Montag, 28. November 2016

Wir lassen uns auch durch den größten Sachverstand nicht von unserer politischen Überzeugung abbringen.


Andreas Schleicher

Wie die andern seriösen Blätter hatte der Wiener Standard vor wenigen Tagen über den Vorstoß des Bil- dungsforschers Stefan Hopmann gegen die Ganztagsschule berichtet: Sie bringe keinen nachweislichen didaktischen oder sozialpolitischen Vorteil - von Pädagogik redet schon niemand mehr - und schmeiße das Geld der Steuerzahler zum Fenster raus.

Die Zeiten ändern sich: Noch vor einem Jahr wäre die Meldung sang- und klanglos im Blätterrauschen untergegangen. Doch spricht es sich langsam, aber sicher herum: Da ist was faul. Jetzt muss der Oberhäupt- ling der PISA-Technokraten selbeer in die Bütt.

Wieder Der Standard:

Nun kommt Widerspruch von prominenter Seite. "Diese Einschätzung verwundert mich, ich teile sie abso- lut nicht", sagt Andreas Schleicher, Bildungsdirektor der OECD, "denn unsere Erkenntnisse zeigen eindeu- tig, dass die Ganztagsschule eine wichtige Voraussetzung für bessere Ergebnisse ist." Dies lasse sich so- wohl aus der internationalen Pisa-Studie als auch aus vielen nationalen Untersuchungen herauslesen: "Sie finden im internationalen Vergleich kaum ein System mit Spitzenleistungen, das nicht auf die Ganztags- schule setzt."

Wir leben in einem postfaktischen Zeitalter. Da kann man, wenn's passt, auch einfach mal die Unwahrheit sagen: "Das lasse sich sowohl aus der internationalen Pisa-Studie als auch aus vielen nationalen Untersu- chungen herauslesen." Es gibt keine solche Studien, und aus den PISA-Ergebnissen lässt es sich schon gar nicht "heraus-", noch nicht einmal hineinlesen: Die jeweiligen Leistungen der unterschliedlichen Schulsy- stem werden von den PISA-Fragebögen gar nicht erhoben. "Sie finden im internationalen Vergleich kaum ein System mit Spitzenleistungen, das nicht auf die Ganztagsschule setzt," das wäre das einzige Argument, das er hat - wenn es eins wäre.

Sie finden unter den Ländern, die auf der PISA-Rangliste in der unteren Hälfte rangieren, nicht eines, das nicht auf die Ganztagsschule setzt: Das hätte der Scharlatan sagen müssen, wenn er ein ehrlicher Mann wäre.

Es gibt überhaupt nur zwei Länder, in denen die pädagogischen Reformer je so stark gewesen sind, um den didaktisch unnützen und fiskalisch schädlichen Nachmittagsunterricht abzuschaffen: Deutschland und Österreich. Überall sonst ist man von der mittelalterlichen Ganztagsschule nie abgewichen, und selbst bei uns wollen die Statistiker der OECD das Rad der Geschichte nun wieder zurückdrehen.

Schleicher ist kein Bildungsforscher, sondern ein politischer Ideologe. Sein PISA-Konsortium ist kein wissenschaftliches Institut, das seine Forschungsmethoden und -ergebnisse offen darlegt und der Kritik zugänglich macht, sondern ein vom Fürsten beauftragtes geheimes Propagandaministerium, das seine Aufträge erfüllt.

In der Adenauerära machte ein CDU-Abgeordneter im Bundestag Furore mit dem denkwürdigen Satz: "Wir werden uns auch durch den größten Sachverstand nicht von unserer politischen Überzeugung abbringen lassen."

Denn die OECD hat ja selber ihre Auftraggeber, und das sind nicht die Schüler und ihre Eltern.





Donnerstag, 24. November 2016

Die Ganztagsschule ist nicht nur rausgeschmissenes Geld - sie ist verlorene Lebenszeit.


aus Der Standard, Wien, 24. November 2016, 08:00

Ganztagsschulausbau "ist hinausgeworfenes Geld"
Fördert der Ausbau der Ganztagsschule die Chancen sozial schwacher Kinder? Bildungswissenschafter Stefan Hopmann widerspricht vehement

Interview Gerald John 

STANDARD: Die Regierung hat den Ausbau der Ganztagsschulen beschlossen, um sozial benachteiligten Kindern mehr Chancengleichheit zu bieten. Ein großer Schritt? 

