Dienstag, 27. März 2018

Ein Menschenbild für Pädagogen.



Was er je geworden ist – gemessen an dem, was er alles nicht ist, ist es viel zu wenig. Alle Eigenschaften, die er haben kann, sind ebensoviele Einschränkungen seiner Möglichkeiten: weniger Reichtum als Mangel. Seiner Bestimmung gerecht wird er erst als Mann ohne Eigenschaften. „Kinder sind deshalb am schönsten“, meint Hegel, weil „das Kind in seiner Lebhaftigkeit als die Möglichkeit von allem erscheint“.[20] Das Kind ist das Urbild des modernen Menschen: Es hat noch keine Eigenschaften. Es fühlt sich im Möglichen nicht minder zuhaus als im Wirklichen; eher mehr. Sein – um mit Robert Musil zu reden – Möglichkeitssinn ist ihm präsenter als sein Wirklichkeitssinn: „Alles könnte auch ganz anders sein.“ Darum wurde das Kind zur großen Entdek- kung der Romantik: „Der frische Blick des Kindes ist überschwänglicher als die Ahndung des entschiedensten Sehers“, und „ein Kind ist weit klüger als ein Erwachsener: das Kind muß durchaus ironisches Kind sein“.[21]

Aber auch als Urbild ist es doch bloß ein Bild.

Mögen es sein frischer Blick und der „leichte Sinn für das Zeitliche“ (Fichte) auch auf vertrauten Fuß mit dem Unendlichen setzen – aber es ‚strebt’ ja nicht in der Welt, die „der Fall ist“. Sein Überschwang hält sich in den Grenzen einer ‚Welt’ ad usum Delphini: einer Kunstwelt des harmlosen Scheins. Da kostet es nichts, sich alles „ganz anders“ zu denken. Es ist Gedanken-Spielerei.

Unternehmer an der Grenze

Wirkliches Streben in der Welt der Tatsachen ist Arbeit, nicht Spiel. Der Mensch, der bloß arbeitet, wird zum Philister. Er arbeitet, um sich an seiner Statt einzurichten. Er strebt, um zu haben. Er ist Krämer. Ein Unternehmer ist der, dem am Gewinnen noch mehr gelegen ist als am Gewinn. 

Der eine mag typisch sein für unsere lausigen bürgerlichen Zustände; nämlich sofern alles beim Alten bleibt. Der andere ist charakteristisch für das bürgerliche Geschehen – insofern nämlich, als alles neu werden muß. Der Unternehmer ist ein Spieler in der Welt der Tatsachen. Er hält die Revolution permanent. Er ist der Romantiker, der sein Sach auf Nichts gestellt hat: der „auf eigne Faust lebende Mensch“[22].

Wo er nicht ist, dort ist sein Glück, und dahin ist er immer unterwegs. Er hat alles stets noch vor sich. Er lebt an einer Grenze, die nur da ist, damit er sie übertritt.

So weit als die Welt
So mächtig der Sinn
So viel Fremde er umfangen hält
So viel Heimat ist ihm Gewinn.[23]

Das ist das Menschenbild, das der Erziehung an der Jahrtausendwende vorzuschweben hat; als Stachel, nicht als zu erfüllendes Maß. Nicht als Vorbild, wonach der Pädagoge seinen Zögling modelt, sondern als ein Gleichnis, in dem er sich selbst erkennt. Wenn nicht einmal die Pädagogen Unternehmer wären – ja wer denn dann?
 

Mai 1992

 

[20] Hegel, G. W. F., Ästhetik Bd. I, Berlin-Weimar 1955, S. 153
[21] Novalis
Werke, Bd.III, Zürich. 1945, Bd. III, S. 63, 263
[22] Musil 
R., Der Mann ohne Eigenschaften, Hbg. 1960, S. 130
[23] Brentano, Cl., Godwi, In: Werke (Hg. Kemp), Bd. 2; München 1963-68; S. 17




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