aus Der Standard, Wien, 24./25.1.2015
"Big Hero 6": Kampfmaschine und Krankenpfleger
Der Junge mit dem Erste-Hilfe-Roboter: Der neue Disney-Animationsfilm "Big Hero 6" nimmt das Thema Freundschaft zwischen Mensch und Maschine auf und reichert es mit einer Vielzahl von Themen und Motiven an
von Michael Pekler
Wien - Wer Erfindergeist nicht für die gute Sache verwendet, läuft Gefahr, auf die schiefe Bahn zu geraten. Der 14-jährige Hiro, der als Waise bei seiner Tante in San Fransokyo, einem futuristischen Konglomerat aus San Francisco und Tokio, aufwächst, ist eines jener Genies, die ihre Fähigkeiten lieber in den Dienst der eigenen Sache stellen. Hiro treibt sich bei illegalen Roboterkämpfen herum und macht mit seiner harmlos aussehenden, aber effektiven Kampfmaschine Taschengeld.
Der Roboter, um den sich die Erzählung von Big Hero 6 (Baymax), dem jüngsten Animationsfilm von Don Hall und Chris Williams aus der Disney-Computerwerkstatt, dreht, ist gleichwohl ein anderer: Baymax ist ein strahlend weißer, aufblasbarer "persönlicher Gesundheitsbegleiter", hinterlassen von Hiros älterem und nicht weniger erfindungsreichem Bruder. Ein nicht beabsichtigtes Abschiedsgeschenk, das sich freundlich nach dem Befinden erkundigt, medizinische Sofortmaßnahmen ergreift und sich deaktiviert, wenn der Patient seine Gesundheit bekräftigt. Und einen solchen Gefährten, der sich nicht nur um sein körperliches, sondern auch sein seelisches Wohl kümmert, braucht ein jugendlicher Stubenhocker dringend.
Das auf den ersten Blick scheinbar bekannte Szenario einer Freundschaft zwischen Mensch und Maschine erweist sich in Baymax als vielschichtige Erzählung, die vom Autorenduo Daniel Gerson und Robert L. Baird (Monsters University) mit einer Vielzahl von Themen angereichert wird. Denn nachdem Hiros jüngste Erfindung in die falschen Hände gefallen ist und zu einer buchstäblich großen Gefahr für die Stadt heranwächst, entwickelt sich das Coming-of-Age-Drama zum Whodunit. Und in der Folge - wenn Hiro und die Erfindercrew seines Bruders im Kampf gegen den Schurken ihre Gadgets zum Einsatz bringen - gar zum smarten Superheldenfilm.
Als humanoider Roboter, dessen Gesicht sich auf zwei schwarze Knopfaugen beschränkt, entwickelt Baymax zwar menschliche Verhaltensweisen, stellt seine Bestimmung als treuer Diener seines Herrn jedoch nie infrage. Da wiegt die Behandlung pubertärer Stimmungsschwankungen gleich schwer wie die Bedrohung einer Metropole. Der Idee von der beseelten künstlichen Intelligenz, die sich zum besten Freund des Menschen entwickelt, kann dieser Film trotzdem nicht widerstehen.
Doch wer so viel Empathie beweist wie dieser zur Kampfmaschine aufgerüstete Krankenpfleger, dem sei am Ende auch ein eigenes Herz gegönnt, über das nur er selbst entscheiden darf.
Freitag, 23. Januar 2015
Das demographische Paradox: immer weniger Kinder, immer mehr Betreuer.
aus derStandard.at, 23. Jänner 2015, 17:14 (vom Hubschrauber aus)
Mehr Kinderbetreuung in Österreichs alternden Städten
Mit der Einwohnerzahl der Städte steigt auch das Durchschnittsalter. Dennoch gibt es dort immer mehr Betreuungsplätze für Kinder
von MICHAEL MATZENBERGER
Wien - Österreichs Städte wachsen. Zwar nicht alle und nicht gleich stark, doch über das Bundesgebiet hinweg verstärkt sich die Tendenz zur Urbanisierung. Wie der am Freitag von Statistik Austria und Städtebund vorgestellte Bericht "Österreichs Städte in Zahlen 2014" zeigt, leben mittlerweile 45,7 Prozent der Einwohner Österreichs in Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern – vor acht Jahren waren es 44,5 Prozent.
Der Zuwachs ist vor allem auf den Zuzug aus dem In- und Ausland zurückzuführen. Die Geburtenbilanz in den 240 untersuchten Gebietskörperschaften ist im Schnitt sogar negativ. Und während die Zahl der Kinder in den Städten prozentual stetig abnimmt und damit das Durchschnittsalter der Bewohner steigt, nimmt über fast alle Städte hinweg die Zahl der Betreuungsplätzen für Kleinkinder massiv zu.
Zahl der Schließtage sinkt
So besuchten 2003 erst 8,5 Prozent der unter Dreijährigen eine Kinderkrippe, 2013 lag die Betreuungsquote schon bei 23 Prozent. In Wien sind sogar vier von zehn Kleinkindern regelmäßig Gäste einer solchen Einrichtung. Bei den Kindergartenkindern, also der Altersgruppe der Drei- bis Fünfjährigen stieg der Wert in diesen zehn Jahren von 81,8 auf 90,8 Prozent.
Die 240 im Bericht berücksichtigten Gemeinden boten im Vorjahr 1.019 Krippen (+363 verglichen mit 2003), 2.310 Kindergärten (+172), 851 Einrichtungen mit altersgemischten Gruppen (+630) und 814 Horte (+22) an. Gleichzeitig nahm in diesen Institutionen die Zahl der Schließtage deutlich ab: Kindergärten im städtischen Raum etwa hatten 2003 noch an durchschnittlich 43,3 Tagen pro Jahr geschlossen, 2013 waren es nur mehr 30,3 Tage. Kinderkrippen für unter Dreijährige in der Bundeshauptstadt sperren überhaupt nur 3,1 Tage zu.
...
Österreichs Städte in Zahlen 2014
Nota. - Wenn Sie dies Blog schon länger verfolgen, wird Sie obige Meldung nicht überraschen. Anderfalls sollten Sie das bislang Versäumte gleich nachholen!