Hopmann: In keiner Weise, das ist hinausgeworfenes Geld. Es gibt keinen messbaren Nachweis, dass die Ganztagsschule die Chancengleichheit fördert. 

STANDARD: Tatsächlich? Wenn ein Kind zu Hause nicht die nötige Unterstützung der Eltern bekommt: Bietet die Ganztagsschule da nicht per se bessere Unterstützung? 

Hopmann: Allein davon wird nichts besser, die Ganztagsschule kann die Situation unter Umständen sogar verschlechtern: Wenn ein Kind mit sprachlichen, kognitiven oder sonstigen Defiziten den ganzen Tag unter anderen ist, die es auch nicht besser können, ist das nicht förderlich. Diese Kinder profitieren dann, wenn sie gezielte Förderung bekommen. Das ließe sich aber auch in der Halbtagsschule organisieren, denn die Nettounterrichtszeit bleibt ja gleich.
 
STANDARD: Wie sollte die Regierung die 750 Millionen also investieren?
 
Hopmann: Gezielt in mehr pädagogische Fachkräfte für jene Schulen, wo es besonders viele Kinder mit erhöhtem Förderbedarf gibt. Doch das tut die Regierung genau nicht. Die Schulen müssten ein pädagogisches Konzept erstellen, heißt es vage im Programm – aber Papier ist geduldig, und der Pool an Fachpädagogen wird nicht erhöht. Stattdessen schüttet die Regierung das Geld mit der Gießkanne über die Länder aus, da darf jeder – wie in einer feudalen Pfründewirtschaft üblich – einen Pot an die Untertanen verteilen. In ein paar Jahren wird man überrascht tun, wenn sich zeigt: Nichts von dem, was versprochen wurde, ist eingetreten. Lösen lässt sich auf diese Weise maximal das Betreuungsproblem berufstätiger Eltern.

 
STANDARD: Ist das denn nichts wert?
 
Hopmann: Das ist ein ehrenwertes Ziel. Aber dann soll der Herr Bundeskanzler bitte nicht behaupten, es gehe um die Förderung sozial schwacher Kinder – denn das ist unwahr. Tatsächlich handelt es sich um ein arbeitsmarktpolitisches Programm für eine höhere Beschäftigungsquote bei jungen Frauen, bei dem private Kinderbetreuungskosten auf die öffentliche Hand übergewälzt werden. Bei knappen Kassen stellt sich aber die Frage, was Priorität haben sollte: die Entlastung von Haushalten mit Doppeleinkommen oder die Förderung notleidender Kinder? Die Koalitionsparteien haben sich für die eigene Klientel, die berufstätige Mittelschicht, entschieden.
 
STANDARD: Sozial schwache Familien profitieren doch ebenfalls.
 
Hopmann: Schon auch. Aber generell stehen die Eltern jener Kinder, die am härtesten getroffen sind, nicht beide in geregelten Beschäftigungsverhältnissen. Das Problem mangelnder Zeit für die Kinderbetreuung stellt sich da weniger.
 
STANDARD: Bringt die Ganztagsschule denn nicht mehr Zeit für die Familie, weil Hausaufgaben überflüssig werden?
 
Hopmann: Auch das ist ein falsches Versprechen. In Ländern, in denen Ganztagsschulen vorherrschen, sind die Aufwendungen für Nachhilfe auch nicht geringer – trotz steigender Zahlen liegt Österreich im Vergleich noch am unteren Ende. Es ist keineswegs so, dass bürgerliche Eltern nicht mehr dahinter sind, wenn das Kind erst um vier Uhr nachmittags aus der Schule kommt. Südkorea hat deshalb sogar versucht, Nachhilfe nach 22 Uhr zu verbieten. Die Regierung musste das Gesetz freilich einstampfen, nachdem sich herausgestellt hat, dass sich die Minister bei ihren eigenen Kindern selbst nicht daran hielten.
 
