielen Sozialarbeitern neue Beschäftigungsmöglichkeiten schafften und die im Hintergrund lauernden Heime erst dann in Anspruch nahmen, wenn sich die ambulant Maßgenommenen über Jahre als restistent erwiesen hatten und als Ultima Ratio "nichts anderes mehr übrigblieb" - und dann wiederum die Erwartung bestätigten, dass Fremdunter- bringung nichts bringt. Ein Zirkel, der viele Steuermittel kostete und nur den Professionellen und dem See- lenfrieden der Verwaltungen gedient hat.
Aber es wurde immerhin so getan, als lägen den behördlichen Entscheidungen fachliche Erwägungen zu Grunde.
Seit Mitte der neunziger Jahre stand auch die Jugendhilfe im Zeichen des Sparens. Die Stadtkämmerer konnten auch bei gutem Willen dem unvermeidlich Ruf nach mehr Personal nicht mehr nachgeben, und den Jugendämtern blieb nichts übrig, als allüberall nach den billigsten Angeboten zu suchen. Die Folgen sind verheerend. Von fachlichen Debatten in Jugendhilfe und Sozialarbeit ist - mindestens in der interessierten Öffentlichkeit - nichts mehr zu hören, Jedem sitzt das Hemd näher als die Hose, und alle machen klein-klein.
Und darum erleben wir ein Anschwellen der... Femdunterbringung! Dass das alles am Ende doch nur immer teurer wird, ist noch der geringste Skandal. Dass viele tausend Leben schon in frühen Jahren beschädigt werden, ist ein viel größerer.
Der allergrößte ist aber, dass seit einem Vierteljahrhundert die Alternativen bekannt sind - aber gegen den Willen einer gefräßigen Bürokratie nie ein Chance bekamen.
JE
17. 9. 2017
Ersatzfamilien?
daddylicious
Den folgenden Text habe ich im Sommer 1991 geschrieben als Entgegnung auf einen enthusia- stischen Bericht über Kinderdörfer und Pflegefamilien, der in einer ostberliner Tageszeitung er- schienen war. Als Leserbrief war er viel zu lang, und ich überließ ihn seinem Schicksal. Schließlich tauchte er in N°1 der Heimerzieherzeitung Berlin-Brandenburg vom Sept./Okt. 1991 auf. JE
Die eigenen Eltern kann niemand ersetzen.
oder: Das Gegenteil des Schlechten ist nicht immer das Gute.
Heimerziehung in der DDRwar bekannt als ein Kollektivismus der Kaserne, wo die Geselligkeit durch die Vor- schrift ersetzt wurde. Die SED-Obrigkeit war so schnell bei der Hand gewesen, den "unwürdigen Eltern" ihre Kinder wegzunehmen. Da liegt es nun nahe, sich das Heil vom geraden Gegenteil zu erhoffen: Die schlechteste Familie ist immer noch besser als das beste Heim - und wenn es dreist eine Ersatzfamilie ist.
Allerdings sollte man dabei Paul Watzlawicks Hinweis nich überhören, "dass das Gegenteil von schlecht nicht notwendigerweise gut ist, sondern noch schlechten sein kann".* Denn sieht man sich das von etlichen so warm befürwortete Alternativ-Modell der Albert-Schweizeer-Kinderdörfe einmal näher an, so finden wir hier genau das wieder, was zuvor abgelehnt worden war: An die Stelle der "schlechten" Familie soll die "bessere" gesetzt werden - und nun sogar, indem man Kindern bessere... Eltern verschreibt.
Es wird wohl seinen Grund haben, weshalb das Patentrezepz der Ersatzfamilie im Westen, wo es seit Kriegs- ende ungehindert propagiert werden konnte, so wenig Echo gefunden hat - und dass sich die Hermann-Gmeiner-Kinderdörfer unteer der Hand vom Vater-und-Mutter-Spiel längst verabschiedet haben. Es handelt sich nämlich um eine pädagogische Tretmine. Vom Standpunkt der betroffenen Kinder ebenso, wie für die Ersatzeltern.
Eine Beziehungsfalle
Wenn ein Kind Vater und Mutter vorloren hat, leuchtet es jedermann ohne weiteres ein, dass man ihm sein Andenken an die Eltern erhalten und pflegen muss - egal, was für krumme Hunde sie zu Lebzeiten auch ge- wesen sind: ist doch dieses Andenken das eigenste, was das Kind hat und was ihm verblieben ist!
Aber komisch - erst müssen die Eltern gestorben sein.