JE
Mehr Kinderbetreuung in Österreichs alternden Städten
Mit der Einwohnerzahl der Städte steigt auch das Durchschnittsalter. Dennoch gibt es dort immer mehr Betreuungsplätze für Kinder
von MICHAEL MATZENBERGER
Wien - Österreichs Städte wachsen. Zwar nicht alle und nicht gleich stark, doch über das Bundesgebiet hinweg verstärkt sich die Tendenz zur Urbanisierung. Wie der am Freitag von Statistik Austria und Städtebund vorgestellte Bericht "Österreichs Städte in Zahlen 2014" zeigt, leben mittlerweile 45,7 Prozent der Einwohner Österreichs in Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern – vor acht Jahren waren es 44,5 Prozent.
Der Zuwachs ist vor allem auf den Zuzug aus dem In- und Ausland zurückzuführen. Die Geburtenbilanz in den 240 untersuchten Gebietskörperschaften ist im Schnitt sogar negativ. Und während die Zahl der Kinder in den Städten prozentual stetig abnimmt und damit das Durchschnittsalter der Bewohner steigt, nimmt über fast alle Städte hinweg die Zahl der Betreuungsplätzen für Kleinkinder massiv zu.
Zahl der Schließtage sinkt
So besuchten 2003 erst 8,5 Prozent der unter Dreijährigen eine Kinderkrippe, 2013 lag die Betreuungsquote schon bei 23 Prozent. In Wien sind sogar vier von zehn Kleinkindern regelmäßig Gäste einer solchen Einrichtung. Bei den Kindergartenkindern, also der Altersgruppe der Drei- bis Fünfjährigen stieg der Wert in diesen zehn Jahren von 81,8 auf 90,8 Prozent.
Die 240 im Bericht berücksichtigten Gemeinden boten im Vorjahr 1.019 Krippen (+363 verglichen mit 2003), 2.310 Kindergärten (+172), 851 Einrichtungen mit altersgemischten Gruppen (+630) und 814 Horte (+22) an. Gleichzeitig nahm in diesen Institutionen die Zahl der Schließtage deutlich ab: Kindergärten im städtischen Raum etwa hatten 2003 noch an durchschnittlich 43,3 Tagen pro Jahr geschlossen, 2013 waren es nur mehr 30,3 Tage. Kinderkrippen für unter Dreijährige in der Bundeshauptstadt sperren überhaupt nur 3,1 Tage zu.
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Österreichs Städte in Zahlen 2014
Nota. - Wenn Sie dies Blog schon länger verfolgen, wird Sie obige Meldung nicht überraschen. Anderfalls sollten Sie das bislang Versäumte gleich nachholen!
JE
Donnerstag, 22. Januar 2015
Für Jungens ist die Schule ungeeignet.
aus Die Presse.com, 22.01.2015 | 16:23
Schule:
Mädchen sind in 70 Prozent der Länder besser
Eine Studie zeigt, dass besonders am untersten Rand der Leistungen die Buben zurückliegen - unabhängig von der Gleichberechtigung in einem Land.
In sieben von zehn Ländern liefern Mädchen bessere schulische Leistungen ab als Buben. Selbst in Staaten, in denen die Rechte der Frauen stark eingeschränkt sind, schneiden Mädchen besser ab. Das zeigt eine am Donnerstag veröffentlichte Studie: Psychologen der Universitäten Glasgow und Missouri untersuchten dafür die Schulleistungen von 1,5 Millionen 15-Jährigen weltweit.
Hierbei ging es nicht um die Noten der Schüler. Die Forscher stützten sich auf PISA-Daten aus den Jahren 2000 bis 2010. Werden die Leistungen in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften zusammengefasst betrachtet, schneiden Buben laut der Studie in 70 Prozent der Länder schlechter ab als Mädchen. Lediglich in Kolumbien, Costa Rica und im indischen Staat Himachal Pradesh überflügeln sie die Mädchen.
Unterschiede unabhängig von Gleichstellung
Das Fazit der Forscher: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen den Unterschieden bei den Schulleistun- gen zwischen Buben und Mädchen und der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gleichberechtigung in einem Land. Auch Länder mit einem hohen Maß an Gleichberechtigung hätten bei Schulleistungen noch immer einen Geschlechtergraben, schreiben die Psychologen.
Besonders groß sind die Unterschiede laut der im Magazin "Intelligence" veröffentlichten Studie paradox- erweise in einigen Ländern, in denen die Frauen stark benachteiligt sind: In Katar, Jordanien und den Vereinigten Arabischen Emiraten beispielsweise seien die Schulleistungen der Mädchen deutlich besser als diejenigen der Buben.
Durch die Medien könnte man leicht den Eindruck gewinnen, dass Mädchen weltweit hinter die Burschen zurückfallen, besonders in Ländern mit wenig Gleichberechtigung. Das sei aber nicht so, sagt Gijsbert Stoet von der University of Glasgow, der die Studie leitete.
Viele Buben am untersten Rand
Am größten waren die Unterschiede im Bereich der untersten Leistungen. Das schlechte Abschneiden wirft für die Forscher auch die Frage nach den Langzeitfolgen für Nationen auf, wenn viele Männer in der modernen Wirtschaft nicht wettbewersfähig sind.
Im Bereich der Höchstleistungen ging die Schere übrigens zusammen - und das Muster kehrte sich teil- weise [?!] sogar um. Hier waren die besten Buben teils besser als die besten Mädchen. Großbritannien und die USA gehören zu den Ländern, in denen sich keine statistisch relevanten Geschlechterunterschiede zeigten.
Warum sind die Buben schlechter?
Buben hätten schlechtere Leistungen in der Schule - Dazu komme, dass sich die Schere auch nicht schließen würde, sagt Studienleiter Gijsbert Stoet. Wenn die Politik sich wirklich für Geschlechter- gerechtigkeit in der Bildung interessieren würde, müsste das ihre Priorität sein.
"Wir müssen wir auch sicherstellen, dass wir mehr dafür tun zu verstehen, warum dieses schlechten Leistungen der Buben bestehen und welche anderen Strategien wir anwenden können, um die Schere zu schließen." Und: "Die Resultate der Studie zeigen, dass Engagement für mehr Gleichberechtigung alleine nicht ausreicht, um die Leistungsunterschiede bei der Bildung verschwinden zu lassen", so Stoet.
Natürlich gebe es viele andere Gründe, um nach mehr Gleichstellung der Geschlechter zu streben, die in der Studie nicht berücksichtigt würden, schreiben die Forscher.
(APA/sda/Red.)
Nota. - Merke und bedenke immer wieder: Die Schule misst nicht die Intelligenz ihrer Schüler; nicht ihre Leistungen, nicht ihre Leistungsfähigkeit noch -bereitschaft.
