aus DiePresse.com, 05.10.2016 | 11:44 |
Forscherin: "Guter Frontalunterricht ist super"
Wenn offener Unterricht gut gemacht ist, kann er soziale Unterschiede ausgleichen. Schlechter kann sie dagegen sogar verstärken.
Beim Offenen Unterricht geht man beim Lernen von den Alltagserfahrungen der Schüler aus. Sie lösen dann in Einzelarbeit, zu zweit oder in der Gruppe Aufgaben, die ihnen per Tages- oder Wochenplan vorgegeben werden. Wo, wann und in welcher Reihenfolge sie das tun, entscheiden die Kinder selbst. Bei differenzierten Formen wird zusätzlich unterschieden zwischen Pflicht- und freiwilligen Zusatzübungen, beim sogenannten offenen Plan stellen die Schüler - unter Kontrolle des Lehrers - ihre Aufgaben überhaupt komplett selbst zusammen.
Leistungsunterschiede verringert
In dem dreijährigen Projekt "Kindorientiertes Lehren und Lernen" hat Czejkowska, die Leiterin des Instituts für Pädagogische Professionalisierung der Uni Graz, mit Kollegen an zwei steirischen Volksschulen untersucht, was für guten Offenen Unterricht notwendig ist. Stimmen die Voraussetzungen, lernen die Kinder nicht nur selbstständig neues Wissen zu erwerben. Es können laut Czejkowska sogar jene Leistungsunterschiede verringert werden, die die Kinder zu Beginn der Volksschule wegen ihrer unterschiedlichen sozialen Herkunft mitbringen.
Das Problem: Derzeit würden zwar Politik und nicht selten Eltern auf den als "neu" etikettierten Offenen Unterricht drängen, Schulen und Lehrer würden allerdings bei der Umsetzung alleine gelassen. Die Forderungen der Forscherin: Lehrer müssten künftig im Rahmen der Aus-, Fort- und Weiterbildung darin unterstützt werden, wie sie die Schüler sinnvoll auf selbstständiges Lernen vorbereiten können. "Werden die Kinder nicht rechtzeitig eingeführt, dann scheitern sie am Offenen Lernen, weil sie nicht wissen, wie es geht."
Mindestens zwei Lehrer
Unterstützung bräuchten Lehrer außerdem bei objektiver und kindgerechter Leistungsrückmeldung und dem Erstellen von Lernunterlagen, die auch tatsächlich Kompetenzen abfragen. Eigentlich müssten ihrer Meinung nach für diese Art des Unterrichts im Idealfall sogar mindestens zwei Lehrer in jeder Klasse stehen.
Czejkowska wehrt sich deshalb auch gegen ein Bild vom Offenen Unterricht, in dem der Lehrer nur noch "Lernbegleiter" sein muss und einfach die leistungsschwächeren Schüler von den leistungsstärkeren lernen. Eine gute Umsetzung des Konzepts bedeute für den Lehrer nämlich mehr und nicht weniger Aufwand als klassischer Frontalunterricht.
Soziale Unterschiede verstärkt
Und er birgt zusätzliche Gefahren: "Wird Offener Unterricht nicht gut vorbereitet, indem alle Kinder wissen, wie sie ihr Lernen organisieren müssen, werden soziale Unterschiede sogar noch verstärkt." Denn während Kinder aus bildungsnahen Familien in der Regel schon Vorkenntnisse haben, wie man selbstständig lernt und mit den im Offenen Unterricht verwendeten Formaten umgeht, fehlen diese den anderen. Schwächere würden dann, wie von Kritikern des Offenen Unterrichts vorgeworfen, tatsächlich allein gelassen.
"Provokant gesagt: Schlechter Frontalunterricht ist mir immer noch lieber als schlechter Offener Unterricht", sagt die Wissenschafterin deshalb. Denn bei Frontalunterricht hätten wenigstens alle Kinder den gleichen Zugang zu neuem Wissen. Überhaupt verwehrt Czejkowska sich dagegen, Frontalunterricht als autoritär oder Motivationsbremse zu verurteilen. "Guter Frontalunterricht ist eine super Unterrichtsform. Es geht nur darum zu hinterfragen, wann welches Format und welche Materialien am sinnvollsten eingesetzt werden können. Auf eine gute Mischung kommt es an."
(APA)
Nota. - Dass der Offene Unterricht besser für die Kinder sei als der Frontalunterricht, haben sich Lehrer ausgedacht. Dass die Schüler im Offenen Unterricht entspannter sind, mag für einige zutreffen; aber andere entspannen sich so weit, dass sie gar nicht mehr mitmachen...
Auf jeden Fall ist es aber für den Lehrer entspannter. Im Frontalunterricht gibt er jeweils 45 Minuten lang eine Soloshow, bei der er das Gefühl hat, sich keinen Fehler leisten zu können und sein Publikum ununter- brochen in Atem halten zu müssen. Das kann er auf die Dauer gar nicht durchhalten, und er wird sich schließlich den Schlendrian durchgehen lassen, sofern die Schüler ihn ihm auch durchgehen lassen - zu dem Preis, dass er den ihren durchgehen lässt. - Aber das wird die meisten auf die Dauer noch mehr stra- pazieren.
Im Offenen Unterricht steht der Lehrer nicht dauernd auf dem Drahtseil, er kann sich mal zurücklehnen und beobachten, und wenn ein Schüler selber die Initiative ergreift, freut er sich wirklich, weil es ihn entlastet. Aber statt einer hat er nun ein halbes Dutzend Baustellen, er muss ständig rauf- und runterschalten, und außer zwei Dutzend persönlicher Identitäten muss er nun noch ein halbes Dutzend Gruppenidentitäten unterscheiden. Viele werden finden, dass sie vom Regen in die Traufe gekommen sind, und es ist kein Wunder, dass einer auf die Idee kam, irgendwie ein Zwischending zu erfinden.
Des Dilemmas Lösung gibt es nicht. Eine ideale Schule kann nicht sein, weil die Schule kein Ideal ist, sondern ein Notbehelf. Ein "idealer Notbehelf" - Erziehungswissenschaftlern traue ich zu, so etwas auszu- hecken. - Bis aber die Schule abgeschafft wird, wird noch manche Generation säckeweise in saure Äpfel beißen müssen.
Und inzwischen wäre es schon ein kleiner Fortschritt, wenn zwei Lehrer statt nur eines einzigen in der Klasse wären. Wenn nur nicht immer einer die erste Geige spielen wollte...
JE
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