STANDARD: Wurden Sie von der Regierung zu den Beratungen über die Ganztagsschule beigezogen?
 
Hopmann: Ja, ich wurde von beiden Seiten gefragt, doch irgendwann ist mir der Kragen geplatzt. Im Unterrichtsausschuss habe ich auf die fehlenden wissenschaftlichen Belege für den Nutzen der Ganztagsschule hingewiesen, worauf Bildungsministerin Sonja Hammerschmid unmissverständlich gesagt hat: Das sei ihr völlig egal, sie glaube trotzdem daran. Daraufhin habe ich alle weiteren Termine gecancelt. Wenn Politiker nur jene empirischen Ergebnissen hören wollen, die ihnen recht geben, verschwende ich meine Zeit dafür nicht.
 
STANDARD: Wie groß ist die Gruppe der Kinder, die mehr Unterstützung bräuchten?
 
Hopmann: Österreich ist noch auf hohem Niveau, zumal immerhin 90 Prozent der Schüler einen Sekundarabschluss erreichen. Aber die Gruppe jener, die maximal Pflichtschulabschluss erreichen und sich schwertun, auf eigenen Füßen in der Gesellschaft zu stehen, wächst – derzeit ist jeder sechste Jugendliche akut gefährdet. Wir sind noch nicht so weit wie etwa in England und den USA, wo ganze Bevölkerungsgruppen abgeschrieben sind, bewegen uns aber in diese Richtung. Noch ist der Prozess zu stoppen, dafür muss aber bereits im Kindergarten angesetzt werden.
 
STANDARD: Was sind die Gründe für den Anstieg?
 
Hopmann: Da spielen viele Faktoren mit, einer davon ist: Wir haben in den letzten 30, 40 Jahren eine massive Umverteilung erlebt, bei der die unteren Einkommen verloren und die oberen Einkommen gewonnen haben. Die Debatte um die Mindestsicherung kündigt die nächste Katastrophe an: Eine Kürzung produziert wieder einen Haufen Kinder, denen die nötigen Ressourcen fehlen.
 
STANDARD: Ist die starke Zuwanderung auch eine Ursache?
 
Hopmann: Das Phänomen als Migrationsproblem zu deklarieren ist grober Unfug. Es hat nur insofern damit zu tun, als Österreich den Bedarf an Billigarbeitskräften traditionell mit Import gestillt hat und es deshalb ein Übergewicht von Zuwanderern mit relativ geringem kulturellem Bildungskapital gibt. Das Risiko zu scheitern ist für bestimmte Zuwanderergruppen deutlich höher als im Schnitt, für andere Gruppen gilt aber das genaue Gegenteil. Es sind immer noch die Einheimischen, die die große Mehrheit der Gescheiterten stellen: Das Verhältnis liegt irgendwo zwischen 2:1 und 3:1. 

Steffen Hopmann (62) ist Professor für Bildungswissenschaft an der Universität Wien.


Nota. - Oder auch: Wenn's euch schon nicht stört, dass die Ganztagsschule unersetzliche Kindheitszeit vergeudet, sollte es euch wenigstens stören, dass sie das Geld der Steuerzahler zum Fenster rausschmeißt.
JE  




 

Sonntag, 20. November 2016

Entschult die Kindheit!

  Lothar Sauer
 aus nzz.ch,

Freizeitverhalten von Kindern
Überbehütete Stubenhocker
Je mehr die Eltern arbeiten, desto weniger können die Kinder draussen frei spielen. Noch stärker beschränkt die Wohnsituation das freie Spiel, wie eine neue Studie zeigt

von René Donzé

Die NZZ hat mir rückwirkend die Verbreitung ihrer Inhalte untersagt. Ich werde sie nach und nach von meinen Blogs löschen 
Jochen Ebmeier

Mittwoch, 16. November 2016

Zwangstagsschule und das Glück der Reformpädagogik.

 Schulklasse im Jahr 1900. Damals hatten die Schüler in der Regel sowohl am Vormittag als auch am Nachmittag Unterricht. Im Jahr 1920 änderte sich das.aus Die Presse, Wien, 09.11.2016 | 09:20 | 

Die Konjunktur der Ganztagsschule
Unter Maria Theresia war die Schule ganztägig. SPÖ-Minister Otto Glöckel änderte das. Ab den 1970ern gab es Schulversuche – und ideologische Positionen, die jenen von heute ähneln.