Die Schule misst die Bereitschaft zum Stillsitzen und Maulhalten und Tun, was einem/r gesagt wird, und darin sind Jungens wirklich nicht gut.
Und das ist unabhängig vom guten oder schlechten Willen der Lehrer/innen (aber der ist natürlich ein Thema für sich); es ist die immanente Logik einer Massenanstalt, die gar nicht anders kann als den Durch- schnitt für die Norm zu nehmen. Und zum Durchschnitt taugt die männliche Hälfte unserer Gattung eben nicht besonders.
JE
Mittwoch, 21. Januar 2015
Wen bilden wofür?
aus nzz.ch, 21.1.2015, 05:00 Uhr
Neue Bücher über Schule, Universität und Beruf
Bildung in der Krise
von Hans-Albrecht Koch
Seit einiger Zeit nimmt die Zahl von Publikationen auffällig zu, die Zweifel an einer Bildungspolitik äussern, die immer mehr die Erlernung typischer Ausbildungsberufe an eine Hochschule verlagern will, solcher Berufe also, bei denen die praktische Anleitung die theoretische Reflexion überwiegen muss. Ob man darin schon die Vorboten eines bildungspolitischen Umsteuerns sehen darf, muss freilich noch dahingestellt bleiben. Immerhin aber darf man mit dem Münchener Professor für Philosophie Julian Nida-Rümelin wieder fragen, was der «Akademisierungswahn» für Individuen und Gesellschaft gebracht hat. Fünf Jahre hat der Autor, zuerst als Kulturreferent der Stadt München, dann als Staatsminister für kulturelle Angelegenheiten im Kabinett des Bundeskanzlers Gerhard Schröder, auch selbst in der politischen Verant- wortung gestanden. Manches zieht er nun nachdrücklich in Zweifel, wofür er sich als sozialdemokratischer Bildungspolitiker früher selbst eingesetzt hat.
Gefährdete Substanz
Das Fazit seines kritischen Rückblicks kommt den Analysen des Zentralverbands des Deutschen Hand- werks erstaunlich nahe, der sich um den Nachwuchs sorgt. Dem «intellektualistischen» Mainstream der Bildungspolitik in Deutschland stellt Nida-Rümelin Überlegungen wie diese entgegen: «Es ist durchaus fraglich, ob der Erzieher, der ein Psychologiestudium absolviert hat, mit dreijährigen Kindern besser umgehen kann als derjenige, der eine intensive praktische Erfahrung unter Anleitung hinter sich» gebracht hat. (Auch die meisten erziehenden Eltern sind keine ausgebildeten Pädagogen . . .) Einerseits bricht auf den Berufsfeldern, die der Erfahrung angeleiteter Praxis bedürfen, ebendiese Praxis weg; andererseits verliert das Studium von Fächern, die der theoriegeleiteten Reflexion bedürfen, im Nürnberger Trichter des «modularisierten» Bachelorstudiums und der verordneten engen Spezialisierung des Masterstudiums den Blick für Zusammenhänge und für den Ort des Details im Ganzen. Dem vor fünfzehn Jahren eingeleiteten Bologna-Prozess attestiert Rümelin, er «gefährde die Substanz der europäischen Universität».
Der an der Universität Wien lehrende Philosoph Konrad Paul Liessmann lenkt in einer Fundamentalkritik des bildungspolitischen Aktionismus den Blick auf dessen Folgen, die zwar längst jeder in der akademi- schen Lehre Tätige erfahren hat, die aber aus Opportunismus selten beim Namen genannt werden. Der zeitgenössischen Pädagogik wirft Liessmann die «Transformation höherer Schulen in sozialpädagogische Anstalten» vor – eine Transformation, die unter der Flagge des Erwerbs sogenannter Kompetenzen («Handlungskompetenz», «Sozialkompetenz», gar «Selbstkompetenz») dahergesegelt kommt und den Weg zum Verzicht auf das Vermitteln bzw. Erlernen von schwierigen, aber dauerhaft lohnenden «Inhalten» bereitet. (Rund 4000 Kompetenzen schlug der Schweizer Lehrplan 21 für die Grundschule vor!)
Liessmann enttarnt die zur Begründung des Kompetenz-Konzepts vorgetragenen Gesichtspunkte als «Ori- entierung an den vermeintlichen Bedürfnissen der jungen Menschen, an den Wünschen der Arbeitgeber oder an den Herausforderungen der Zukunft, die niemand kennt» – in summa: als bewusste Abkehr von der anstrengenden Zumutung, junge Menschen mit so «nutzlosen» Aufgaben zu konfrontieren wie der Lektüre bedeutender Texte aus Literatur oder Philosophie. Nach den eher niederschmetternden Bemerkungen über die «Käuflichkeit des Geistes», die man noch um die Frage ergänzen mag, wieso der Unterricht immer mehr vom Vertrieb irgendwelcher Produkte der Power-Point-Industrie bestimmt sein muss statt vom zugewandten Gespräch, lenkt der Autor seinen Leser zum Schluss mit der Frage nach der «Schönheit des Nutzlosen» so strikt wie geschickt auf das grosse anthropologische Thema aller Philosophie: Wessen bedarf es zu einem gelingenden, zu einem glücklichen Leben?
Christiane Florin, Journalistin und Politikwissenschafterin, die bis zum Ende des «Rheinischen Merkurs» im Jahre 2010 dessen Feuilletonchefin war und heute die Redaktion «Christ und Welt» der «Zeit» leitet, hat sich getraut, Szenen aus dem Alltag einer Lehrbeauftragten zu beschreiben, die in erfrischend launiger Sprache und mit ironischer Distanz das Elend universitärer Lehre widerspiegeln. Viele Dozenten dürften das Buch als ein Déjà-vu lesen – mag es sich um den Mangel an Selbstmotivation vieler Studierender handeln («das Gros arbeitet Referate und Hausarbeiten ab wie einen Bestellauftrag») oder um das ständige «Nuckeln» an der Flasche oder um die Zumutung, als die Seminarteilnehmer es schon empfinden, wenn sie sich für eine Arbeit einmal ein Buch per Fernleihe besorgen müssen. – Es scheint sich das Missverständnis breitgemacht zu haben, Universität sei eine Einrichtung zur Erzeugung von Nestwärme und nicht eine solche, in der man sich mit Vergnügen intellektuellen und sozialen Herausforderungen stellt. Die Autorin bietet manchen Beleg dafür, dass eine Didaktik der sachlichen Strenge junge Menschen beim Studium um vieles besser fördert als eine Didaktik der bequemen Anbiederung.