Denn solange sie leben, ist drlei Taktgefühl ganz und gar nicht selbstverständlich. Sind die lebenden Eltern Ver- sager, so glaubt man, dem Kind einen Gefallen zu tun, wenn man ihm sagt: Denk nicht mehr dran, hier hast du neue Eltern, die sind viel besser für dich!
Das kann nicht gutgehen.
Sicher kann man mit Freundlichkeit und Güte ein Kind dazu bringen, einige Jahre lang gute Miene zu diesem Spiel zu machen. Aber früher oder später wird es sich dafür rächen, dass man es um einen Teil seiner Lebens- geschichte, ja um den Kern seiner persönlichen Idetität hat betrügen wollen - so, als dürfte man ihm selbst das Intimste fortnehmen, weil es eben "noch ein Kind" ist. (Und im Interesse des Kindes muss man sogar wün- schen, dass es sich früher dafür zu rächen beginnt, als später...)
Es ist bestimmt kein Zufall, dass in unsere Kinderheimen der Anteil adoptierter Kinder so unvergleichlich viel höher ist, als in der Gesamtbevölkerung!
Denn nicht nur für die Kindern, auch für die Ersatz-Eltern ist das Vater-Mutteer-Spiel eine Zumutung, der sie nicht gewachsen ein können.
Im Herzen die Mördergrube
Wie jedermann weiß, sind Kinder nicht zu allen Zeiten reizend, sie geben auch immer wieder mal Anlass, sich herzlich über sie zu ärgern; sie sind nämlich auch nicht besser als die Erwachsenen. Wo wäre die Mutter, wo wäre der Vater, dem es bei solchen Gelegenheiten nicht schon einmal heiß durch den Kopf geschossen ist: "Wieso musste gerade ich ein so missratenes Kind bekommen?" - oder gar: "Wie gut haben es doch Leute, die ohne Kinder sind!"
Natürlich schämen sie sich schon Sekunden später so liebloser und undankbarer Einfälle: "Was einem doch im Zorn für irres Zeug in den Sinn kommt!" Und vielleicht ist ihnen vor Wut sogar ein unbedachtes Wort entfah- ren. Aber dann sagen sie sich, wenn sie durch übermäßige Fachlektüre nicht verdorben sind: Besser, die Seele macht sich mal Luft, als dass die Kinder dauernd in einer Hochdruckkabine leben müssen. Und mit Recht ver- trauen die Eltern darauf, dass ihre Kinder, wenn auch gekränkt, doch im Grunde wissen, dass es "nicht so ge- meint" war.
Wie anders bei künstlichen Eltern! Gedanken solcher Art dürfen sie schon vor sich selbt gar nicht erst zulassen.
Denn ist der Satz: "Wieso musste gerade ich...?" erst einmal gedacht, dann folgt die Assoziation zurückgeben-um- tauschn-abschaffen so sicher wie das Amen in der Kirche. Und wenn sie gleich darauf vor Scham rotglühen und ihnen der Schweiß auf die Stirn tritt, dann... macht das die Sache nur noch schlimmer. Sie können sich nicht so leicht beruhigen: Ach, das musste mal raus, und: Mein Kind wird es schon nicht so schwer nehmen, es weiß ja, dass wir es lieben.
Das angenommene Kind kann ganz und gar nicht sicher sein, dass es - 'irgendwie' - geliebt wird. Es wird nie genau erfahren, aus welchm Grund seine Ersatzeltern es überhaupt "haben wolten". Es ist von Anfang an auf der Hut: Was wollen sie eigentlich von mir? Wie weit tragen ihre Versicherungen? Und natürlich wird es immer wieder die Tragfähigkeit der Eisdecke ausprobieren wollen.
Da kommt eine Spirale in Bewegung, selbst wo man es kaum wahrnimmt. Je energischer das Ersatzkind die Ersatzeltern auf die Probe stellt, umso stärker strapaziert es ihre Nerven. Und umso öfter meldet sich der Ver- dacht, dass ein Feher war, als man "ausgerechnet dieses Kind..."
Und ist die Idee einmal da, sitzt sie wie ein Stachel im Fleisch. Man muss sie mit großem Aufwand niederkämp- fen, indem man sich einredet dass - man sie nie gehabt habe.
Tödliche Ungewissheit
Der Gestus 'Ab heute bin ich deine Mutter' ist eine Lebenslüge, die dem Kind untergejubelt wird. Sie führt eine gründliche und wesentliche Unaufrichtigkeit in den Alltag der Ersatzfamilie ein. Nichts ist mehr selbstverständ- lich, alles unterliegt dem Zweifel: Ist das auch wahr? Auf was kann ich mich noch verlassen?
