aus Süddeutsche.de, 23. Oktober 2018, 12:21 Uhr
Die Lösung heißt Ganztagsschule
Ob Kinder gute Noten bekommen, hängt massiv(st) von
ihrer Herkunft ab. Um das zu ändern, müssen Schulen und
Bildungspolitiker endlich reagieren.
Kommentar von Matthias Kohlmaier
Ein aktueller Bericht der OECD
enthält für Deutschlands Schulen gute Nachrichten: Die Schere zwischen
Kindern aus Akademiker- und Arbeiterfamilien hat sich in den vergangenen
Jahren ein wenig geschlossen. Das ändert aber nichts daran, dass
schulischer Erfolg noch immer stark von der sozialen Herkunft abhängt.
Anders gesagt: Oft entscheidet nicht Begabung über Abitur oder
Hauptschulabschluss, sondern die Postleit- zahl.
Reflexhaft rufen nun Lehrkräfte, Elternverbände und Bildungsexperten nach mehr Geld für die Schulen:
für mehr Lehrkräfte, eine modernere digitale Ausstattung der
Klassenzimmer, kleinere Klassen. Dieser Reflex ist richtig und falsch
zugleich. Richtig, weil Investitionen besonders den bisherigen
Bildungsverlierern zu- gutekämen und die Politik tatsächlich seit Jahren
auf Kosten der Schüler gespart hat. Aber der Ruf nach mehr Geld ist auch
falsch, weil er das zentrale Problem verkennt.
Es wird bei der Förderung sozial benachteiligter Schüler wenig helfen, 25 statt 30
Kinder in eine Klasse zu setzen und für ordentliches Wlan an Schulen zu
sorgen. Damit jedes Kind den bestmöglichen Schulab- schluss erreichen
kann, muss zuerst der Einfluss seines persönlichen Umfeldes auf den
Lernerfolg verrin- gert werden. Woher ein Schüler kommt und welchen Job
seine Eltern haben, darf nicht länger relevant sein.
Solange Schule aber in weiten Teilen Deutschlands eine
Halbtagesveranstaltung bleibt, werden auch die Leistungsunterschiede
zwischen Schülern aus unterschiedlichen sozialen Schichten kaum geringer
werden. Denn während die einen bei den Hausaufgaben daheim Hilfe von
den studierten Eltern bekommen oder von einem kundigen Nachhhilfelehrer,
sind die anderen auf sich allein gestellt. Weil die Eltern nicht genug
Geld, Wissen, Zeit, Interesse oder Sprachkenntnisse haben, um
unterstützen zu können.
Ein rascherer Ausbau der Plätze im für alle Schüler
verpflichtenden Ganztagsschulbetrieb könnte für deut- lich mehr
Bildungsgerechtigkeit sorgen. Und zwar dann, wenn man die Ganztagsschule
endlich ernst nimmt. Wenn die Nachmittage nicht allein zur Verwahrung
der Schüler unter Aufsicht dienen, sondern für individuelle Förderung
genutzt werden. So würden alle Kinder gleichermaßen von ausgebildeten
Pädago- gen beim Lernen unterstützt. Und die Postleitzahl spielte beim
Schulabschluss irgendwann kaum noch eine Rolle.
Nota. - Noch wagt er es nicht auszusprechen, doch was er meint, ist offenbar. Das Problem ist, dass manche Kinder Eltern haben, die gebildet sind, und andere Kinder Eltern haben, die selber nicht viel wissen. Damit alle gleiche Chancen haben, wäre es nötig, Kinder aus ihrem bildungsfernen Milieu zu entfernen und in einer geeigneten Anstalt unterzubringen. Damit das nicht nach Diskriminierung der sozial Schwachen aus- sieht, täte man die Kinder der Gebildeten am besten gleich in dieselbe Anstalt.
Das ist über Nacht nicht durchzusetzen, also begnügen wir uns vorerst mit der Ganztagsschule; dass Kin- der ihre Nächte in ihren bildungsfernen Familien verschlafen, wird so schlimm schon nicht sein. Hauptsa- che, sie sind ihrem verblödenden Einfluss entzogen.
*
Das war die seichte Spinnerei der domestizierten Post'68er: die Gesellschaft verbessern durch kompensa- torische Erziehung. Das sind inzwischen ganz alte Leute. Da kann einer, der sich mit Bildungsfragen noch nicht beschäftigt hat, heute ruhig seinem kleinen Vorstellungsvermögen freien Lauf lassen und auch noch hoffen, das ginge inzwischen wieder als ein guter Einfall durch.