Das Buch von Mark Roche, das nicht so komparatistisch angelegt ist, wie der sprachlich verunglückte Titel vermuten lässt, handelt unter den Stichwörtern Vielfalt, Flexibilität, Wettbewerb, Anreizstrukturen und dergleichen mehr alles ab, wovon man in Europa immer schon zu wissen meinte, dass es die amerikani- schen Universitäten zu ihrem Vorteil auszeichne. Wer genauer hinschaut, wird nicht alles so hoch veranschlagen wie der Verfasser: Ja, die USA haben es besser, was die finanzielle Situation angeht – das gilt aber nur für die kleine Spitze der langen Liste von Hunderten amerikanischer Universitäten. Das Betreuungsverhältnis von Dozierenden zu Studierenden ist besser, zweifellos. Vieles aber, was Roche an Vorzügen nennt – etwa die vermeintlich so unübertrefflich sorgfältige Berufungspolitik, den Nutzen der starken Stellung des Dean gegenüber einem europäischen Dekan –, überzeugt nur den, der sich auf die Realität nicht allzu sehr einlässt.
Was der Verfasser, der sich besonders auf seine persönliche Erfahrung als Dean des College of Arts and Letters an der katholischen University of Notre Dame beruft, weitläufig ausbreitet, ist zwar an sich nicht uninteressant, unterschlägt aber doch zuweilen wichtige Kontexte: etwa den, dass ein Undergraduate-Studium am College eher mit der gymnasialen Oberstufe in den deutschsprachigen Ländern zu vergleichen war als mit dem universitären Grundstudium (jedenfalls bis zur Bologna-Katastrophe). Was Roche über den (als solchen nicht gekennzeichneten) Export der Rice University an die International University (Jacobs University) in Bremen schreibt, liest sich wie deren einstiger Werbeprospekt und entspricht nur noch dem Stand vor dem finanziellen Debakel und dem Rückbau dieser privaten Hochschule.
Es blüht der Unfug
Alle Autoren ausser Nida-Rümelin handeln nur von geisteswissenschaftlichen Fächern im weiteren Sinne, berücksichtigen aber nicht die seit einiger Zeit gern unter dem Kunstwort «Mint» zusammengefassten Disziplinen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – auch nicht die recht eigentlich dazugehörenden mathematisch fundierten Wirtschaftswissenschaften, die sich ihrer Abkunft aus der Philosophie kaum selbst noch bewusst sind. Die Mint-Fächer haben in der Mathematik eine anspruchsvolle gemeinsame Grundlage, die zu Präzision zwingt und zugleich eine Hürde ist, an der das Studium gegebenenfalls «rechtzeitig» scheitert. Dergleichen fehlt in den Geisteswissenschaften, die heute mit Innovation vortäuschender Umbenennung gern als Kulturwissenschaften firmieren, seit der Abschaffung obligatorischer Lateinkenntnisse. Und so blüht solcher Unfug wie die «kooperative Zusammenarbeit» inzwischen in «akademischen» Texten zuhauf und verhilft zu Seminarscheinen, Credit-Points und Bachelor-Zeugnissen.
Julian Nida-Rümelin: Der Akademisierungswahn. Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2014. 253 S., Fr. 24.90.
Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Zsolnay, Wien 2014. 190 S., Fr. 27.90.
Christiane Florin: Warum unsere Studenten so angepasst sind. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2014. 79 S., Fr. 8.40.
Mark Roche: Was die deutschen Universitäten von den amerikanischen lernen können und was sie vermeiden sollten. Aus dem Amerikanischen von Christiana Goldmann. Felix Meiner, Hamburg 2014. 297 S., Fr. 32.90.
Nota. - Die deutsche Universität Humboldt'scher Prägung ist entstanden als eine Berufsausbildungs- Anstalt; ein Anstalt zur Ausbildung von Staatsdienern. Nicht von subalternen Beamten, sondern von Leuten, die das Gemeinwesen lenken können. Dementsprechend umfassend sollten sie gebildet sein.
Das ist lange her. Inzwischen sind die Universitäten zu Fachhochschulen für alle erdenklichen Berufe geworden, und nicht im Staatsdienst, sondern für die Erfordernisse des Arbeitsmarkts. Das ist zu wenig, nicht wahr? Eine Gesellschaft braucht doch auch Leute, die nicht nur um ihres eigenen Auskommens willen...
Ach, braucht sie diese Leute? Und wenn ja: wozu? Und wer soll sie bezahlen? Das kostet doch alles Geld, wer trägt das Risiko?
JE
Bildung in der Krise
von Hans-Albrecht Koch
Seit einiger Zeit nimmt die Zahl von Publikationen auffällig zu, die Zweifel an einer Bildungspolitik äussern, die immer mehr die Erlernung typischer Ausbildungsberufe an eine Hochschule verlagern will, solcher Berufe also, bei denen die praktische Anleitung die theoretische Reflexion überwiegen muss. Ob man darin schon die Vorboten eines bildungspolitischen Umsteuerns sehen darf, muss freilich noch dahingestellt bleiben. Immerhin aber darf man mit dem Münchener Professor für Philosophie Julian Nida-Rümelin wieder fragen, was der «Akademisierungswahn» für Individuen und Gesellschaft gebracht hat. Fünf Jahre hat der Autor, zuerst als Kulturreferent der Stadt München, dann als Staatsminister für kulturelle Angelegenheiten im Kabinett des Bundeskanzlers Gerhard Schröder, auch selbst in der politischen Verant- wortung gestanden. Manches zieht er nun nachdrücklich in Zweifel, wofür er sich als sozialdemokratischer Bildungspolitiker früher selbst eingesetzt hat.
Gefährdete Substanz
Das Fazit seines kritischen Rückblicks kommt den Analysen des Zentralverbands des Deutschen Hand- werks erstaunlich nahe, der sich um den Nachwuchs sorgt. Dem «intellektualistischen» Mainstream der Bildungspolitik in Deutschland stellt Nida-Rümelin Überlegungen wie diese entgegen: «Es ist durchaus fraglich, ob der Erzieher, der ein Psychologiestudium absolviert hat, mit dreijährigen Kindern besser umgehen kann als derjenige, der eine intensive praktische Erfahrung unter Anleitung hinter sich» gebracht hat. (Auch die meisten erziehenden Eltern sind keine ausgebildeten Pädagogen . . .) Einerseits bricht auf den Berufsfeldern, die der Erfahrung angeleiteter Praxis bedürfen, ebendiese Praxis weg; andererseits verliert das Studium von Fächern, die der theoriegeleiteten Reflexion bedürfen, im Nürnberger Trichter des «modularisierten» Bachelorstudiums und der verordneten engen Spezialisierung des Masterstudiums den Blick für Zusammenhänge und für den Ort des Details im Ganzen. Dem vor fünfzehn Jahren eingeleiteten Bologna-Prozess attestiert Rümelin, er «gefährde die Substanz der europäischen Universität».
