Samstag, 31. März 2018

Seit wann Pädagogik eine Wissenschaft sein will.

Kritische Ausgangslage
Der Mensch wird nur durch Erziehung zum Menschen.
Herder
 Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt.  
Alles entartet unter den Händen des Menschen.
Rousseau

Nicht von ungefähr hat Herder seine Ideen zu Papier gebracht.[1] Anlaß war das literarische Großereignis des europäischen 18. Jahrhunderts. Kein anderes Buch hat je die Gemüter seiner Zeitgenossen so ergriffen wie Rousseaus Émile.[2] Die Parole ‚Zurück zur Natur’ steht dort zwar nirgends geschrieben. Wie anders hätten seine Leser den Gedanken, daß alles gut war, als es aus der Hand des Schöpfers kam, und erst durch den gesellschaftli- chen Verkehr und seine Traditionen (alias Kultur) korrumpiert worden sei, aber verstehen sollen! „Die erste Er- ziehung muß also rein negativ sein“, lautete die Konsequenz – „nämlich nichts tun und verhüten, daß etwas ge- tan wird“.[3] Herders trotzige Antwort war, daß „unser Geschlecht nur durch unser Geschlecht gebildet“ werde – „und wie könnten wir dies besser als Überlieferung nennen?“[4]
 

Im Lebenswerk Rousseaus hatte sich das kritische Prinzip der Aufklärung gegen sie selber gewendet. Es hat seine eigne Ironie, wie ihr Grundgedanke von der Allmacht der Erziehung prompt bei einem unserer drei großen Anti- aufklärer[5] ein neues Zuhause fand – und sich dabei zur bloßen Tradition beschied. Ebenso ironisch ist es, daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Fragen der Pädagogik durchaus nicht bei deren Apologeten ihren Ausgang nahm, sondern bei den Kritikern. 



Daß ‚die Praxis’ von alleine ‚zur Theorie drängt’, ist eine Legende. Solang es geht, wird sie sich auch vor neuen Herausforderungen mit dem Spiel von Versuch und Irrtum begnügen. Damit Erziehung in den Bereich wissen- schaftlichen Denkens geriet, mußte auf Seiten der Wissenschaft das Interesse – ein logisches wie ein sachliches – erwachsen sein, auch diesen Ausschnitt der Welt zu vereinnahmen. Mit andern Worten, Wissenschaft mußte be- ginnen, sich zur öffentlich allzuständigen Instanz zu bilden, indem… die Wissenschaftler begannen, sich als gesellschaftlicher Stand festzusetzen. 

Descartes hatte mit seiner Unterscheidung der Zwei Substanzen[6] die Physik aus den Fesseln der Theologie be- freit und der Naturwissenschaft einen gewaltigen Aufschwung beschert. Aber er hatte einen Zwiespalt in die Welt gesetzt, der das Denken beunruhigte. Spinoza[7] hatte den Zwiespalt behoben, indem er die res cogitans ihrerseits als extensa, oder richtiger: als ‚sich ausdehnend’ definiert hatte.[8] Doch in dieser more geometrico rekonstruierten Welt war alles nur ‚Gesetz’ und ‚Determination’. 

Die Individualität, die doch, diesseits aller theoretischen Kon- und Rekonstruktion, zu den lebenspraktisch vor- dringlichen Realitäten gehört, ging unter. Das ‚Ich’ in eine mathematisch erfaßte Welt wieder einzuführen, war das Hauptanliegen von Leibniz.[9] Außer einer ausgedehnten, unendlich teilbaren Materie müsse es wohl noch „wesentliche Einheiten“ geben, die den toten Stoff zu etwas Wirklichem formen. „Man könnte sie metaphysische Punkte nennen: sie haben etwas Lebendiges und eine Art Wahrnehmung“.[10] Die charakteristische Form ihrer Wahrnehmung ist die mathematische: weil „bei der ersten Hervorbringung der Dinge eine gewisse göttliche Mathematik oder ein metaphysischer Mechanismus zur Anwendung kommt“.[11] Diese ‚Monaden’[12] sind geistige Einheiten und sind das eigentlich Reale. 

Diese Metaphysik war gewaltsam konstruiert, und Leibniz macht kein Hehl daraus, daß sie weniger auf Gründen beruht als auf Motiven: Sie kommt ihm „vorteilhaft“ und „schön“ vor.[13] Doch läßt sie sich nachträglich recht- fertigen, indem man sie zu einem – gewissermaßen selbsttragenden – logischen System ausbaut: Wenn alle Teile zusammenpassen, muß das Ganze wohl stimmen. Diesen Ausbau besorgte Christian Wolff,[14] der damit in Deutschland zum beherrschenden Denker seines Jahrhunderts wurde. Rationalismus hieß: die Welt mit Worten ausmessen – und das war „Aufklärung“! Die zahllosen Adepten des ‚Wolff-Leibniz’schen Systems’ machten sich über jeden Winkel der Welt und der Vorstellung her und meinten, eine Sache begriffen zu haben, sobald sie sie definieren konnten. Seither bedeutet Vernunft in Deutschland: sehr, sehr viele Wörter.



[1] J. F. Herder, Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, (1784-91) Darmstadt 1966 
[2] J.J. Rousseau, Émile ou De l’éducation (Amsterdam 1762); dt. Emil oder Über die Erziehung, Paderborn 1971 
[3] ebd, S. 72f. 
[4] Herder aaO, S. 228; 227 
[5] neben Johann Georg Hamann und Friedrich Heinrich Jacobi 
[6] s. hierzu J. Ebmeier, Die Grenzen der pädagogischen Vernunft in PÄD Forum: unterrichten erziehen, Heft 3/03, S. 173f. 
[7] Benedictus (Baruch) de Spinoza, holländischer Philosoph und Optiker; 1632-1677 
[8] Die sich-selber-zur-Welt-ausdehnende denkende Substanz ist niemand anders als ‚Gott’, deus sive natura, und „die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist dasselbe (idem est) wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge“; in: Spinoza, Ethica ordine geometrico demonstrata, (dt./lat.): Die Ethik, Stgt. 1977 (Reclam), II. Teil, 7. Lehrsatz; S. 122f. 
[9] Gottfried Wilhelm Leibniz, dt. Philosoph und Mathematiker; 1646-1716 
[10] Leibniz, Neues System der Natur in: ders., Fünf Schriften zur Logik und Metaphysik, Stgt. 1966 (Reclam), S. 23 
[11] ebd, S. 42 
[12] von gr. monás: Einheit 

[13] Leibniz aaO, S. 33 

Freitag, 30. März 2018

Eine darstellende Kunst.