 

Die Geschichte der Ganztagsschule reicht um einiges weiter zurück, als man glauben möchte: bis zu den Anfängen des staatlichen Schulwesens in Österreich. Bis zu Maria Theresia. Die Schule, die sie anno 1774 schuf, war nämlich ganztägig. Wenn auch relativ weit von dem entfernt, was man heute unter der Ganztagsschule versteht, die die Regierung jetzt mit 750 Millionen Euro ausbauen will („Die Presse“ berichtete).

Jedenfalls waren die Schüler in den ersten 150 Jahren der allgemeinen Schulpflicht auch an den Nachmittagen in der Schule – oder sollten es zumindest sein. Der Unterricht war geteilt: Am Vormittag wurde von acht bis elf Uhr unterrichtet, ab 14 Uhr nochmals zwei Stunden. Zu Mittag konnten die Schüler nach Hause gehen, um zu essen. Ganz so durchgesetzt wurde das nicht immer. Es gab reihenweise Ausnahmen, da Kinder etwa in der Landwirtschaft helfen mussten, sagt Oskar Achs, wissenschaftlicher Leiter des Wiener Schulmuseums.

„Etwas rigider wurde das dann mit dem Reichvolksschulgesetz unter Kaiser Franz Joseph I.“, so Achs. Auch dieses sah 1869 den geteilten Unterricht vor, mit dem Hinweis, dass am Vormittag mehr Schulstunden (drei oder vier) stattfinden sollten als am Nachmittag (zwei).

Gegen Ganztagsschule

Um das Jahr 1900 begann dann der Widerstand gegen die Schule der Monarchie. Stein des Anstoßes unter anderem: der geteilte Unterricht. „Die Eltern klagten darüber, dass die Kinder wegen der Mittagspause ihren Schulweg viermal am Tag bewältigen mussten“, schildert Achs. „Und die Lehrer waren über den Nachmittagsunterricht nicht sehr erfreut und sagten, dass da nicht viel herausschaue.“

Aus heutiger Sicht, mit der SPÖ als Verfechterin der Ganztagsschule, überraschend: Ein Sozialdemokrat schaffte diesen (mehr oder weniger) ganztägigen Unterricht aus Monarchiezeiten ab. Otto Glöckel – als Unterstaatssekretär im Innenministerium quasi Unterrichtsminister der Ersten Republik – strich 1920 den geteilten Unterricht, führte stattdessen den ungeteilten Unterricht am Vormittag ein.

 


Zweieinhalb Jahrzehnte später sah die Lage wieder ganz anders aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren viele Frauen berufstätig, viele Kinder am Nachmittag unbetreut. So entstanden ab 1947 auch im öffentlichen Schulbereich sogenannte Tagesschulheime, in denen die Schüler freiwillig am Nachmittag betreut werden konnten – von jungen Lehrern, die sich damit ihr Gehalt aufbesserten. „Diese Situation bestand bis Anfang der Siebzigerjahre. Ich habe das als junger Lehrer noch erlebt“, schildert Wiens Ex-Stadtschulratspräsident Kurt Scholz.

In den 1970ern wurde der Bedarf an ganztägiger Betreuung größer, die Ganztagsschule, so wie man sie heute kennt, langsam Realität. Nachdem ganztägige Formen dort und da bereits probiert und umgesetzt wurden, gab es unter Unterrichtsminister Fred Sinowatz (SPÖ) die Möglichkeit, dazu auch Schulversuche einzurichten.

Im Herbst 1974 starteten in Wien vier verschränkte Ganztagsschulen als Schulversuch, darunter die Volksschule Aspernallee und die Hauptschule Roterdstraße, beide sind bis heute Ganztagsschulen. „Nach österreichischer Sitte gab es aber nicht einen Schulversuch, sondern zwei verschiedene“, sagt Oskar Achs.