Die Schule als normierende Anstalt gesamtgesellschaftlicher Sozialpädagogik; von Bildung und Erziehung ist schon lange nicht mehr die Rede.
JE
aus Tagesspiegel.de, 23. 10. 2018
Wie Schule die Sprache verarmt
Schreiben wird schon in der Schule zu sehr verregelt, analysiert der
Autor Markus Franz - zu Lasten von Verständlichkeit und Verständigung.
Ein Lesetipp.
von Carsten Werner
Sprache
ist familiäre Verständigung, politisches Kampfwerkzeug und ewige
kulturelle Baustelle - nicht erst dieser Tage als verroht und
simplifiziert gegeißelt, als Schlüssel für gesellschaftlichen Diskurs umschwärmt und als Unterrichtsinhalt hoch umstritten.
Und nun auch das noch: Lehrer können nicht richtig schreiben? Oder gar
nicht. Der Titel von Markus Franz' Buch ist gleich eine steile These,
samt appellativem Ausrufezeichen: „Lehrer, Ihr müsst schreiben lernen!“
Seine
Sprachfähigkeit erwirbt der Mensch zunächst zwischen Verwandten,
Freunden und Nachbarn. Dann kommen Kita, Schule, Uni - und Vielfalt,
Schönheit, Klarheit des Sprechens und Schreibens sind schon wieder
futsch? Das ist einer der zentralen Vorwürfe, die Markus Franz dem
Bildungssystem macht. Er hat auf einer Tour durch die deutsche
Bildungslandschaft untersucht, wo unsere Sprache geprägt wird - und
welche Folgen diese Prägung für die Entwicklung der deutschen Sprache in Politik und Gesellschaft hat.
In
Gesprächen mit Lehrerinnen und deren Lehrern, mit
Bildungswissenschaftlern, -politikern und -verwaltern, Autorinnen und
Schülern wird deutlich, wie Sprache systematisiert wird. Sie soll ja
schließlich mit den Nachbarskindern (und im Namen des Standorts und
seiner Bildungsqualität möglichst auch weltweit) vergleichbar sein,
institutionell geprüft und bewertet. Die Benotung von Fantasie, Vielfalt
und Genauigkeit ist schwierig - sie gehen dabei leicht verloren.
Rechtschreibung, Satzbau, Formen und Formeln, akademischer - oder so
wirkender - Stil mit möglichst eindrucksvoller Fachsprache machen ein
„richtig“ oder „falsch“ einfacher. So wird Sprache objektivierbar -
verregelt und verriegelt, zulasten der Verständlichkeit und Verständigung.
Mit anderen Worten
Franz’ Mission wirkt in der Diagnose oft arg hoffnungslos, in ihrer
Konsequenz provozierend. Doch gerade seine als Dialoge notierten
Gespräche strotzen vor machbaren Verbesserungsvorschlägen - und Lust
darauf: gegen die Macht der Hauptworte etwa, für kurze Sätze, für
bildliche Sprache statt Fachchinesisch. Apropos: Franz erinnert nebenbei
an die Macht der Schule, der Lehrer (ob sie wollen oder nicht), ihrer
Analysten und Bewerter. Das geht nicht nur Lehrer an. Denn „Politik
vollzieht sich in Sprache“, wie der SPD-Politiker Erhard Eppler einmal
gesagt hat. Politiker rühmen sich auch heute gern der „klaren Kante“
ihrer Reden und Programme, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
verlangt mahnend „eine gewisse Disziplin bei der Sprache“ und beklagt ihre „Verrohung“,
Grünen-Chef Robert Habeck hat gerade ein ganzes Büchlein
veröffentlicht, in dem er sich um politische Sprache und Kommunikation
sorgt.
Tatsächlich rutschen Fakes und Fakten mit Gemeintem durcheinander, Kürze ersetzt Klarheit: alles im Namen des freien Meinungskampfes.
Doch das sprechende und schreibende, hörende und lesende Gegenüber im
Alltag, auch im politischen Streit, als einmaliges Individuum zu erleben
- das fängt bei der Sprache an. Anspruchsvoller zu schreiben, genauer
zu lesen, mehr zu denken, Zwischentöne zu suchen und Vielfalt als
Genauigkeit zu verstehen, das wäre auch auf Facebook und Twitter ein
Gewinn. Worte, überzeugend formuliert und empathisch verstanden, sind
Auswege aus Elfenbeintürmen und Meinungs-Blasen. Es müsste uns Dichtern
und Denkern nur jemand beibringen. Die Lektüre dieses Buches könnte ein
Anfang sein.