André Derain, Arlequin et Pierrot
Kommentar zu Performing Art.

Als ich beim ersten Überfliegen vom "Scheitern" gelesen habe, war mir mulmig. Aber beim genaueren Hinsehen hat er die Sache treffend entmystifiziert. Alle Leute haben in allen Berufen mal Erfolg, mal scheitern sie, wieso sollte das bei Pädagogen anders sein? Aber sie neigen eben zum Dramatisieren und Sich-in-Szene-setzen. Und gehen sich dabei willig auf den eigenen Leim, denn pompös und knallig scheitert vor allem der, der sein Maß nicht kennt; der sich überschätzt hat, der von "der Gesellschaft" mehr Zucker erwartet hat, und vor allem: der von den Kindern erwartet hat, dass sie in sein Bild passen. 

Lieber Herr Zöllner, Supervision oder gar Sozialpädagogik (davon verstehe ich was) helfen an der Schule gar nicht weiter. Das Kreuz ist, dass der Lehrer immer allein vor der Klasse steht, wenn's sein muss vor fünf verschiednen Klassen nacheinander. Er hat keine Mitspieler, auch beim Freundschaftsspiel trifft er immer nur auf die Spieler der gegnerischen Mannschaft.

Und da kommen wir zu dem wichtigsten Punkt, den Herr Z. löblicherweise angesprochen hat, aber leider nur nebenher in einer Metapher. Ich habe vor Jahrzehnten meine sozialpädagogischen KollegInnen schockiert mit dem Satz, Pädagogik sei zu 50% Komödie. Das meinte und meine ich aber völlig ernst und wäre froh, wenn ich das einmal ernsthaft diskutieren könnte. Eins wird doch niemand bestreiten wollen: Das ist eine performing art, da kann man nicht unterscheiden zwischen der 'Rolle' und der 'Person'. Nicht das, was er darbietet, ist sein 'Werk', sondern die Darbietung selbst, sein Auftritt mit Haut und Haar. 

Jeden Tag immer wieder neu, ohne Manuskript, ohne Regieanweisung, vor immer wieder neuem und gar nicht immer neugierigem, weil unfreiwilligem Publikum. 
 
Für die Sozialpädagogik hat mir seither die Commedia dell'arte vorgeschwebt, das ist ein Stegreifspiel mit verteilten Rollen, "Charaktermasken", die wissen, was für einen Typ sie darzustellen haben, alles andere improvisieren sie je nach Situation. Der Witz dabei ist freilich, dass sie auf der Bühne nicht bloß agieren, sondern interagieren und sich Stichworte zuwerfen, da kann das Publikum ruhig mitspielen, die Truppe ist selbst gespannt, wie es diesmal ausgeht; und notfalls, wenn die Situation allzu verfahren ist, hat man als Joker immer noch Arlecchino auf der Hinterhand, meist der impresario selbst, der lässt dann den Knoten platzen.
 

So habe ich mir das gedacht, mich aber gehütet, davon zu erzählen, ach das hätte wieder ein Geschrei gegeben! Nun habe ich dieses Fach hinter mir, und ich rede an dieser Stelle über die Schule und über Lehrer. Da gibt es keine Truppe, keiner wirft mal ein Stichwort zu, eher stellen sie einander ein Bein, keiner, dem man außer Puste mal die Führung überlassen kann, und ganz bestimmt keiner, der den Arlecchino macht, jedenfalls nicht wissentlich.
 

Lange Rede kurzer Sinn: 'Erziehen' ist kein Beruf, dazu ist diese 'Tätigkeit' zu unspezifisch. Aber weil es in unseren Gesellschaften pädagogische Institutionen gibt, kann man daraus einen Beruf machen. Absichtsvoll. Mit andern Worten, mehr als in einem jeden andern Beruf mit seiner spezifischen  Tätigkeit muss man sich dabei über die eigene Absicht klarwerden. 
 

- Ach, mit welcher Absicht "soll man" denn erziehen zu seinem Beruf machen wollen?
 

Die Frage ist wie ein Pflasterstein im Froschtümpel. Nach einer spezifischen Absicht darf man nicht suchen. Nicht: Das will ich tun, sondern Der will ich sein. Wer sich zum Künstler berufen fühlt, zum Fachmann fürs Ungefähre und Unvorhergesehene, der darf erziehen zu seinem Beruf machen. Alle andern sollten sich's nochmal überlegen.

Donnerstag, 29. März 2018

Marx'sche Pädagogik.

Kinder als Kugelgiesser an der Barrikade
aus FAZ.NET, 28.03.2018-07:13 

Eine schwere Rüge ins Klassenbuch
Marx unterschied zwischen Erziehung und Bildung und wollte die Kinder technisch schulen. Diese Chance wurde vertan: Heute werden Kinder zum Schleimen, Petzen und Mobben motiviert. 

von Dietmar Dath

Sarkastisch beendet Marx im März 1859 einen Text über den Bildungsstand der Besitzlosen in einer der fortgeschrittensten Industrienationen der Welt, indem er feststellt, dass einschlägige Artikel in den englischen Fabrikgesetzen zwar forderten, „dass die Kinder Bescheinigungen über den Schulbesuch bringen, aber nicht, dass sie etwas gelernt haben müssen“.^ Inzwischen sind wir weiter. Lernen heißt jetzt unter anderem, „gemeinsam ins Gespräch kommen“ über Fragen wie: „Wovor hast du Angst?"
 
Dietmar Dath
Redakteur im Feuilleton.

So jedenfalls wünscht sich’s ein aktuelles Pädagogiklehrbuch zur Vermittlung „emotionaler Kompetenz“, das erklären will, „wie Kinder in der Gemeinschaft stark werden“. Ein anderes schlägt Übungen vor, bei denen die Kleinen sich „mit ihrem Namen identifizieren“ sollen, und „für ältere Kinder kann die Übung modifiziert werden. Sie schreiben auf dem Papierbogen die Buchstaben ihres Vornamens senkrecht untereinander. Zu jedem Buchstaben schreiben sie nun ein Wort auf, das sie in irgendeiner Weise beschreibt. Statt einem Wort können auch mal zwei oder drei Worte aufgeschrieben werden. Besonders schwierige Buchstaben im Namen wie x oder y werden einfach ausgelassen.“ Denn was man nicht gleich oder leicht schafft, das spart man sich am Besten, lernt so der kleine Xaver, der sich dann halt mit der Letternfolge „Aver“ identifiziert, worüber sich die Banknachbarinnen „Slvia“ (biodeutsch) und „Ala“ (muslimisch, beide ohne das störende y) bestimmt mit ihm freuen.