Von der ÖVP sei die Tagesheimschule forciert worden, die mit reiner Nachmittagsbetreuung nicht für die ganze Klasse obligatorisch war. Die SPÖ drängte auf das verschränkte Modell, bei dem einige Fächer in den Nachmittag verlegt wurden und das für alle Pflicht war. „Damit ist vor mehr als 40 Jahren die Vorläufersituation für die heutigen unterschiedlichen Positionen gegeben“, so Scholz. Mehr noch: „Der Begriff von der Zwangstagsschule ist damals schon gefallen“, sagt Leo Leitner, damals Sektionschef im Unterrichtsressort.

20 Jahre nach den ersten Versuchen wurden verschränkte und offene Ganztagsschulen 1994 ins Regelschulwesen übernommen, ihr Ausbau wurde seither mit mehr oder weniger Verve betrieben. Seit 2006 musste es ein ganztägiges Angebot geben, wenn mindestens 15 Eltern eines Standorts das wollten, jetzt zwölf. 120.000 ganztägige Schulplätze gibt es heute. Geht es nach der Bundesregierung, sollen es bis 2025 doppelt so viele sein.


Nota. - Die österreichische Sozialdemokratie hatte in den zwanziger Jahren eine eigene Kinderorganisation, die war ein Bollwerk der Reformpädagogik. Ihr Name war Die Kinderfreunde. Aber das ist lange her.
JE

Montag, 7. November 2016

Die ewige Jugend von heute.

aus nzz.ch,

Wir Jugendversteher
Letztes Abenteuer Adoleszenz 
Der Kern der Jugend ist es, sich dem Rest der Welt zu verweigern. Dass wir diese Lebensphase trotzdem bis in den hintersten Winkel ergründen wollen, sagt viel aus über unsere Angst vor dem Unberechenbaren.

von Beat Grossrieder 

Die NZZ hat mir rückwirkend die Verbreitung ihrer Inhalte untersagt. Ich werde sie nach und nach von meinen Blogs löschen 
Jochen Ebmeier 


Nota. - Es ist mir ärgerlich, dass in dieser Sache stets Feuer und Wasser in einen Topf getan wird - wo es dann nur noch qualmt. Erst sagt man: Jugendalter, und das Publikum denkt sogleich Halbstarke - das denkt die eine Häfte - und '68, das denkt die andere Hälfte: Woodstock, Vietnam, Pariser Mai. Aber dann dauert es nicht lange und es fällt das Wort Pubertät. Da hat man Knochenwachstum, Hormone, Sex und Gender in einem, und gleich plap- pert es lustig weiter: Feuilleton im Leerlauf. 

Der Qualm verhüllt, dass die eigentliche Zäsur mitten hindurch geht durch diese sogenannte Pubertät. Die hat einen aufsteigenden und einen absteigenden Ast. Der aufsteigende, das sind die - von Hans-Heinz Muchow so getauften - Flegeljahre, sonst auch Robinsonalter genannt, das wohl anstrengend genug ist, und zwar für alle beteiligten Parteien, aber vor allen Dingen unternehmungsfreudig, abenteuerlustig, einbildungsstark und der Welt zugewandt, statt sich ihr zu verweigern; begleitet all das von einer kämpferischen Moralität. 

Kulturen, die solche Eigenarten schätzen - und auch zu diesem Zeitpunkt -, machen diese Zeit  produktiv, denn nun kommt der Abschied von der Kindheit: 

»Es ist die größte Krise im Leben eines jeden. Eine Krise auch in physiologischer Hinsicht, als Pubertät; aber nicht nur. Nicht einmal vor allem: Es ist eine Krise des ganzen Menschen. Bis dahin verstand sich die Welt von selbst. Alles, was war, war eben so und nicht anders. Doch plötzlich steht alles in Frage. Ist alles so, wie es ist, oder sieht es nur so aus? Könnte es nicht auch ganz anders sein? „Der Grundzug des Pubertätsalters“ sei, so schrieb der Kulturhistoriker Egon Friedell, „daß es fast jeden Menschen zum Dichter macht.“ Aber nur, weil die Selbstverständlichkeit dahin ist und alles in Zweifel gerät - nicht nur die Andern, sondern auch das Selbst: ein kritischer Zustand. Es ist ein Fegefeuer der Gedanken und der Gefühle. Der amerikanische Kinder- und Jugend- psychologe Erik Erikson hat geradezu von der „zweiten Geburt des Menschen“ gesprochen. ... 