Der an der Universität Wien lehrende Philosoph Konrad Paul Liessmann lenkt in einer Fundamentalkritik des bildungspolitischen Aktionismus den Blick auf dessen Folgen, die zwar längst jeder in der akademi- schen Lehre Tätige erfahren hat, die aber aus Opportunismus selten beim Namen genannt werden. Der zeitgenössischen Pädagogik wirft Liessmann die «Transformation höherer Schulen in sozialpädagogische Anstalten» vor – eine Transformation, die unter der Flagge des Erwerbs sogenannter Kompetenzen («Handlungskompetenz», «Sozialkompetenz», gar «Selbstkompetenz») dahergesegelt kommt und den Weg zum Verzicht auf das Vermitteln bzw. Erlernen von schwierigen, aber dauerhaft lohnenden «Inhalten» bereitet. (Rund 4000 Kompetenzen schlug der Schweizer Lehrplan 21 für die Grundschule vor!)
Liessmann enttarnt die zur Begründung des Kompetenz-Konzepts vorgetragenen Gesichtspunkte als «Ori- entierung an den vermeintlichen Bedürfnissen der jungen Menschen, an den Wünschen der Arbeitgeber oder an den Herausforderungen der Zukunft, die niemand kennt» – in summa: als bewusste Abkehr von der anstrengenden Zumutung, junge Menschen mit so «nutzlosen» Aufgaben zu konfrontieren wie der Lektüre bedeutender Texte aus Literatur oder Philosophie. Nach den eher niederschmetternden Bemerkungen über die «Käuflichkeit des Geistes», die man noch um die Frage ergänzen mag, wieso der Unterricht immer mehr vom Vertrieb irgendwelcher Produkte der Power-Point-Industrie bestimmt sein muss statt vom zugewandten Gespräch, lenkt der Autor seinen Leser zum Schluss mit der Frage nach der «Schönheit des Nutzlosen» so strikt wie geschickt auf das grosse anthropologische Thema aller Philosophie: Wessen bedarf es zu einem gelingenden, zu einem glücklichen Leben?
Christiane Florin, Journalistin und Politikwissenschafterin, die bis zum Ende des «Rheinischen Merkurs» im Jahre 2010 dessen Feuilletonchefin war und heute die Redaktion «Christ und Welt» der «Zeit» leitet, hat sich getraut, Szenen aus dem Alltag einer Lehrbeauftragten zu beschreiben, die in erfrischend launiger Sprache und mit ironischer Distanz das Elend universitärer Lehre widerspiegeln. Viele Dozenten dürften das Buch als ein Déjà-vu lesen – mag es sich um den Mangel an Selbstmotivation vieler Studierender handeln («das Gros arbeitet Referate und Hausarbeiten ab wie einen Bestellauftrag») oder um das ständige «Nuckeln» an der Flasche oder um die Zumutung, als die Seminarteilnehmer es schon empfinden, wenn sie sich für eine Arbeit einmal ein Buch per Fernleihe besorgen müssen. – Es scheint sich das Missverständnis breitgemacht zu haben, Universität sei eine Einrichtung zur Erzeugung von Nestwärme und nicht eine solche, in der man sich mit Vergnügen intellektuellen und sozialen Herausforderungen stellt. Die Autorin bietet manchen Beleg dafür, dass eine Didaktik der sachlichen Strenge junge Menschen beim Studium um vieles besser fördert als eine Didaktik der bequemen Anbiederung.
Das Buch von Mark Roche, das nicht so komparatistisch angelegt ist, wie der sprachlich verunglückte Titel vermuten lässt, handelt unter den Stichwörtern Vielfalt, Flexibilität, Wettbewerb, Anreizstrukturen und dergleichen mehr alles ab, wovon man in Europa immer schon zu wissen meinte, dass es die amerikani- schen Universitäten zu ihrem Vorteil auszeichne. Wer genauer hinschaut, wird nicht alles so hoch veranschlagen wie der Verfasser: Ja, die USA haben es besser, was die finanzielle Situation angeht – das gilt aber nur für die kleine Spitze der langen Liste von Hunderten amerikanischer Universitäten. Das Betreuungsverhältnis von Dozierenden zu Studierenden ist besser, zweifellos. Vieles aber, was Roche an Vorzügen nennt – etwa die vermeintlich so unübertrefflich sorgfältige Berufungspolitik, den Nutzen der starken Stellung des Dean gegenüber einem europäischen Dekan –, überzeugt nur den, der sich auf die Realität nicht allzu sehr einlässt.
Was der Verfasser, der sich besonders auf seine persönliche Erfahrung als Dean des College of Arts and Letters an der katholischen University of Notre Dame beruft, weitläufig ausbreitet, ist zwar an sich nicht uninteressant, unterschlägt aber doch zuweilen wichtige Kontexte: etwa den, dass ein Undergraduate-Studium am College eher mit der gymnasialen Oberstufe in den deutschsprachigen Ländern zu vergleichen war als mit dem universitären Grundstudium (jedenfalls bis zur Bologna-Katastrophe). Was Roche über den (als solchen nicht gekennzeichneten) Export der Rice University an die International University (Jacobs University) in Bremen schreibt, liest sich wie deren einstiger Werbeprospekt und entspricht nur noch dem Stand vor dem finanziellen Debakel und dem Rückbau dieser privaten Hochschule.