Das klingt sehr anders als bei Marx, der erstens noch zwischen Erziehung und Bildung unterschied, zweitens beides mit der Förderung körperlicher und geistiger Beweglichkeit verwirklichen wollte und drittens eine „polytechnische Ausbildung“ wünschte, welche „die allgemeinen Prinzipien aller Produktionsprozesse vermittelt und gleichzeitig das Kind und die junge Person einweiht in den praktischen Gebrauch und die Handhabung der elementaren Instrumente aller Arbeitszweige“.*

Absicht dabei war, „die Arbeiterklasse weit über das Niveau der Aristokratie und Bourgeoisie“ und deren Bildungsideale zu heben, wodurch Letztere also aufgehoben und übertroffen, keineswegs aber vergessen und verloren sein sollten – die heranwachsenden Menschen wünschte sich Marx dazu befähigt, ihre Geschicke allmählich selbst zu lenken, weswegen er die Sozialdemokratie früh für ihr lasches Verhältnis zur Bildung hart anging, etwa in der „Kritik des Gothaer Programms“: „Der Paragraf über die Schulen hätte wenigstens technische Schulen (theoretische und praktische) in Verbindung mit der Volksschule verlangen sollen.“** 

Diese Chance wurde vertan. Dafür haben wir jetzt das von angeblich lebenslangem Lernen für alle gekennzeichnete Informationszeitalter, in dem, siehe oben, schon Kinder angeleitet werden, miteinander Gefühlslobbyismus zu spielen, und Erwachsene auf dem Handy bei Langeweile sogenannte „Bubbles“ abschießen können, eine Beschäftigung, für die damit geworben wird, man erwerbe und verbessere so das „strategische Denken“. 

In Wirklichkeit reagiert man während solcher „Games“ wie eine Trivialmaschine auf Reize, die von vernunftlosen Vorrichtungen ausgehen, gemäß den schlimmen Unheilsworten von Marx aus dem April 1856: „All unser Erfinden und unser ganzer Fortschritt scheinen darauf hinauszulaufen, daß sie materielle Kräfte mit geistigem Leben ausstatten und das menschliche Leben zu einer materiellen Kraft verdummen. Dieser Antagonismus zwischen moderner Industrie und Wissenschaft auf der einen Seite und modernem Elend und Verfall auf der andern Seite, dieser Antagonismus zwischen den Produktivkräften und den gesellschaftlichen Beziehungen unserer Epoche ist eine handgreifliche, überwältigende und unbestreitbare Tatsache.“***

Wer diesen elenden „gesellschaftlichen Beziehungen“ der Gegenwart früh genug in Kita oder Grundschule unterworfen wird, kann dann zu dem Zeitpunkt, da es fürs Überleben dieses Erziehungs- und Bildungssystems schließlich Reifebescheinigungen gibt, zwar keinen Strahlensatz anwenden, kein Krabbeltierchen bestimmen, keine Verbrennungsreaktion aufschreiben und weder deklinieren noch konjugieren, aber dieses umfassende Unvermögen ist in Gruppen gelernt worden, nur darauf kommt’s an. 

Selbst die Opposition gegen das sozial Vorhandene denkt mittlerweile in solchen naturwüchsigen Gruppen, und auch der Schritt aus dem niederen ins höhere Bildungswesen befreit nicht davon, weil Wohlmeinende an der Universiät Erkennntisinteresse und Erkenntnisarbeit verwechseln. Denn zwar ist empirisch wahr, dass erst mit dem Eintritt von Angehörigen verfolgter, ausgebeuteter oder unterdrückter Gruppen in Forschung und Lehre große Teile der (nicht nur) historischen Wahrheit plötzlich in den akademischen Blick rücken, weil diese Leute eben das nötige Erkenntnisinteresse mitbringen, während die Angehörigen der Täterkollektive ihren (teils geerbten) Vorteil aus jenem Unrecht zogen und eher ein Verkenntnisinteresse haben. Unwahr aber ist, dass irgendeine Gruppe (sagen wir: Arbeiterinnensöhne oder Migrantentöchter) einen epistemisch privilegierten Zugang zur Wahrheit besitzt, sei sie am Unrecht nun ausübend oder erleidend beteiligt (gewesen).

Die Verwechslungen, die da passieren, müsste man geduldig diskutieren, aber die dafür erforderliche Sprache ist, wie Horkheimer schon in den Fünfzigern sah, „tot“, genau wie jede Menge sonstigen Bildungsgutes, und zwar „weil der Einzelne, der zum anderen spricht, als Einzelner, sagen wir als denkendes Subjekt, nichts mehr zu sagen hat – in dem Sinn, wie es heißt: ‚Der hat nichts zu sagen‘, das heißt, der ist ohnmächtig, er kann nichts vollbringen, auf sein Wort hin geschieht nichts“. Noch die sachlich zutreffendsten Äußerungen der scheinbar Mächtigsten erleben wir vor diesem Hintergrund heute als Unfälle aus Themaverfehlung, verhunztem Satzbau und schierem Lallen, etwa bei der Kanzlerin. Diese Entwertung der ehemals den Einzelnen zukommenden Mitteilungsfertigkeiten kommt für Leute, die sich an Marx erinnern, alles andere als überraschend. Denn das Individuum selbst, als bildungsfähiges Subjekt, ist eine Idee aus der Zeit des Konkurrenzkapitalismus, gesetzt unter Motti wie „Talent setzt sich durch“ oder „Fleiß gewinnt“, wofür als logische Voraussetzung eine breite Streuung der Mittel zum Gewinnen und Sichdurchsetzen vorliegen muss, also: des Eigentums.