Der Zweifel, die Ungewißheit, das ‚Schweben‘ zwischen allen Möglichkeiten äußert sich aber, ach, vorzugs- weise in Spottsucht, Frechheit und bösem Witz. „Das Kind muß unbedingt ironisches Kind sein“, liest man bei dem Romantiker Novalis; nämlich das Kind, das schon fast keins mehr ist. Es ist das Schwinden der Unschuld, doch auch der Anfang der Naivität, denn: „Das Naive ist eine Kindlichkeit, wo sie nicht mehr erwartet wird“, schrieb Friedrich Schiller.

Kein Kind mehr sein, oder doch nicht mehr so ganz, ist aber nicht nur eine Erweckung. Es ist auch eine Trauer. Denn jetzt wartet der „Ernst des Lebens“. Mit dem Spielen ist es jedenfalls vorbei. Man wird es ein Leben lang vermissen. Der Abschied von der Kindheit ist ein Hängen zwischen den Stühlen, eine ganze, kurze Existenz im Zwiespalt. Sonst wäre es ja nicht das produktivste Kapitel im Roman unseres Lebens.«   

Das produktivste Kapitel, da ließe sich was draus machen: Jünglingsalter, sagte am früher, die einen nahmen als Lehrlinge in der Werkstatt des Meisters ihren Platz in der ständischen Gesellschaft ein, die andern traten als Knappen ihren Dienst an einem ritterlichen Hof an. - Es ist wahr, dass das Kulturen waren, in denen männliche Tugenden höher angesehen wurden als bei uns seit dem Aufkommen der Angestelltenzivilisation. 

Bei uns folgt auf den Abschied von der Kindheit nicht der Eintritt in die Männerwelt, sondern jene entnervende Hängepartie, die wir Adoleszenz nennen und von der allein der Autor der NZZ oben zu reden weiß. Das ist kein Schweben mehr, sondern ein Baumeln; nichts Ernstes blieb, worum zu kümmern es sich ernstlich lohnte, der einzige Gegenstand, um den eine eben noch schäumende Phantasie ihre Wellenringe zieht, ist das eigne Ich-ganz-wichtig, und das Höchste, was man ihm zu bieten hat, ist fun. Sie 'verweigern sich der Welt' wie der Fuchs den Trauben.

Dass die Jugend von heute den Alten von aller Zeit nicht gefällt, ist allerdings eine olle Kamelle. Aber die Adoleszenz mit ihrer Egomanie, Gefallsucht und blasierten Indifferenz war eine Errungenhaft unseres allerwestlichsten Zwanzigsten Jahrhunderts. 

Und was wird mit dem Einundzwanzigsten? 

Die Angestelltenzivilisation ist die Abenddämmerung der Arbeitsgesellschaft. Die Arbeitsgesellschaft neigt sich ihrem Ende zu. Die Erwachsenheit selbst ist es, die veraltet. Wird man von der Kindheit keinen Abschied mehr nehmen müssen?

"Ein Mann kann nicht wieder zum Kind werden oder er wird kindisch. Aber freut ihn die Naivetät des Kindes nicht, und muß er nicht selbst wieder auf einer höhern Stufe streben seine Wahrheit zu reproduciren?" 
Karl Marx*

*) in MEGA II/1.1, S. 45

JE

Sonntag, 6. November 2016

Elternaufstand gegen Hausaufgaben - in Spanien.

Roberet Doisneau
aus Die Presse, Wien, 03.11.2016 | 18:48 |

Spanischer Aufstand gegen Hausaufgaben
Die nationale Elternorganisation in Spanien hat einen Streik gegen Hausübungen ausgerufen, die Lehrer über das Wochenende erteilen. Die Schüler jubeln, die Pädagogen toben.