Es blüht der Unfug
Alle Autoren ausser Nida-Rümelin handeln nur von geisteswissenschaftlichen Fächern im weiteren Sinne, berücksichtigen aber nicht die seit einiger Zeit gern unter dem Kunstwort «Mint» zusammengefassten Disziplinen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – auch nicht die recht eigentlich dazugehörenden mathematisch fundierten Wirtschaftswissenschaften, die sich ihrer Abkunft aus der Philosophie kaum selbst noch bewusst sind. Die Mint-Fächer haben in der Mathematik eine anspruchsvolle gemeinsame Grundlage, die zu Präzision zwingt und zugleich eine Hürde ist, an der das Studium gegebenenfalls «rechtzeitig» scheitert. Dergleichen fehlt in den Geisteswissenschaften, die heute mit Innovation vortäuschender Umbenennung gern als Kulturwissenschaften firmieren, seit der Abschaffung obligatorischer Lateinkenntnisse. Und so blüht solcher Unfug wie die «kooperative Zusammenarbeit» inzwischen in «akademischen» Texten zuhauf und verhilft zu Seminarscheinen, Credit-Points und Bachelor-Zeugnissen.
Julian Nida-Rümelin: Der Akademisierungswahn. Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2014. 253 S., Fr. 24.90.
Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Zsolnay, Wien 2014. 190 S., Fr. 27.90.
Christiane Florin: Warum unsere Studenten so angepasst sind. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2014. 79 S., Fr. 8.40.
Mark Roche: Was die deutschen Universitäten von den amerikanischen lernen können und was sie vermeiden sollten. Aus dem Amerikanischen von Christiana Goldmann. Felix Meiner, Hamburg 2014. 297 S., Fr. 32.90.
Nota. - Die deutsche Universität Humboldt'scher Prägung ist entstanden als eine Berufsausbildungs- Anstalt; ein Anstalt zur Ausbildung von Staatsdienern. Nicht von subalternen Beamten, sondern von Leuten, die das Gemeinwesen lenken können. Dementsprechend umfassend sollten sie gebildet sein.
Das ist lange her. Inzwischen sind die Universitäten zu Fachhochschulen für alle erdenklichen Berufe geworden, und nicht im Staatsdienst, sondern für die Erfordernisse des Arbeitsmarkts. Das ist zu wenig, nicht wahr? Eine Gesellschaft braucht doch auch Leute, die nicht nur um ihres eigenen Auskommens willen...
Ach, braucht sie diese Leute? Und wenn ja: wozu? Und wer soll sie bezahlen? Das kostet doch alles Geld, wer trägt das Risiko?
JE
Montag, 19. Januar 2015
Der Mann im Kind.
Betrachtet man eine Reihe Bilder von sich selbst, von den Zeiten der letzten Kindheit bis zu der der Mannesreife, so findet man mit einer angenehmen Verwunderung, dass der Mann dem Kinde ähnlicher sieht als der Mann dem Jünglinge: dass also wahrscheinlich, diesem Vorgange entsprechend, inzwischen eine zeitweilige Alienation vom Grundcharakter eingetreten ist, über welche die gesammelte, geballte Kraft des Mannes wieder Herr wurde. So erscheint auch das Denken und Empfindungen des Mannes dem seines kindlichen Lebensalter wieder gemäßer.
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Friedrich Nietzsche, in Menschliches Allzumenschliches
Donnerstag, 8. Januar 2015
Nein, Jungens sind nicht die schlechteren Schüler.
In Österreich wird demnächst das Zentralabitur eingeführt. Es gab im Vorfeld viel über die Modalitäten und manche Panne. Nun wurde als Vorlauftest eine zentrale Übungsarbeit durchgeführt.
aus Die Presse, Wien, 8. 1. 2015
Modellschularbeit:
Fünfer bei Mädchen häufigste Note
Wieder Ärger wegen der Zentralmatura: Mädchen haben bei der Mathe-Modellschularbeit deutlich schlechter abgeschnitten als Burschen.
Dass die jüngste Mathematikschularbeit im Vorfeld der Zentralmatura 30 Prozent Fünfer brachte, wurde bereits vor Weihnachten bekannt – und löste eine neue Debatte über die neue Matura aus. Detailergebnisse könnten nun wieder Ärger bringen: Wie die „Presse“ bereits berichtete, haben Mädchen bei der Modellschularbeit nämlich deutlich schlechter abgeschnitten als Burschen.
Im Schnitt hat jedes dritte Mädchen einen Fünfer kassiert (34,4 Prozent). Bei den Burschen ist es jeder vierte, der eine negative Note bekommen hat (24,1 Prozent). Mehr noch: Bei den Mädchen ist der Fünfer in der Modellschularbeit die häufigste Note. Die Buben haben am häufigsten einen Dreier. Sehr gut gibt es überhaupt nur sehr wenige.
...
(red.)
Nota. - Ach, es handelt sich ja nur um Mathematik...
JE
Dienstag, 6. Januar 2015
Familie und Hauswirtschaft.
aus nzz.ch, 6.1.2015, 11:30 Uhr oskisch: Kindergrab in Paestum
«Familie»
von Klaus Bartels
Was ist eine Familie? Da denken wir an einen trauten Familienkreis von Vater und Mutter, Söhnen und Töchtern und weiter an vielfach verzweigte Stammbäume mit Ringlein für die Eheschliessungen und Linien für die Blutsverwandtschaften: Da geht es zu den Grosseltern hinauf und zu den Enkeln hinab und seitwärts zu Geschwistern, Onkeln und Tanten, Neffen und Nichten hinüber. Bei den Patchwork-Familien geht das alles ein wenig durcheinander; aber die «Familie» selbst ist auf einem einzigen Stamm gewachsen.
Aus dem Oskischen
Das Wort stammt aus dem Oskischen, einer in früher Zeit in Kampanien gesprochenen, später vom Lateini- schen verdrängten Sprache. Seinen ersten Auftritt hat es – noch in Gestalt eines peinlich endungslosen famul, «Diener, Sklave» – in einem Fragment des altrömischen Dichters Ennius, der sich stolz der «drei Herzen» in seiner Brust rühmte, seines heimischen oskischen, eines griechischen und eines lateinischen. In zwei epischen Versen ist da die Rede von einem «höchsten Sterblichen», den die Glücksgöttin «aus dem höchsten Königsrang» unversehens habe stürzen lassen, «ut famul infimus esset – dass er der niederste Diener sei». Die Römer verpassten dem fremden, blossen famul alsbald eine anständige lateinische Endung, stellten dem männlichen famulus eine weibliche famula zur Seite und gewannen dem Wort noch das zukunftsträchtige Kollektivum einer familia ab.