Diese Eigentumsstreuung, lehrt Marx, weicht im kapitalistischen Spiel aber früher oder später mit Notwendigkeit der Konzentration des Kapitals – „je ein Kapitalist schlägt viele tot“.° Am Ende steht eine Wirklichkeit, in der zum Beispiel eine Erfinderin, wenn sie eine Erfindung erfindet, mit der sie im Konkurrenzkapitalismus reich geworden wäre, ihren Einfall nur noch a.) einer Bank, b.) einem Konzern oder c.) irgendeinem Venturedeppen verkaufen kann, sonst verbünden sich die drei und machen die Frau samt Idee einfach platt. Dieser allgemeinen Schutzgeld- und sonstigen Erpresserrealität entkommen auch Personen in vormals „freien Berufen“ nicht mehr, und so verwandeln sich die vom Kapitalismus zunächst versachlichten (das heißt: auf Leistungen gestellten) sozialen Beziehungen langsam in paradox unpersönlich-persönliche, nämlich solche der Abhängigkeit vom Wohlwollen abstrakt aller („likes“) und konkret einfach zufällig Vorgesetzter. 

In dieser Horrorlandschaft lernen die Kinder folgerichtig, wie man beliebt und unterwürfig zugleich ist, sich so darstellt und mit dieser Darstellung eins wird, also: schleimen, petzen, Mobbing, mit den Wölfen heulen und den eigenen Namen im Stuhlkreis tanzen (statt Gleichungssysteme oder Grammatik). 

Die Eigentumsstreuung von vor zweihundert Jahren ist nicht wiederherstellbar, jedenfalls (entgegen den radikalliberalen Träumen der Leserschaft von „eigentümlich frei“) kaum ohne Vernichtung der gegenwärtigen (und sei’s dezentralen und modularen) globalen Großproduktion, die man sich nicht wünschen sollte, weil sie vor allem Chaos und Massensterben brächte. Das Konkurrenzspiel liegt historisch stromaufwärts, es ist kein Rückgriff darauf zu haben. Das gesamtgesellschaftliche Erpresserwesen lässt sich nur noch für alle aufheben oder für niemanden. Dazu, wie das gehen könnte, hat sich Marx bekanntlich ausführlichere Gedanken gemacht als zur polytechnischen Erziehung; man lese sie nach. 

Bis diese Gedanken aber jemand umsetzt, hat man von der Einsicht in die beschriebenen Zusammenhänge und von etwaigen Bildungsresten im armen Schädel nicht viel, weshalb momentan allerlei uralter Hordenmuff, der neuerdings unter dem schicken Namen „Identität“ wieder im Angebot ist, einer wachsenden Anzahl Unzufriedener Erlösung von ihrer entwerteten Individualität verspricht. Verschmäht man das, so winkt als Trostpreis einstweilen nichts außer dem bisschen Selbstachtung derjenigen, die, wenn sie auf anonyme Weisung des großen Ganzen hin verblöden, seelisch verarmen, intellektuell verstummen, glotzen, klicken und übern Schirm wischen sollen, nicht auch noch dankbar für all die bunte Abwechslung sind. 

^) MEW 13, S. 207
*) MEW 16, S. 195;  Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats zu den einzelnen Fragen 
**) MEW 19, S. 30
***) MEW 12, S. 4.
°) MEW 23, [Kapital I], 791


Nota. - Marxens Überlegungen zur Erziehung und Bildung der Arbeiterkinder nennt die Ziele, die die Arbeiterbewegung innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung anvisieren muss. Er war jedoch ein Gegenr dieser Gesellschaftsordnung und betrieb deren Sturz. Über die Erziehung in einer Idealwelt hat er sich wohlweislich nicht den Kopf zerbrochen. Nur soviel steht fest: Freie Zeit galt ihm als die prosaische Realform von Freiheit.

Natürlich hat Marx keine Allgemeine Pädagogik entworfen. Er wird gemeint haben, nehme ich an, wie zu erziehen sei, müsse je konkret entschieden werden - ja nachdem, welche Absichten man verfolgt, und je nachdem, welche Bedingungen man vorfindet und welche Mittel man einsetzen kann.

Der obige Beitrag zitiert Marx nicht als (positiven) Theoretiker, sondern als Kritiker. Heute, da wir demnächst seinen zweihundertsten Geburtstag haben, erscheint es fast, als hätten alle Reformen in  der Pädagogik gegenüber seiner Zeit nur zweifelhafte Fortschritte und in der Substanz sogar einen deutlichen Rückschritt gebracht. Das Wissen ist wohl allgemeiner als je zuvor, aber zum Preis äußerster Entleerung, und von Bildung der Kinder zu Menschen, deren Wissen zur Macht wird, sind wir augenscheinlich so weit entfernt wie eh. 

Auch an dieser Stelle ist Marx aktuell wie sonst schon.
JE


Dienstag, 27. März 2018

Ein Menschenbild für Pädagogen.



Was er je geworden ist – gemessen an dem, was er alles nicht ist, ist es viel zu wenig. Alle Eigenschaften, die er haben kann, sind ebensoviele Einschränkungen seiner Möglichkeiten: weniger Reichtum als Mangel. Seiner Bestimmung gerecht wird er erst als Mann ohne Eigenschaften. „Kinder sind deshalb am schönsten“, meint Hegel, weil „das Kind in seiner Lebhaftigkeit als die Möglichkeit von allem erscheint“.[20] Das Kind ist das Urbild des modernen Menschen: Es hat noch keine Eigenschaften. Es fühlt sich im Möglichen nicht minder zuhaus als im Wirklichen; eher mehr. Sein – um mit Robert Musil zu reden – Möglichkeitssinn ist ihm präsenter als sein Wirklichkeitssinn: „Alles könnte auch ganz anders sein.“ Darum wurde das Kind zur großen Entdek- kung der Romantik: „Der frische Blick des Kindes ist überschwänglicher als die Ahndung des entschiedensten Sehers“, und „ein Kind ist weit klüger als ein Erwachsener: das Kind muß durchaus ironisches Kind sein“.[21]

Aber auch als Urbild ist es doch bloß ein Bild.

Mögen es sein frischer Blick und der „leichte Sinn für das Zeitliche“ (Fichte) auch auf vertrauten Fuß mit dem Unendlichen setzen – aber es ‚strebt’ ja nicht in der Welt, die „der Fall ist“. Sein Überschwang hält sich in den Grenzen einer ‚Welt’ ad usum Delphini: einer Kunstwelt des harmlosen Scheins. Da kostet es nichts, sich alles „ganz anders“ zu denken. Es ist Gedanken-Spielerei.