Markus Franz: Lehrer, ihr müsst Schreiben lernen!, Correct!v 2017, 252 Seiten, 20 Euro
aus derStandard.at, 19. Oktober 2018, 08:00
Zwischen Fehlverhalten und Langeweile:
Das Problem schulischer Unterforderung
Kinder
haben unterschiedliche Fähigkeiten. Diese adäquat zu fördern ist in
unserem Schulsystem schwierig. Wie man trotzdem darauf reagieren kann
von Andrea Leidlmayr, Christine Strablegs
Lilly
ist elf und geht gern in die Schule. Sie tut sich leicht, ist an vielem
interessiert und macht auch am Nachmittag ihre Aufgaben in Windeseile,
damit sie dann ihren Freizeitaktivitäten – etwa Tanzen und Klavier
spielen – nachgehen kann. Oft findet sie die Schule auch langweilig,
aber eigentlich ist sie zufrieden, weil sie sich kaum anstrengen muss.
Der
13-jährige Valerian hat es zurzeit nicht gerade einfach. Die Schule
findet er total langweilig, und mit seinen Mitschülern kann er recht
wenig anfangen, die sind ihm alle viel zu dumm. Es ärgert ihn, dass er
immer warten muss, bis die anderen verstanden haben, was gerade erklärt
worden ist. Mit den Lehrerinnen und Lehrern in der Schule hat er viele
Konflikte, und oftmals drohen sie ihm, dass er bald von der Schule
fliegt, wenn er sich nicht zu benehmen weiß. Doch eigentlich findet er
das alles ziemlich ungerecht und hat es satt, sich ständig anzupassen. ...
Hochbegabung – ein bekanntes Phänomen
Des Öfteren
hört man von Kindern mit speziellem Talent oder einer Hochbegabung.
Eltern und Bezugspersonen sowie Pädagoginnen und Pädagogen sind in den
letzten Jahren viel hellhöriger geworden und besser informiert, woran
man merken könnte, dass diese Kinder adäquat gefördert werden sollten
oder eventuell ihren speziellen Talenten viel besser nachgehen könnten.
Kinder
sind in der Schule unterfordert, weil die Gesellschaft versucht, alle
Kinder über einen Kamm zu scheren, sodass alle Kinder im selben Alter
die gleichen Aufgaben lösen können sollen.
Aber Kinder entwickeln
sich unterschiedlich und können ganz verschiedene Fertigkeiten haben. Da
kann ein Kind besser mit Zahlen jonglieren als die Klassenkollegen,
während das nächste sich gerne mit anderen Kindern umgibt und spielt und
ein weiteres gerne die Welt in ihren Zusammenhängen entdeckt.
Doch
unterforderte Kinder sind nicht so leicht zu entdecken, denn die
Abgrenzung zur generellen Hochbegabung ist nicht einfach und auch oft
nicht leicht zu bemerken. Auch ist Vorsicht geboten, denn nicht jedes
Kind, das sich in der Schule leichttut, ist grundsätzlich hochbegabt und
unterfordert.
Unterforderung in der Schule kann sich vielfältig zeigen.
Wenn
Kinder ausgeglichen sind und ihren Wissensdurst auf die Freizeit
verschieben können, dann ist hier seitens der Eltern und Bezugspersonen
dahingehend Unterstützung gefragt. Das Ermöglichen von Aktivitäten sowie
den persönlichen Interessen nachgehen zu können sollte einen Ausgleich
für das Kind schaffen. Auch eine anregende und spannende Lernumgebung
können Eltern und Bezugspersonen zu Hause ermöglichen, indem sie Kindern
Bücher, Dokumentationen oder diverse Lernspiele zur Verfügung stellen.
Da können zum Beispiel gemeinsam Knobel- und Denkspiele gelöst oder nach
speziellen Angeboten gesucht werden.
Unzufriedenheit in der Schule
Sind
Kinder mit der Schule unzufrieden und der Meinung, dass sie mal wieder
nichts Neues gelernt haben und es dort außer langweilig nur langweilig
ist, reicht ihnen oft nicht aus, nur am Nachmittag den Ausgleich zu
finden. Kommen Kinder immer wieder frustriert nach Hause, wirkt sich das
über kurz oder lang auf die Motivation der Kinder, ihre Freude an der
Schule und am Lernen und das Familienklima aus. Dann kann es passieren,
dass ein Kind sagt, dass es nicht mehr in die Schule gehen will.
