Die Konjunktur der Ganztagsschule
Unter Maria Theresia war die Schule ganztägig. SPÖ-Minister Otto Glöckel änderte das. Ab den 1970ern gab es Schulversuche – und ideologische Positionen, die jenen von heute ähneln.
Die Geschichte der Ganztagsschule reicht um einiges weiter zurück, als man glauben möchte: bis zu den Anfängen des staatlichen Schulwesens in Österreich. Bis zu Maria Theresia. Die Schule, die sie anno 1774 schuf, war nämlich ganztägig. Wenn auch relativ weit von dem entfernt, was man heute unter der Ganztagsschule versteht, die die Regierung jetzt mit 750 Millionen Euro ausbauen will („Die Presse“ berichtete).
„Etwas rigider wurde das dann mit dem Reichvolksschulgesetz unter Kaiser Franz Joseph I.“, so Achs. Auch dieses sah 1869 den geteilten Unterricht vor, mit dem Hinweis, dass am Vormittag mehr Schulstunden (drei oder vier) stattfinden sollten als am Nachmittag (zwei).
Gegen Ganztagsschule
Um das Jahr 1900 begann dann der Widerstand gegen die Schule der Monarchie. Stein des Anstoßes unter anderem: der geteilte Unterricht. „Die Eltern klagten darüber, dass die Kinder wegen der Mittagspause ihren Schulweg viermal am Tag bewältigen mussten“, schildert Achs. „Und die Lehrer waren über den Nachmittagsunterricht nicht sehr erfreut und sagten, dass da nicht viel herausschaue.“
Aus heutiger Sicht, mit der SPÖ als Verfechterin der Ganztagsschule, überraschend: Ein Sozialdemokrat schaffte diesen (mehr oder weniger) ganztägigen Unterricht aus Monarchiezeiten ab. Otto Glöckel – als Unterstaatssekretär im Innenministerium quasi Unterrichtsminister der Ersten Republik – strich 1920 den geteilten Unterricht, führte stattdessen den ungeteilten Unterricht am Vormittag ein.
Zweieinhalb Jahrzehnte später sah die Lage wieder ganz anders aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren viele Frauen berufstätig, viele Kinder am Nachmittag unbetreut. So entstanden ab 1947 auch im öffentlichen Schulbereich sogenannte Tagesschulheime, in denen die Schüler freiwillig am Nachmittag betreut werden konnten – von jungen Lehrern, die sich damit ihr Gehalt aufbesserten. „Diese Situation bestand bis Anfang der Siebzigerjahre. Ich habe das als junger Lehrer noch erlebt“, schildert Wiens Ex-Stadtschulratspräsident Kurt Scholz.
In den 1970ern wurde der Bedarf an ganztägiger Betreuung größer, die Ganztagsschule, so wie man sie heute kennt, langsam Realität. Nachdem ganztägige Formen dort und da bereits probiert und umgesetzt wurden, gab es unter Unterrichtsminister Fred Sinowatz (SPÖ) die Möglichkeit, dazu auch Schulversuche einzurichten.
Im Herbst 1974 starteten in Wien vier verschränkte Ganztagsschulen als Schulversuch, darunter die Volksschule Aspernallee und die Hauptschule Roterdstraße, beide sind bis heute Ganztagsschulen. „Nach österreichischer Sitte gab es aber nicht einen Schulversuch, sondern zwei verschiedene“, sagt Oskar Achs.
Von der ÖVP sei die Tagesheimschule forciert worden, die mit reiner Nachmittagsbetreuung nicht für die ganze Klasse obligatorisch war. Die SPÖ drängte auf das verschränkte Modell, bei dem einige Fächer in den Nachmittag verlegt wurden und das für alle Pflicht war. „Damit ist vor mehr als 40 Jahren die Vorläufersituation für die heutigen unterschiedlichen Positionen gegeben“, so Scholz. Mehr noch: „Der Begriff von der Zwangstagsschule ist damals schon gefallen“, sagt Leo Leitner, damals Sektionschef im Unterrichtsressort.
20 Jahre nach den ersten Versuchen wurden verschränkte und offene Ganztagsschulen 1994 ins Regelschulwesen übernommen, ihr Ausbau wurde seither mit mehr oder weniger Verve betrieben. Seit 2006 musste es ein ganztägiges Angebot geben, wenn mindestens 15 Eltern eines Standorts das wollten, jetzt zwölf. 120.000 ganztägige Schulplätze gibt es heute. Geht es nach der Bundesregierung, sollen es bis 2025 doppelt so viele sein.
Nota. - Die österreichische Sozialdemokratie hatte in den zwanziger Jahren eine eigene Kinderorganisation, die war ein Bollwerk der Reformpädagogik. Ihr Name war Die Kinderfreunde. Aber das ist lange her.
JE
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