Unternehmer an der Grenze

Wirkliches Streben in der Welt der Tatsachen ist Arbeit, nicht Spiel. Der Mensch, der bloß arbeitet, wird zum Philister. Er arbeitet, um sich an seiner Statt einzurichten. Er strebt, um zu haben. Er ist Krämer. Ein Unternehmer ist der, dem am Gewinnen noch mehr gelegen ist als am Gewinn. 

Der eine mag typisch sein für unsere lausigen bürgerlichen Zustände; nämlich sofern alles beim Alten bleibt. Der andere ist charakteristisch für das bürgerliche Geschehen – insofern nämlich, als alles neu werden muß. Der Unternehmer ist ein Spieler in der Welt der Tatsachen. Er hält die Revolution permanent. Er ist der Romantiker, der sein Sach auf Nichts gestellt hat: der „auf eigne Faust lebende Mensch“[22].

Wo er nicht ist, dort ist sein Glück, und dahin ist er immer unterwegs. Er hat alles stets noch vor sich. Er lebt an einer Grenze, die nur da ist, damit er sie übertritt.

So weit als die Welt
So mächtig der Sinn
So viel Fremde er umfangen hält
So viel Heimat ist ihm Gewinn.[23]

Das ist das Menschenbild, das der Erziehung an der Jahrtausendwende vorzuschweben hat; als Stachel, nicht als zu erfüllendes Maß. Nicht als Vorbild, wonach der Pädagoge seinen Zögling modelt, sondern als ein Gleichnis, in dem er sich selbst erkennt. Wenn nicht einmal die Pädagogen Unternehmer wären – ja wer denn dann?
 

Mai 1992

 

[20] Hegel, G. W. F., Ästhetik Bd. I, Berlin-Weimar 1955, S. 153
[21] Novalis
Werke, Bd.III, Zürich. 1945, Bd. III, S. 63, 263
[22] Musil 
R., Der Mann ohne Eigenschaften, Hbg. 1960, S. 130
[23] Brentano, Cl., Godwi, In: Werke (Hg. Kemp), Bd. 2; München 1963-68; S. 17




Montag, 26. März 2018

Ein unwissentlicher Ironiker.


Der moderne Mensch ist ein Wanderer: An seinem Platz ist er immer fremd. Setzt er sich fest, fällt er aus seiner Bestimmung.[12] Das Endliche, das er nur immer hat, wird zur greifbaren Figur erst vorm Hintergrund des Unendlichen, das er haben soll und nicht haben kann. Gewärtig ist ihm das Endliche bloß als ein (zu kleines) Stücklein vom Absoluten. „Wir suchen überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge.“[13] In seiner Welt ist er jenseits. Er ist selber das Paradox: Seine Gottheit ist diesseitig, sein Jenseits hier und jetzt, sein Alltag ist seine Offenbarung, seine Erkenntnis Ironie, denn „jeder Philosoph, der die Immanenz gegen die empirische Person geltend macht, ist ein Ironiker“[14]. Er partizipiert an der Ewigkeit, indem er weiß, daß er nur vorläufig ist.

Es ist die Anschauung des hier-und-jetzt-Gegebenen sub specie aeterni – so „als ob“ es ein Unbedingtes zu vergegenwärtigen habe -, die die Romantiker Ironie genannt haben. „Der Humor, als das umgekehrte Erha- bene, vernichtet nicht das Einzelne, sondern das Endliche durch den Kontrast mit der Idee.“[15] Gemessen an der ‚unendlichen Aufgabe’ wird alles Reale, jedes einmal fertige Produkt, das im Raum und in der Zeit vor- kommt, komisch: Verglichen mit dem, was es vorstellen soll, wirkt es gemein – und rührend zugleich.

„Ironie ist die Form des Paradoxen“, sie repräsentiert den „unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und Bedingten“[16]. Durch sie erst „wird das eigentümlich Bedingte allgemein interessant und erhält objektiven Wert“[17]. „Sie ist die freieste aller Lizenzen, denn durch sie setzt man sich über sich selbst hinweg.“ [18]

Wo das empirische Ich aus sich heraustritt, sich über sich hinwegsetzt und von dort aus – auf sich zurückblickt: dort reden wir von Reflexion. Permanente Reflexion ist der Charakter der bürgerlichen Existenz. Sie ist deren reale Ironie, auch bei einem, dem aller Humor abgeht.

Mann ohne Eigenschaften

Was immer er erreichen will, es ist immer nur der nächstbeste Schritt auf seinem Weg ins Unendliche. Und hat er was erreicht, kehrt es sich gegen ihn als die nächste Schranke auf seinem Weg. Es hält ihn auf, es hält ihn fest, es schmiedet ihn an… das Endliche. Das richtige war es nur, solange er es nicht hatte. Kaum hält er es in Händen, da ist es schon falsch. „Das Endziel hat keine bestimmte Weise, es entwächst der Weise und geht in die Breite.“[19] Was immer er hat, es ist nicht genug. Immer ist er auf dem Weg zu einem andern Ufer. Und wo er sich niederläßt, da – schwebt er nur.

[12] Musil, Der Man ohne Eigenschaften Hbg 1960, S.138f
[13] Novalis Werke, Zürich.1945, Bd. II, S. 10
[14] Marx  Marx, K., und Friedrich Engels, Werke, Eg.-Bd I,  Berlin;1968, S. 221
[15] Jean Paul (Richter, F.), Werke Bd. IV, Leipzig-Wien o.J. (Bibl. Inst.), S. 173
[16] Schlegel. Fr., Werke Bd. I, Berlin-Weimar 1980, S. 172, 182
[17] Novalis,  aaO, S. 17
[18] Schlegel , Werke Bd. I, Berlin-Weimar 1980, S. 182
[19] Eckart, Meister Johannes E. : Deutsche Predigten und Traktate (Hg. J. Quint) München 1979, S. 196

Sonntag, 25. März 2018

Therapieren kann frau gar nicht früh genug; sicher ist sicher.