Oskisch
Die so assimilierte familia bezeichnete eigentlich die gesamte «Dienerschaft» oder «Sklavenschaft» in der Wirtschaftsgemeinschaft eines antiken Haushalts, und die reichte in vermögenden Verhältnissen etwa vom Chef de service und der Küchenbrigade im römischen Stadthaus bis hin zu den Sklavenkohorten in einer stadtnahen Sommervilla oder auf weiteren Gütern irgendwo in den Provinzen. Zu einer solchen familia mochten schon im Stadthaus leicht Dutzende, auf den übrigen Besitzungen leicht Tausende zählen. In Neronischer Zeit rühmt einer den Reichtum des Petronischen Trimalchio mit den Worten: «Grund und Boden hat der, soweit die Milane fliegen [. . .] Und erst die familia: Ich glaube, nicht einmal jeder zehnte von denen kennt seinen Herrn.»
Die Schlüsselfigur in dieser «Familien»-Geschichte ist der pater familias, der «Vater der Familie», der in diesem Haushalt, diesem Staat im Staate, frei schaltete und waltete und dessen «väterliche Gewalt» sich von der mater familias, der «Mutter der Familie», und den Söhnen und Töchtern bis zu derlei Sklavenschaften auf den fernsten Familienbesitzungen erstreckte. Über diesen pater familias, dessen ehrwürdiger, einen altlateinischen Genitiv auf -as bewahrender Titel den Vater der Herrschafts-«Familie» zugleich als Vater der Sklaven-familia ansprach und so die freie «Familie» des Herrn in die unfreie familia der Sklaven einbezog, ist die Bedeutung unseres Stichworts schon früh von der «Sklavenschaft» auf das gerade Gegenteil, auf die «Familie» der Herrschaft, übergegangen.
Die beiden einander entgegengesetzten Bedeutungen sind in klassischer Zeit nebeneinander gebräuchlich geblieben. So kann sich in den Terenzischen «Brüdern» ein alter Herr – zu Unrecht – über einen jungen Liebhaber aus bester Familie empören, der einen Bordellwirt und die ganze bei ihm dienstleistende familia halb totgeschlagen habe, und kann zugleich ein anderer Klage führen über eine weitere vermeintliche Schandtat dieses jungen Mannes und kopfschüttelnd hinzusetzen: «Und das aus dieser angesehenen familia!» Später verweist Julius Cäsar einmal auf die mythische Abstammung seiner «Familie», von Iulus, dem Sohn des Äneas, und damit von der Liebesgöttin Venus.
Besitz und Verwandtschaft
Das Nebeneinander dieser Bedeutungen, das seit dem alten Ennius in die Dichtersprache aufgestiegene Dienerpaar famulus und famula und eine siebenköpfige weitere famul-Wörterfamilie konnten allezeit daran erinnern, dass diese familia auch dann, wenn sie sich auf eine Generationenfolge bezog, eigentlich auf eine wirtschaftende Familie und ihr Familienvermögen deutete. Mit dem Ende der Antike und damit auch der Sklaverei in dieser Form hat sich die Bedeutung der lateinischen familia vollends auf den anderen, engeren Kreis unserer «Familie» zusammengezogen; erst mit diesem Paradigmenwechsel von den Besitzverhältnissen zu den Verwandtschaftsverhältnissen hat das Wort bei uns die «familiäre» häusliche Herdwärme gewonnen, die jetzt von ihm ausstrahlt.
oskisch; Grab in Paestum
Nota. - Der Allgewalt des Pater Familias unterlag auch die Hausfrau, die Mater familias. Dabei it aber zu bedenken, dass die römische Staatsreligion, die das gesamte öffentliche und provate Leben regulierte, auf den 'familiären' Kulten um die Hausgötter beruhte; die häusliche Priesterin war aber die Mater familias.
JE
«Familie»
von Klaus Bartels
Was ist eine Familie? Da denken wir an einen trauten Familienkreis von Vater und Mutter, Söhnen und Töchtern und weiter an vielfach verzweigte Stammbäume mit Ringlein für die Eheschliessungen und Linien für die Blutsverwandtschaften: Da geht es zu den Grosseltern hinauf und zu den Enkeln hinab und seitwärts zu Geschwistern, Onkeln und Tanten, Neffen und Nichten hinüber. Bei den Patchwork-Familien geht das alles ein wenig durcheinander; aber die «Familie» selbst ist auf einem einzigen Stamm gewachsen.
Aus dem Oskischen
Das Wort stammt aus dem Oskischen, einer in früher Zeit in Kampanien gesprochenen, später vom Lateini- schen verdrängten Sprache. Seinen ersten Auftritt hat es – noch in Gestalt eines peinlich endungslosen famul, «Diener, Sklave» – in einem Fragment des altrömischen Dichters Ennius, der sich stolz der «drei Herzen» in seiner Brust rühmte, seines heimischen oskischen, eines griechischen und eines lateinischen. In zwei epischen Versen ist da die Rede von einem «höchsten Sterblichen», den die Glücksgöttin «aus dem höchsten Königsrang» unversehens habe stürzen lassen, «ut famul infimus esset – dass er der niederste Diener sei». Die Römer verpassten dem fremden, blossen famul alsbald eine anständige lateinische Endung, stellten dem männlichen famulus eine weibliche famula zur Seite und gewannen dem Wort noch das zukunftsträchtige Kollektivum einer familia ab.
Oskisch
Die so assimilierte familia bezeichnete eigentlich die gesamte «Dienerschaft» oder «Sklavenschaft» in der Wirtschaftsgemeinschaft eines antiken Haushalts, und die reichte in vermögenden Verhältnissen etwa vom Chef de service und der Küchenbrigade im römischen Stadthaus bis hin zu den Sklavenkohorten in einer stadtnahen Sommervilla oder auf weiteren Gütern irgendwo in den Provinzen. Zu einer solchen familia mochten schon im Stadthaus leicht Dutzende, auf den übrigen Besitzungen leicht Tausende zählen. In Neronischer Zeit rühmt einer den Reichtum des Petronischen Trimalchio mit den Worten: «Grund und Boden hat der, soweit die Milane fliegen [. . .] Und erst die familia: Ich glaube, nicht einmal jeder zehnte von denen kennt seinen Herrn.»
Die Schlüsselfigur in dieser «Familien»-Geschichte ist der pater familias, der «Vater der Familie», der in diesem Haushalt, diesem Staat im Staate, frei schaltete und waltete und dessen «väterliche Gewalt» sich von der mater familias, der «Mutter der Familie», und den Söhnen und Töchtern bis zu derlei Sklavenschaften auf den fernsten Familienbesitzungen erstreckte. Über diesen pater familias, dessen ehrwürdiger, einen altlateinischen Genitiv auf -as bewahrender Titel den Vater der Herrschafts-«Familie» zugleich als Vater der Sklaven-familia ansprach und so die freie «Familie» des Herrn in die unfreie familia der Sklaven einbezog, ist die Bedeutung unseres Stichworts schon früh von der «Sklavenschaft» auf das gerade Gegenteil, auf die «Familie» der Herrschaft, übergegangen.