Man belauert sich selbst und alle andern. Und das ist das Gegenteil von familiärer Geborgenheit, mit der die Ersatzelternschaft eigentlich begründet werden sollte.
Jede pädagogische Stätte, die darauf begründet ist, dass den Kindern andere Eltern gegeben und dass ihnen zugemutet wird, einen Teil ihres Leben schlicht und einfach als ungeschehen zu betrachten, ist eine Zeitbombe auf ihrem Lebensweg. Das gute Gewissen der Erwachsenen von heute wird da erkauft mit einer Hypothek auf den Seelenfrieden der Kinder - morgen.
Es kann sein, dass Kinder aus dem einen oder andern Grund zeitweilig nicht im selben Haushalt leben können wie ihre Eltern. Aber ein Grund, ihrer leibliche Eltern durch "bessere" Eltern zu ersetzen, ist das noch lange nicht.
*) ders., Vom Schlechten des Guten, München 1986, S. 39
Nachtrag. Als der Text in einer Zeitschrift erschien, die die Standesinteressen der Heimerzieherschaft vertrat, musste es scheinen, dass er die Pflegeelternschaft kritisierte, um Heimeinweisungen zu propagieren. Das war ganz falsch. Ich betrieb damals das Projekt eines Kinderhauses, das im Gegenteil den Zweck verfolgte, "Heim- einweisungen überflüssig zu machen", indem es den Selbtheilungskräften der Familien eine Chance gab und sie in kritischen Phasen von übermäßigem Druck entlastete. Es hat sich damals schnell gezeigt, dass ich in der Heim- erzieherlobby einige meiner giftigsten Gegner hatte.
Im übrigen möge obiger Text nicht doktrinär missverstanden werden. Nicht dass in Pflegefamilien Ungewiss- heit herrscht, macht ihre Problematik aus - Unsicherheit gehört zum Leben, übermäßige Sicherheit erstickt alles -, sondern dass es zu viel davon gibt. Im konkreten Fall mag so ein Pflegeverhältni sehr gut ausgehen. Aber das ist nicht das Wahrscheinlichste. Es ist schon wahrscheinlicher, dass es für alle Beteiligten belastend ist - und ob man das riskiert, wäre im Einzelfall zu prüfen.
Dabei ist zu bedenken: Gehts gut, ist es gut; aber geht es schlecht, ist keine Reißleine da, und man merkt es immer zu spät.
Das bedeutet nur, dass man das Pflegeelternmodell nicht für eine Standardlösung halten soll, sondern für eine zu begründende Ausnahme.
Nicht verschwiegen werden darf, dass es für die Bevorzugung von Pfegeplätzen einen triftigen fiskalische Grund gibt: Sie sind viel billiger als Heimplätze. Nämlich im Einzelfall, wenn's soweit ist: wenn Fremdunter- bringung fällig wird. Doch ist die Betrachtung der Einzelfälle nicht nur fiskalisch, sondern vor allem fachlich falsch, weil kostspielig: Eine systemische Herangehensweise kommt nicht nur den Steuerzahler billiger, sondern reduziert flächendeckend die menschlichen Unkosten.
Den folgenden Text habe ich im Sommer 1991 geschrieben als Entgegnung auf einen enthusia- stischen Bericht über Kinderdörfer und Pflegefamilien, der in einer ostberliner Tageszeitung er- schienen war. Als Leserbrief war er viel zu lang, und ich überließ ihn seinem Schicksal. Schließlich tauchte er in N°1 der Heimerzieherzeitung Berlin-Brandenburg vom Sept./Okt. 1991 auf. JE
Die eigenen Eltern kann niemand ersetzen.
oder: Das Gegenteil des Schlechten ist nicht immer das Gute.
Heimerziehung in der DDRwar bekannt als ein Kollektivismus der Kaserne, wo die Geselligkeit durch die Vor- schrift ersetzt wurde. Die SED-Obrigkeit war so schnell bei der Hand gewesen, den "unwürdigen Eltern" ihre Kinder wegzunehmen. Da liegt es nun nahe, sich das Heil vom geraden Gegenteil zu erhoffen: Die schlechteste Familie ist immer noch besser als das beste Heim - und wenn es dreist eine Ersatzfamilie ist.