Aha, ADHS ist also arbeitsmarkpolitisch ausgeschöpft. Jetzt nehmen sie sich die übrigen vor. Wär ja gelacht, wenn wir denen nicht auch was anhängen könnten...
Es gibt wirklich hyperaktive Kinder, die nicht bloß zappelig und ein wenig sprunghaft sind, sondern frühe Anzeichen einer ernsteren Störung zeigen. Wer würde den Erziehern raten, davor die Augen zu schließen und sich um andere Dinge zu kümmern? Aber etwas ganz anderes ist es, wenn Professionelle an eine ganze Altersgruppe mit der festen Absicht herantreten, an ihnen Symptome zu erkennen, die es erforderlich machen, sie einer entgeltlichen Spezialbehandlung zu unterziehen - wobei selbstredend keiner weiß, ob die überhaupt was nützt. 
Nicht jedes Kind, das gelegentlich Pavor nocturnus erlebt, wird später depressiv, sagt beschwichtigend der renommierte ärztlichen Kindertherapeut und Ordinarius. Kann schon sein, entgegnet Diplompsychologin Tanja Göttken, aber sicher ist sicher, so ein klein bisschen Kurzzeitanalyse hat noch keinem geschadet, sie selber ist ganz zufrieden mit sich, und von irgendwas muss der Ofen ja rauchen. 
Machen Sie sich also schonmal auf die nächste Welle gefasst, lieber Leser.
11. 7. 14
 
 

Samstag, 24. März 2018

Das Unglück der Erwachsenheit.

Wie  wir erwachsen wurden.

Erwachsenheit ist nicht die Reifeform des Menschen. Wie der Phänotyp ‚Erwachsener’ entstand, das ist ziemlich genau dieselbe Geschichte, die Norbert Elias als den „Prozeß der Zivilisation“ beschrieben hat: die Ausbildung des bürgerlichen Menschen. Das feudale Mittelalter, das war, mit Egon Friedell zu reden, die Pubertät, waren die „Flegeljahre“ der Europäer (und die griechische Antike war, nach Karl Marx, ihre Kindheit). Die Neuzeit und die Geldwirtschaft machten sie erwachsen.

Die Zivilisierung der Gesellschaft ist die Rationalisierung ihrer Funktionen. Rationalisierung ist Ökonomisie-rung. Rationalität selbst ist Ökonomie der Vorstellung: Einbildungskraft plus Berechnung. Denken, das dient; funktionales Denken: Rationalität ist der abstrakte Begriff von Arbeitsfähigkeit. Und von Arbeitsteilung. Was im Ganzen Teilung ist, bedeutet für den Einzelnen Spezialisierung. Erwachsen sein heißt einen Beruf haben. Und der Weg dorthin heißt: lernen.

Max Weber sprach von der Rationalisierung der modernen Welt als von einer Entzauberung. Bezaubernd war die Welt, solange sie wenigstens an ihrem äußersten Rand noch unbestimmt blieb. Zweckmäßige Bestimmtheit banalisiert sie zur bloßen Umwelt. Webers Begriff der Rationalisierung bezeichnet die durchgehenden Funktionalisierung der bürgerlichen Gesellschaft, wo jedes um eines andern willen da ist; die Zuordnung eines jeden Minus zu einem Plus, eines jeden Topfs zu seinem Deckel, jedes Gegenstands zu seinem Bedürfnis.

Ausgleich, Äquivalenz, Assimilation. Paradigma der bürgerlichen Welt ist der Saldo. Ist nicht aber Surplus der Sinn und Zweck kapitalistischen Wirtschaftens? Ach, kaum ist ein Überschuß erzielt, meldet sich auch schon das „neue Bedürfnis“: Ick bün all do! Der Erwachsene ist der rational handelnde, die Folgen erwägende Bürger: der Haushälter, homo oeconomicus. Ja, doch – er ist spezialisiert; auf die häusliche Existenzweise. Er funktioniert, eingebunden in seine „zweite Natur“: sein selbstgemachtes Wirkungsgefüge (namens Wertgesetz). Er ist die Domestikationsform des Menschen. Seine „Verhausschweinung“, wie Konrad Lorenz das nannte.

Der rührende Rest

N
icht zum Spaß und nicht aus Stolz ist der Mensch zum Homo oeconomicus „erwachsen“. Es war der Fluch des Fortschritts, der Entfaltung der materiellen Produktivkräfte. Es war das immanente Gesetz der Arbeitsgesellschaft. Es war die Hürde, die erst einmal genommen sein wollte. Auf einmal verrät das Herder’sche Stufenmodell von der „ersten“ und der „zweiten Natur“ des Menschen seinen ganzen pädagogischen Sinn: Kindlichkeit wird bestimmt – als Unbestimmtheit; als Dysfunktionalität. Was unser ursprünglicher Gattungsstil war, wird gesetzt als Mangel – an Zivilisation. An Erwachsenheit. An Beruf! Den Mangel zu beheben wird selbst zur bestimmten Tätigkeit: zu Arbeit. Die Arbeit der Kinder heißt „lernen“.

Die Kindlichkeit des Kindes wurde, ebensowenig wie das Kind selbst, nicht einfach unterdrückt. Nein, sie wurde sogar idealisiert und mystifiziert – und dabei entfremdet und lahmgelegt. Was unbestimmt, nicht-rationell, nicht funktional und folgenlos war, wurde als noch-nicht-wirklich aus dem werktätigen Alltag ausgeschieden. Nach unten, ins Souterrain: die Kindheit, Caput mortuum einer zivilisierten Wildheit; Quell der Lebenskraft zwar, aber sentimentaler Schwachmacher. Asyl der Unzurechnungsfähigkeit und Insel der Seligen, je nachdem.

Und nach oben, in die gute Stube, den Salon, der nur des Sonntags aufgesperrt wird: die Kunst. In der Kunst erscheinen die Dinge, als hätten sie Wert und Sinn an sich selber, unbekümmert um die Folgen und gleichgültig gegen mein Bedürfnis. Schön ist, was zweckmäßig erscheint ohne Zweck, meint Kant. In der Kunst und in der Kindlichkeit des Kindes erscheint die gattungsmäßige Unbestimmtheit des Menschen als ein Residuum; irreduzibel, aber im wirklichen Leben nicht zu gebrauchen. Geschätzt nur bei feierlichem Anlaß.

In der bürgerlichen Kultur ist das Verhältnis von Werktag und Sonntag verkehrt: Während in traditionalen Gesellschaften das werktätige Leben um seiner Feiertage willen dazusein scheint, ist in der Arbeitsgesellschaft der Sonntag für den Werktag da: als Pause. Doch gerechterweise sei hinzugefügt: Im Phänotyp des Unternehmers hat die bürgerliche Wirtschaftsweise die alltägliche Häuslichkeit um eine Dosis Künstlertum bereichert. Allerdings ist der Sachbearbeiter inzwischen typischer als der Unternehmer.

Freitag, 23. März 2018

Pausen sind gut und nötig; der Pausenhof ist ein Übel.