Die beiden einander entgegengesetzten Bedeutungen sind in klassischer Zeit nebeneinander gebräuchlich geblieben. So kann sich in den Terenzischen «Brüdern» ein alter Herr – zu Unrecht – über einen jungen Liebhaber aus bester Familie empören, der einen Bordellwirt und die ganze bei ihm dienstleistende familia halb totgeschlagen habe, und kann zugleich ein anderer Klage führen über eine weitere vermeintliche Schandtat dieses jungen Mannes und kopfschüttelnd hinzusetzen: «Und das aus dieser angesehenen familia!» Später verweist Julius Cäsar einmal auf die mythische Abstammung seiner «Familie», von Iulus, dem Sohn des Äneas, und damit von der Liebesgöttin Venus.
Besitz und Verwandtschaft
Das Nebeneinander dieser Bedeutungen, das seit dem alten Ennius in die Dichtersprache aufgestiegene Dienerpaar famulus und famula und eine siebenköpfige weitere famul-Wörterfamilie konnten allezeit daran erinnern, dass diese familia auch dann, wenn sie sich auf eine Generationenfolge bezog, eigentlich auf eine wirtschaftende Familie und ihr Familienvermögen deutete. Mit dem Ende der Antike und damit auch der Sklaverei in dieser Form hat sich die Bedeutung der lateinischen familia vollends auf den anderen, engeren Kreis unserer «Familie» zusammengezogen; erst mit diesem Paradigmenwechsel von den Besitzverhältnissen zu den Verwandtschaftsverhältnissen hat das Wort bei uns die «familiäre» häusliche Herdwärme gewonnen, die jetzt von ihm ausstrahlt.
oskisch; Grab in Paestum
Nota. - Der Allgewalt des Pater Familias unterlag auch die Hausfrau, die Mater familias. Dabei it aber zu bedenken, dass die römische Staatsreligion, die das gesamte öffentliche und provate Leben regulierte, auf den 'familiären' Kulten um die Hausgötter beruhte; die häusliche Priesterin war aber die Mater familias.
JE
Über das Spielen.
Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen. Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.
Fr. Schiller, Die ästhetische Erziehung des Menschen
Um wirklich zu spielen, muss der Mensch, solange er spielt, wieder Kind sein.
Johan Huizinga, Homo ludens
Die Freude am Spiel ist das schlechterdings ästhetische Vermögen: die Bereitschaft, die 'Sachen' nicht nur so anzuschauen, sondern so für wahr zu nehmen, als ob sie 'an und für sich selber' wären; nämlich ohne irgend ein Verhältnis zu irgend einem Andern, und vor allem nicht: zu meinem 'Bedürfnis'. Es ist eo ipso die Kraft zur Abstraktion und ergo der Reflexion. Kurz, am "Grunde" der Vernunft steht das Spiel – als die spezifisch männlich-kindliche Leistung…
Montag, 5. Januar 2015
Lob der Erziehungswissenschaft.
Erwachsen also unter lauter Wortkrämerei und tätiger Lüge, lernt der Knabe nur eine Wahrheit kennen, die er auch von ganzem Herzen glaubt, nämlich: ‘Krieche wie die, so vor dir sind, durchs Leben, genieße und schwätze viel, tue aber wenig, alles nur für dich, damit du dir nichts abbrechest, und fröne deinen Lüsten.’
Johann Gottfried Herder
in: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele
in: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele
Sonntag, 4. Januar 2015
Der kleine Unterschied.
Wodurch unterscheiden sich Kinder eigentlich von Erwachsenen?
Sie sind kleiner, sie sind schwächer, das ist klar. Aber in moralischer und in intellektueller Hinsicht unter- scheiden sie sich nicht so sehr. Es ist wahr, zum Ansammeln von Kenntnissen hatten sie noch weniger Zeit, doch ihr Urteil, was recht und was unrecht ist, ist noch viel sicherer.
Na ja, "die Erfahrung", die Übung im Selberdenken...
Ihr Horizont, könnte man sagen, ist enger. Aber das hat nichts zu bedeuten, denn bei ihnen geht's hinterm Horizont ja noch weiter. Das kann einem zu denken geben.
Samstag, 3. Januar 2015
Soziales Lernen.
Jeder Ort sollte für seine Knabenwelt einen eigenen, gemeinsamen Spielplatz haben; herrlich würden die Früchte sein, welche daraus für die ganze Gemeinheit hervorgehen; denn die Spiele dieser Entwicklungsstufe sind, wo es nur immer möglich ist, gemeinsam, und so den Sinn und das Gefühl für das Gemeinsame, das Gesetz und die Forderungen des Gemeinsamen entwickelnd. Der Knabe sucht sich in seinen Genossen zu sehen, sich in denselben zu fühlen, sich an denselben zu messen, zu wägen, sich durch dieselben zu erkennen und sich durch sie zu finden; so wirken und bilden diese Spiele unmittelbar fürs Leben, wecken und nähren viele bürgerliche und sittliche Tugenden.
Julius Fröbel
aus Die Menschenerziehung
Freitag, 2. Januar 2015
Verwissenschaftlichung der Schule.
Die vorgebliche Verwissenschaftlichung unserer Schulen seit den sechziger Jahren war ein Desaster. Es wurde der Glaube verbreitet, in der Pädagogik käme es auf Methoden, Technik und Theorien an, und jeder könne sie lernen.
Die unvermeidliche Folge ist, dass die Lehrer heute nichts mehr von sich selber erwarten.
Dabei weiß jeder, dass es bei der Pädagogik um die Leute geht.
Donnerstag, 1. Januar 2015
Bilden heißt die Einbildungskraft versuchen.
Nicht Informationen speichern, verwalten und in gegebenem Fall reproduzieren, sondern die Einbildungskraft versuchen, die Aufmerksamkeit anstrengen, das eigne Urteil wagen, kurz: die Gewärtigkeit ausbilden - das ist Bildung.
...die Abenteuer des Selberdenkens kennen und lieben lernen.
aus e. Notizbuch, im Januar 04
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