Mittwoch, 22. Mai 2019

Credo quia absurdum.


aus Süddeutsche.de, 21. 5. 2019

Ganztag? Bitte nur freiwillig

... Und doch bleibt ein seltsamer Widerspruch: Pädagogikprofessoren mögen begeistert sein von Schulen wie der am Buntentorsteinweg - doch die Mehrheit der Eltern will keine gebundene Ganztagsschule. Zwar wünschen sich einer Studie zufolge 72 Prozent Ganztagsangebote in der Schule, aber 48 Prozent davon meinten eine sogenannte offene. Soll heißen: Unterricht am Vormittag, freiwillige Angebote am Nach- mittag. ...

Auch die Politik schreckt davor zurück, verpflichtende Ganztagsangebote zum Standard zu erklären. Zwar versprach die große Koalition einen "Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter bis 2025", inklusive Milliardenausbauprogramm, aber von Ganztagsunterricht war im Koalitionsvertrag keine Rede. Wie kann das sein, wenn doch dessen Vorteile so klar zu überwiegen scheinen?

Ein Anruf am DIPF Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, bei Eckhard Klieme, der früher die nationale Pisa-Studie leitete und mit Kollegen "StEG" verantwortet, eine Verbundstudie zur Entwicklung von Ganztagsschulen. Klieme sagt: "Die Sache ist eben nicht so klar, wie sie aussieht." Als Pädagoge befürworte auch er das gebundene Konzept, weil es mehr Förderchancen und flexiblere Unter- richtsformen ermögliche. Doch als Bildungsforscher, der die Realität beobachte, müsse er sagen: "Die empirischen Studien liefern bislang keinen belastbaren Beleg dafür, dass sich Schüler an gebundenen Ganztagsschulen besser entwickeln."

"Das ist leider so", bestätigt Kliemes Kollege Klaus Klemm. Jahrzehntelang war Klemm Professor für Bildungsforschung und Bildungsplanung, und ebenso lange beschäftigt ihn das Thema Bildungsgerech- tigkeit. Er ist einer der Autoren, die unter anderem im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung nach den Erfolgs- geheimnissen guter Ganztagsschule geforscht haben. Diese Erfolgsgeheimnisse gebe es, sagt Klemm, aber sie ließen sich nur im Einzelfall nachweisen, nicht in einer Statistik.

Das Problem fange bei der Definition der Kultusministerkonferenz an. "Wenn zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen schon sieben Stunden Schule an drei Tagen die Woche reichen, um als gebundene Ganztags- schule zu gelten, dann fällt faktisch jedes G-8-Halbtagsgymnasium* schon darunter." Exzellente Ganztags- schulen böten weit mehr, aber sie würden statistisch mit den anderen in einen Topf geworfen - aufgrund einer Definition, die Klemm vor allem "ökonomisch motiviert" nennt. "Würde ich höhere Anforderungen definieren, wären Ganztagsschulen plötzlich erheblich teurer."

Hinzu kommt: Solange der pädagogische Erfolg des gebundenen Ganztags nicht nachgewiesen ist, herrscht kein öffentlicher Erwartungsdruck an die Politik, hier mehr Tempo zu machen. Was den Politikern womög- lich ganz recht sei, sagt Eckhard Klieme, weil sie sich ansonsten mit dem Bildungsbürgertum anlegen müssten. Er spricht von "Doppelbödigkeit". Auf der einen Seite seien alle für mehr Bildungsgerechtigkeit. "In dem Augenblick aber, in dem Nägel mit Köpfen gemacht werden und eine Schule etwa verpflichtenden Nachmittagsunterricht mit Sprachförderung für alle einführt, sinkt die Bereitschaft, die eigenen Kinder hinzuschicken, und das Gerede von systematischer Förderung der Benachteiligten löst sich in Wohlgefallen auf." 

Und damit meint er nicht nur die Eltern. Auch viele Lehrer könnten sich nicht vorstellen, den ganzen Arbeitstag in der Schule zu verbringen. "Unterschwellig herrscht in unserer Gesellschaft immer noch die Meinung vor: Es ist gut, wenn die Kinder nachmittags betreut sind. Aber mehr muss gar nicht", sagt Klieme. ...


Nota. - Der Autor der Süddeutschen macht kein Hehl daraus: Ginge es nach ihm, wäre "der Ganztag" un- freiwillig. Dass keine belastbaren Studien über den pädagogischen Sinn der Ganztagsverschulung vorgelegt werden können, macht ihm gar nichts aus. "Bildungsgerechtigkeit" heißt das Glaubensbekenntnis, während jeder, der kein eigenes Interesse an dem Zwangstag hat - und dazu zählen offenbar die Eltern; die Kinder fragt keiner - weiß, dass Alle in einen Topf für fast alle Kinder die ungerechteste Lösung ist.

*) Und wenn Sie nicht aufpassen, lieber Leser, dann steckt er so ganz nebenbei die Finger auch schon nach den Gymnasien aus; bis zum Abitur, nehm' ich an.
JE


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