 
Die Schule ist ein Ort, der Kinder in einer so großen Anzahl zusammenballt und vom Rest der Welt isoliert, wie sich von alleine niemals zusammentun würden. Der Pausenhof ist ein Ort, wo man einander nicht aus dem Weg gehen kann - es sei denn, man sucht sich ein Versteck. Dort entstehen soziale Regeln, die in jeder Hinsicht künstlich sind und die sie später in keiner Weise nutzen können - es sei denn in schädlicher. Er ist ein Ort - man muss es mal aussprechen - der Desozialisierung.

Wenn die Schule ein einstweilig unvermeidliches Übel ist, dann der Pausenhof erst recht. Je länger der Schultag, umso mehr Pausenhof. Die Schlussfolgerung ergibt sich von selbst: Im Interesse der "Einübung sozialer Ver- haltensweisen" sollte der Schultag so kurz gehalten werden, wie didaktisch irgend vertretbar.




Donnerstag, 22. März 2018

Programmieren als Schulfach?

aus spiegel-online.de,  29.03.2017

von Sascha Lobo

Bundeskanzlerin Merkel hat es in den letzten Monaten mehrfach gesagt: Kinder sollten in der Schule programmieren lernen. Die Begründung als Zitat: "Ich glaube, dass die Fähigkeit zum Programmie- ren eine der Basisfähigkeiten von jungen Menschen wird, neben Lesen, Schreiben, Rechnen." Merkel reiht sich damit ein in eine politische Forderungslandschaft quer durch die Parteien. 

Ein wenig überraschend vielleicht - aber ich glaube, dass Kinder nicht in der Schule programmieren lernen müssen. Wenn sie wollen, großartig, das deutsche Bildungssystem verträgt ohne Zweifel eine Reduktion des Prinzips Zwang. Aber die nicht nur von Merkel unterstellte Priorität, Programmieren auf eine Stufe zu stellen mit Lesen, Schreiben, Rechnen, beruht meiner Ansicht nach auf ein paar Fehlschlüssen.

Ich formuliere das absichtlich vorsichtig ("ich glaube"), weil ich darin den ersten Fehler der Diskussion um Bildungsfragen der Zukunft sehe: die übergroße Gewissheit, mit der behauptet wird, X müsse um jeden Preis oder Y sei unser einziger Ausweg oder Z dürfe auf keinen Fall wegen umgehenden Abendlandunter- gangs, Ausrufezeichen! Das erschwert die Diskussion in einem Feld, das wegen der verständlichen Emotionalität ("Unsere Kinder!") ohnehin nicht besonders objektiv geführt wird.

Der erste und wichtigste Grund für meine Haltung - kein Pflichtfach Programmieren in den Schulen - ist, dass ich den Plan für eine Wunschlösung halte. Also nicht die funktionierende, sondern bloß die gewünschte Lösung eines Problems. Man stellt fest, dass die digitale Sphäre für alle Bereiche des Lebens eminent wichtig ist, und möchte in edler Absicht die Kinder darauf vorbereiten, also sollen sie programmieren lernen, denn das steht doch irgendwie hinter allem Digitalen, oder etwa nicht?

In den Achtziger-, Neunziger- und Nullerjahren gab es eine oft gehörte Nerd-Zuschreibung: "Die/der kann Computer!" Das stand für die vermeintliche Beherrschung der gesamten digitalen Sphäre, weil aus der Perspektive der Nichtsachkundigen die Einrichtung eines Routers, das Coden eines Scripts, die Verlegung eines Netzwerkkabels und das Abstellen der automatischen Grammatikkorrektur in Microsoft Office das Gleiche ist: Computer können.

Daran erinnert mich die Diskussion, denn "programmieren lernen" steht als Symbol dafür, mit den Herausforderungen der digitalen Welt besser zurechtzukommen. Die Kenntnis einer Programmiersprache steht als Pars pro Toto für die Hoffnung, unsere Kinder mögen die gewaltige Gesellschaftsaufgabe Digitalisierung doch besser meistern als wir. Genau das halte ich für falsch.

Nicht nur Unsachkundige ziehen diesen Fehlschluss. Im Gegenteil ist ein großer Defekt der Nerd- und Digitalkultur die Überzeugung, dass man die Welt versteht, wenn man Programmiersprachen versteht. Das Digitale sei so groß, prägend und wichtig, dass der Rest als Anhängsel verstanden werden könne, das nach den gleichen Regeln funktioniere. Eine Hybris, die vermischt mit gigantischen Geldmengen auch ein wesentlicher Treiber des Weltverbesserungsgetöses Marke Silicon Valley ist. Fast könnte man in einem Schulfach Programmieren ein politisches Überbleibsel der schwindenden Piratenpartei sehen, die bloß auf die richtige Software wartete, um endlich die Demokratie zu verbessern.

Aber so ist es nicht: Wer programmieren kann, kann programmieren - was aber dringend und immer schmerzlicher fehlt, ist ein Verständnis der Zusammenhänge einer digital vernetzten Welt und nicht ihrer kleinsten Bausteine. Es lässt sich grob mit dem Kenntnisunterschied zwischen einer Stadtplanerin und einem Maurer vergleichen, wenn man das Ziel hat, eine Stadt zu verstehen.

Bildungspolitik muss auch in Jahrzehnten gedacht werden 

Ein zweites Argument gegen das verpflichtende Programmierenlernen ist die Entwicklung der Technologie selbst, vor allem der künstlichen Intelligenz (KI). Im Januar 2017 wurde bekannt, dass Google eine KI-Software entwickelt hat, die ihrerseits selbst KI-Software entwickelt. Das ist eines der vielen Anzeichen, dass sich die Programmierung selbst gerade massiv verändert. Von außen betrachtet ähnelt ein wenig HTML-Gefuchtel der Programmierung eines Smartphone-Betriebssystems in einer Sprache wie C. Aber faktisch existiert beim Programmieren eine ungeheure Spreizbreite. Und immer größere Teile lassen sich zumindest teilautomatisieren.

Das heißt nicht unbedingt, dass es irgendwann keine Programmierer mehr gibt, weil Maschinen alles übernehmen. Es kann aber heißen, dass Programmierung weder als Job so zukunftssicher ist, wie man bisher glaubt, noch in der Breite so relevant, wie es die Existenz eines Schulfachs Programmierung voraussetzen würde. Je besser das Sprachverständnis der Maschine und je klüger die dahinterstehende künstliche Intelligenz - desto mehr wird die wichtigste Programmiersprache die gesprochene Sprache selbst.