 

Madrid. Viele spanische Mütter und Väter haben die Nase voll: Sie protestieren dagegen, dass ihre Kinder von den Lehrern nach ihrer Meinung zu viele Hausaufgaben bekommen und nachmittags oder am Wochenende keine Freizeit mehr haben. Deswegen hat die nationale Elternorganisation Ceapa, die 12.000 Elternvereine an öffentlichen Schulen vertritt, nun zum Hausarbeitsstreik aufgerufen.

Spaniens Pädagogen sind freilich alles andere als erfreut über diesen Aufruf zum Schülerungehorsam: „Der Boykott ist ein Angriff auf die Autorität der Lehrerschaft“, erklärte der Verband Anpe. Die Streikkampagne untergrabe alle Bemühungen zu einer vernünftigen Zusammenarbeit von Eltern, Lehrern und Schülern. Dies sei eher kontraproduktiv für die Lernenden.

Zunächst ist der Aufstand auf einen einmonatigen Warnstreik beschränkt: Die Schüler dürfen nun im November – mit Erlaubnis ihrer Eltern – alle Aufgaben, die von den Pädagogen über das Wochenende erteilt werden, verweigern. Sollte der Protest bei Lehrern und Bildungspolitikern auf taube Ohren stoßen, soll im kommenden Jahr ein unbefristeter „Generalstreik“ gegen alle Hausaufgaben ausgerufen werden.

60-Stunden-Woche für Kinder

Die Schularbeitsflut „provoziert eine Verlängerung des Schultags, der an nicht hinnehmbare Grenzen stößt“, klagen die Familien in einem Manifest mit dem Namen „Nein zu den Hausaufgaben“. Die Schulwoche samt Übungen zu Hause summiere sich zuweilen zu einer 60-Stunden-Woche. „Die Schüler müssen mehr arbeiten als ein Erwachsener.“ Es sei offensichtlich, dass in den Schulen vor allem ein Fach fehle: „Die Freizeit der Kinder und Jugendlichen.“

Der Elternverband Ceapa sieht sich in seinem Angriff auf die schulischen Hausübungen von internationalen Studien bestätigt. Nach einer Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation fühlten sich nahezu zwei Drittel der spanischen 15-Jährigen durch die Schularbeiten überlastet. Auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) habe bestätigt, dass die Kinder zu Hause mehr pauken als die Altersgenossen in den meisten anderen EU-Ländern.

Großer Aufwand, geringe Bildung

Ein Extra-Zeitaufwand, der sich freilich nicht in den schulischen Ergebnissen widerspiegelt. Im europäischen Vergleich befindet sich Spanien bei den Resultaten der Pisa-Studie zum Bildungsniveau regelmäßig unter dem Durchschnitt. Auch die Quote der Schul- und Ausbildungsabbrecher liegt in Spanien mit 20 Prozent im Jahr 2015 fast doppelt so hoch wie der EU-Schnitt. Damit ist Spanien europäisches Schlusslicht.

Mehr Hausaufgaben seien halt nicht gleichbedeutend mit besseren Schulergebnissen, sagt José Luis Pazos, Vorsitzender der spanischen Elternvereinigung. „Die Länder mit der besten Bildungsqualität haben die Hausaufgaben reduziert oder ganz abgeschafft und benutzen jetzt andere pädagogische Methoden.“

Zu Spaniens Problemen gehört aber auch, dass die konservative Regierung von Ministerpräsident Mariano Rajoy in den vergangenen Jahren im Bildungssektor milliardenschwere Einsparungen und Stellenkürzungen beschlossen hat.

Immer weniger Erzieher und Lehrer müssen sich um immer mehr Kinder kümmern. Riesenklassen mit 35 oder sogar 40 Schülern sind an öffentlichen Schulen keine Seltenheit. In vielen Einrichtungen fehlt Geld für Computer, aber auch für Fotokopien, Kreide und sogar Klopapier.


Nota. - Es gibt sie also doch, die Länder, in denen Elteren ein Herz für ihre Kinder haben! Und ich möchte wetten: Wenn man die spanischen Eltern auf die Idee brächte, die Ganztagsschule - die haben sie dort seit Menschengedenken, ohne dass sich Spanien bei PISA sonderlich hervortäte - abzuschaffen, könnte eine wahre Volksbewegung daraus entstehen
JE