Dann
sind vermutlich auch andere anregende Aufgaben und Beispiele sowie mehr
oder andere Herausforderungen als für die Mitschülerinnen und
Mitschüler notwendig.
Beobachtet man dies an seinem Kind, ist es
notwendig, ein oder mehrere Gespräche mit der Klassenlehrerin/dem
Klassenlehrer zu führen und gemeinsam zu überlegen, wie man dem Kind
helfen kann. Wahrscheinlich ist hier die Differenzierung in der Klasse
eine Möglichkeit, das Kind auf seinem Lernweg besser begleiten zu
können. Dabei sind die Haltung der Erwachsenen, das begleitende Gespräch
und die Bereitschaft, gemeinsam an einem Strang zu ziehen, sehr
wichtig. Auch die Eltern sind hier gefordert, ihrerseits die Förderung
in der Schule zu unterstützen.
Welche Möglichkeiten zur Verfügung
stehen, welche Ressourcen genutzt werden können und ob es überhaupt eine
Differenzierungsmöglichkeit in Anbetracht der jeweiligen Schulsituation
geben kann, wird in solchen Gesprächen auch klarer. Womöglich kann das
Kind andere Lernmaterialien erhalten – oder aber es können einfache
Aufgaben durch komplexere ersetzt werden. Es gibt viele unterschiedliche
Wege, die oftmals nicht einfach zu finden sind, um Kindern in solchen
Situationen zu helfen, mit Unterforderung besser zurechtzukommen.
Verweigerung als Anzeichen für Unterforderung
Manch
ein Kind zeigt aufgrund von Langeweile und Frustration über zu wenig
Gelerntes Verhaltensauffälligkeiten. Da kann es passieren, dass das Kind
wenig Anschluss an die Klassenkollegen haben will oder sich als
Klassenkasperl aufführt, sich über die dummen Mitschüler beschwert und
keine Hausübungen macht, weil "Es eh alles nix Neues ist", "Das
Babyaufgaben sind" und "Das was für die Dummies ist". Dann macht
eventuell ein Wechsel der Schule oder ein Überspringen der Klasse Sinn.
Da
dies aber einen gravierenden Einschnitt in den Alltag des Kindes, der
Eltern und Bezugspersonen bedeutet, sollte dies zusammen mit den
Lehrenden des Kindes und der Schulleitung genau geplant werden.
Hier
ist es von extremer Wichtigkeit, das Kind, so gut es geht, in die Pläne
miteinzubeziehen und ihm den Grund dafür zu erklären, denn es kann
durchaus sein, dass das Kind in den geplanten Wechsel ganz etwas anderes
hineininterpretiert.
Bevor das Kind wirklich in die andere Schule
oder Klasse wechselt, sollte es die Möglichkeit für ein
"Hineinschnuppern" haben, um ihr oder ihm die Sicherheit zu geben, dass
dies erst einmal ausprobiert und auch noch rückgängig gemacht werden
kann. Meist entspannen sich Kinder bei dem Gedanken daran, erstmals
einen Versuch wagen zu können. Auch für Eltern und Bezugspersonen ist es
eine Erleichterung, nicht gleich eine so folgenschwere Entscheidung
treffen zu müssen, sondern mit Ruhe und Bedacht nach genauem Hinsehen zu
einem Entschluss zu gelangen.
Bedeutsam für so einen Schritt ist
es, dass den Eltern und Bezugspersonen und auch dem Kind klar sein
sollte, dass es in der neuen Schule oder Klasse andere Leistungen
bringen wird müssen und sich die Situation mit den guten Noten eventuell
auch ganz schnell wenden kann. Möglicherweise fehlt ein Stoffgebiet,
das erst neu gelernt werden muss. Dies kann dazu führen, dass erstmal
die Leistungen etwas absinken und sich deshalb erneut Frustration
einstellen kann. Es sollte allen Beteiligten klar sein, dass in der
neuen Klasse die Anforderungen anders sind und das Kind sich erst
einfinden muss.
Wenn aber klar ist, dass es nur eine
vorübergehende Zeitspanne dauert, bis der Stoff aufgeholt ist, dann
bedeutet dies durchaus, dass sich die Entscheidung für Kind, Eltern und
Pädagoginnen und Pädagogen gelohnt hat. ...