Allerdings sollte man dabei Paul Watzlawicks Hinweis nich überhören, "dass das Gegenteil von schlecht nicht notwendigerweise gut ist, sondern noch schlechten sein kann".* Denn sieht man sich das von etlichen so warm befürwortete Alternativ-Modell der Albert-Schweizeer-Kinderdörfe einmal näher an, so finden wir hier genau das wieder, was zuvor abgelehnt worden war: An die Stelle der "schlechten" Familie soll die "bessere" gesetzt werden - und nun sogar, indem man Kindern bessere... Eltern verschreibt.
Es wird wohl seinen Grund haben, weshalb das Patentrezepz der Ersatzfamilie im Westen, wo es seit Kriegs- ende ungehindert propagiert werden konnte, so wenig Echo gefunden hat - und dass sich die Hermann-Gmeiner-Kinderdörfer unteer der Hand vom Vater-und-Mutter-Spiel längst verabschiedet haben. Es handelt sich nämlich um eine pädagogische Tretmine. Vom Standpunkt der betroffenen Kinder ebenso, wie für die Ersatzeltern.
Eine Beziehungsfalle
Wenn ein Kind Vater und Mutter vorloren hat, leuchtet es jedermann ohne weiteres ein, dass man ihm sein Andenken an die Eltern erhalten und pflegen muss - egal, was für krumme Hunde sie zu Lebzeiten auch ge- wesen sind: ist doch dieses Andenken das eigenste, was das Kind hat und was ihm verblieben ist!
Aber komisch - erst müssen die Eltern gestorben sein.
Denn solange sie leben, ist drlei Taktgefühl ganz und gar nicht selbstverständlich. Sind die lebenden Eltern Ver- sager, so glaubt man, dem Kind einen Gefallen zu tun, wenn man ihm sagt: Denk nicht mehr dran, hier hast du neue Eltern, die sind viel besser für dich!
Das kann nicht gutgehen.
Sicher kann man mit Freundlichkeit und Güte ein Kind dazu bringen, einige Jahre lang gute Miene zu diesem Spiel zu machen. Aber früher oder später wird es sich dafür rächen, dass man es um einen Teil seiner Lebens- geschichte, ja um den Kern seiner persönlichen Idetität hat betrügen wollen - so, als dürfte man ihm selbst das Intimste fortnehmen, weil es eben "noch ein Kind" ist. (Und im Interesse des Kindes muss man sogar wün- schen, dass es sich früher dafür zu rächen beginnt, als später...)
Es ist bestimmt kein Zufall, dass in unsere Kinderheimen der Anteil adoptierter Kinder so unvergleichlich viel höher ist, als in der Gesamtbevölkerung!
Denn nicht nur für die Kindern, auch für die Ersatz-Eltern ist das Vater-Mutteer-Spiel eine Zumutung, der sie nicht gewachsen ein können.
Im Herzen die Mördergrube
Wie jedermann weiß, sind Kinder nicht zu allen Zeiten reizend, sie geben auch immer wieder mal Anlass, sich herzlich über sie zu ärgern; sie sind nämlich auch nicht besser als die Erwachsenen. Wo wäre die Mutter, wo wäre der Vater, dem es bei solchen Gelegenheiten nicht schon einmal heiß durch den Kopf geschossen ist: "Wieso musste gerade ich ein so missratenes Kind bekommen?" - oder gar: "Wie gut haben es doch Leute, die ohne Kinder sind!"
Natürlich schämen sie sich schon Sekunden später so liebloser und undankbarer Einfälle: "Was einem doch im Zorn für irres Zeug in den Sinn kommt!" Und vielleicht ist ihnen vor Wut sogar ein unbedachtes Wort entfah- ren. Aber dann sagen sie sich, wenn sie durch übermäßige Fachlektüre nicht verdorben sind: Besser, die Seele macht sich mal Luft, als dass die Kinder dauernd in einer Hochdruckkabine leben müssen. Und mit Recht ver- trauen die Eltern darauf, dass ihre Kinder, wenn auch gekränkt, doch im Grunde wissen, dass es "nicht so ge- meint" war.
Wie anders bei künstlichen Eltern! Gedanken solcher Art dürfen sie schon vor sich selbt gar nicht erst zulassen.
Denn ist der Satz: "Wieso musste gerade ich...?" erst einmal gedacht, dann folgt die Assoziation zurückgeben-um- tauschn-abschaffen so sicher wie das Amen in der Kirche. Und wenn sie gleich darauf vor Scham rotglühen und ihnen der Schweiß auf die Stirn tritt, dann... macht das die Sache nur noch schlimmer. Sie können sich nicht so leicht beruhigen: Ach, das musste mal raus, und: Mein Kind wird es schon nicht so schwer nehmen, es weiß ja, dass wir es lieben.