Gerade die Einschätzung der Wirkmacht und der mittelfristigen Entwicklung der künstlichen Intelligenz ist hier ebenso schwierig wie notwendig: Bildungspolitik muss auch in Jahrzehnten gedacht werden. Im Januar 2017 hat Google-Gründer Sergey Brin in Davos offen zugegeben, dass er künstliche Intelligenz viel zu lang unterschätzt habe und dass es im Moment kaum möglich sei, die technologischen Möglichkeiten vorherzusagen. Obwohl er das Unternehmen führt, das KI mit am besten verstanden hat.

Die Chance ist nicht gering, dass im klassischen Takt deutscher Bildungspolitik im Spätsommer 2032 ein Rahmenplan "Programmieren in der Schule" feststünde, der eher digitalarchäologischen Kriterien genügt, als ein digitales Grundverständnis zu vermitteln. Das spricht explizit nicht gegen ausgewählte Projekte, um ein basales Verständnis der Programmierung zu erreichen. Es spricht aber klar dagegen, Programmieren auf eine Stufe mit Lesen, Schreiben, Rechnen zu hieven.

Lernen für die Fabrik 

Und schließlich, als drittes Argument, könnte man dorthin schauen, wo ich aufgewachsen bin, in die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt: West-Berlin. In den Siebzigerjahren gelangte dort ein gesellschaftlicher Trend zur vollen Blüte: das Bildungskonzept der Gesamtschule. Maßgeblich Ende der Sechzigerjahre geprägt vom reformerischen Berliner Schulsenator Carl-Heinz Evers, bekam sie eine architektonische Entsprechung. Eine Anzahl von Gesamtschulen wurden in West-Berlin neu gebaut - und sie sahen aus wie Fabriken: Kiesbetonplatten, schlitzartige Fensterreihen, offen sichtbare Lüftungsrohre im Innern. Sogar Fake-Schornsteine wurden auf den Dächern montiert. Die meisten dieser Bauten sind längst abgerissen, in fast allen war nämlich Asbest verbaut; ein paar Videoclips vermitteln aber noch einen Eindruck:

Dahinter stand auch die Idee, dass man die Schüler schon während der Ausbildung an ihre späteren Arbeitsstätten gewöhnen wollte. Fabriken nämlich. Man richtete also Schulbildung weniger nach den Bedürfnissen der Schüler aus als viel mehr nach denen der Wirtschaft. Aus heutiger Perspektive erscheinen diese Betonschulfabriken absurd bis menschenfeindlich. Aber damals dachte man, sie seien ebenso modern wie volkswirtschaftlich notwendig. Weil man die Entwicklung der Industrialisierung, der dazugehörigen Arbeit und ihre Wirkung auf den Menschen ziemlich falsch eingeschätzt hat.


Nota. - Didaktik ist ein weites Feld. Es reicht vom Einüben einfacher Handgriffe bis zur persönlichen Katharsis durch große Dichtung. Will sagen, am einen Ende das Erlernen eines Handwerks, am anderen Ende Pädagogik. Die Schule krankt nicht zuletzt am Vorgeben der Beschuler, sie sei Pädagogik statt Didaktik.

Sascha Lobo hat Recht, sofern er nur von der diadaktisch-technischen Seite des Programmierens redet. Mich würde aber auch das didaktisch-pädagogische Ende interessieren. Programmieren ist die technische Umsetzung eines Fachs, dass wir in abstracto Kybernetik nennen, und das heißt: Kunst des Steuerns. Ich könnte mir denken, dass es in dieser Kunst weniger auf das folgerichtige Kombinieren definierter Begriffe ankommt - das diskursive Denken, das in der Schule, seit es sie gibt, übermäßig im Vordergrund steht, -  als auf das lebendige Vorstellen, das doch die treibende Kraft des diskursiven Verfahrens ist; oder doch sein sollte! 

Sascha Lobo hat mit seinem obigen Beitrag eine breitere Diskussion ausgelöst. Ich will sie mir dieser Tage darauf hin ansehen, ob der pädagogische Gesichtspunkt dort zur Sprache gekommen ist.
JE




Mittwoch, 21. März 2018

Ganztagsrisiko.


Aus gegebenem Anlass zitiert die [...] FAZ ein Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2003. Der hatte in einem Grundsatzurteil „zur Haftung bei Schulunfällen“ (VI ZR 34/02) entschieden, zur Erlangung von Schmerzensgeld „bei einem durch schülertypisches Verhalten verursachten Schulunfall“ müsse sich „der Vorsatz insbesondere auch darauf erstreckt haben, dass bei dem geschädigten Mitschüler ernsthafte Verletzungsfolgen eintreten“. Denn „gegenseitige Verletzungshandlungen von Schülern bei Spielereien, Raufereien und übermütigem und bedenkenlosem Handeln während der Abwesenheit von Aufsichtsper- sonen, die ohne den Willen zur Zufügung eines größeren Körperschadens erfolgen, gehören nach wie vor zum Schulalltag“.

Daraus folgt? Dass es in den bestehenden und noch zu befürchtenden Ganztagsschulen keine Abschnitte geben wird, in denen die Schüler freie Zeit haben, in der sie ohne Aufsicht sind und tun können, was ihnen eben einfällt: Dem steht die Aufsichtspflicht entgegen.

Es ist zutiefst verlogen, eine Schule machen zu wollen, die - "wenigstens streckenweise" - keine Schule ist. Das will ja auch keiner im Ernst; sie wollen das Ganztagsschulkind; das Kind, das, sobald es die elterliche Wohnung verlässt, nur noch Schüler ist.

28. 7. 2015

Dienstag, 20. März 2018

Leistung?

 
Wer nicht will, dass man Kindern Leistungen abverlangt, der will nicht, dass man sie den Pädagogen abverlangt - denn das eine geht nicht ohne das andre. Wer unter dem Vorwand, die Kinder vorm Risiko des Scheiterns zu bewahren und ihnen nicht erlauben will, auch mal zu triumphieren, ist kein Kinderfreund, sondern ein Kinder- feind.

Sein Bildungsideal ist der mittelmäßige Subalterne des Öffentlichen Diensts. Darauf sind unsere Schulen zu- geschnitten. Zweifel sind erlaubt, ob es eine Schule geben kann, die das nicht ist. Es ist ein systemisches Problem.








Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.