Das angenommene Kind kann ganz und gar nicht sicher sein, dass es - 'irgendwie' - geliebt wird. Es wird nie genau erfahren, aus welchm Grund seine Ersatzeltern es überhaupt "haben wolten". Es ist von Anfang an auf der Hut: Was wollen sie eigentlich von mir? Wie weit tragen ihre Versicherungen? Und natürlich wird es immer wieder die Tragfähigkeit der Eisdecke ausprobieren wollen.
Da kommt eine Spirale in Bewegung, selbst wo man es kaum wahrnimmt. Je energischer das Ersatzkind die Ersatzeltern auf die Probe stellt, umso stärker strapaziert es ihre Nerven. Und umso öfter meldet sich der Ver- dacht, dass ein Feher war, als man "ausgerechnet dieses Kind..."
Und ist die Idee einmal da, sitzt sie wie ein Stachel im Fleisch. Man muss sie mit großem Aufwand niederkämp- fen, indem man sich einredet dass - man sie nie gehabt habe.
Tödliche Ungewissheit
Der Gestus 'Ab heute bin ich deine Mutter' ist eine Lebenslüge, die dem Kind untergejubelt wird. Sie führt eine gründliche und wesentliche Unaufrichtigkeit in den Alltag der Ersatzfamilie ein. Nichts ist mehr selbstverständ- lich, alles unterliegt dem Zweifel: Ist das auch wahr? Auf was kann ich mich noch verlassen?
Man belauert sich selbst und alle andern. Und das ist das Gegenteil von familiärer Geborgenheit, mit der die Ersatzelternschaft eigentlich begründet werden sollte.
Jede pädagogische Stätte, die darauf begründet ist, dass den Kindern andere Eltern gegeben und dass ihnen zugemutet wird, einen Teil ihres Leben schlicht und einfach als ungeschehen zu betrachten, ist eine Zeitbombe auf ihrem Lebensweg. Das gute Gewissen der Erwachsenen von heute wird da erkauft mit einer Hypothek auf den Seelenfrieden der Kinder - morgen.
Es kann sein, dass Kinder aus dem einen oder andern Grund zeitweilig nicht im selben Haushalt leben können wie ihre Eltern. Aber ein Grund, ihrer leibliche Eltern durch "bessere" Eltern zu ersetzen, ist das noch lange nicht.
*) ders., Vom Schlechten des Guten, München 1986, S. 39
Nachtrag. Als der Text in einer Zeitschrift erschien, die die Standesinteressen der Heimerzieherschaft vertrat, musste es scheinen, dass er die Pflegeelternschaft kritisierte, um Heimeinweisungen zu propagieren. Das war ganz falsch. Ich betrieb damals das Projekt eines Kinderhauses, das im Gegenteil den Zweck verfolgte, "Heim- einweisungen überflüssig zu machen", indem es den Selbtheilungskräften der Familien eine Chance gab und sie in kritischen Phasen von übermäßigem Druck entlastete. Es hat sich damals schnell gezeigt, dass ich in der Heim- erzieherlobby einige meiner giftigsten Gegner hatte.
Im übrigen möge obiger Text nicht doktrinär missverstanden werden. Nicht dass in Pflegefamilien Ungewiss- heit herrscht, macht ihre Problematik aus - Unsicherheit gehört zum Leben, übermäßige Sicherheit erstickt alles -, sondern dass es zu viel davon gibt. Im konkreten Fall mag so ein Pflegeverhältni sehr gut ausgehen. Aber das ist nicht das Wahrscheinlichste. Es ist schon wahrscheinlicher, dass es für alle Beteiligten belastend ist - und ob man das riskiert, wäre im Einzelfall zu prüfen.
Dabei ist zu bedenken: Gehts gut, ist es gut; aber geht es schlecht, ist keine Reißleine da, und man merkt es immer zu spät.
Das bedeutet nur, dass man das Pflegeelternmodell nicht für eine Standardlösung halten soll, sondern für eine zu begründende Ausnahme.
Nicht verschwiegen werden darf, dass es für die Bevorzugung von Pfegeplätzen einen triftigen fiskalische Grund gibt: Sie sind viel billiger als Heimplätze. Nämlich im Einzelfall, wenn's soweit ist: wenn Fremdunter- bringung fällig wird. Doch ist die Betrachtung der Einzelfälle nicht nur fiskalisch, sondern vor allem fachlich falsch, weil kostspielig: Eine systemische Herangehensweise kommt nicht nur den Steuerzahler billiger, sondern reduziert flächendeckend die menschlichen Unkosten.
Abonnieren
Posts (Atom)