Donnerstag, 16. Januar 2014

Wie muss ein Lehrer sein?

Antonio Canova, Daedalus und Icarus
aus NZZ, 16. 1. 2014

Leidenschaft und Interesse
Wie Schüler lernen - und warum Lehrer mit einem Fuss in der ausserschulischen Welt stehen sollten
 


von Allan Guggenbühl

Menschen lernen von klein auf - und ausdauernd. In der Schule aber sinkt bei vielen Kindern und Jugendlichen ab der Vorpubertät die Lernbegeisterung. Lehrerinnen und Lehrer, die ein wenig «anders» sind, können Abhilfe schaffen.

«Il faut apprendre tout ça!», befahl der Lehrer und verwies auf eine Seite des Lehrbuches. Während sich die Sekundarschüler anschliessend mit französischen Vokabeln abmühten, sass er am Pult, las einen Maigret und rauchte «Gauloise bleu». Fast ehrfürchtige Stille herrschte im Raum. Die Schüler waren verwundert über diesen speziellen Pädagogen. Der Lektüre folgten Diskussionen: Auf Französisch wurden Catherine Deneuve, der Algerienkrieg, Jacques Dutronc und das Leben im sechsten Arrondissement in Paris besprochen. Der Französischlehrer war präsent, debattierte leidenschaftlich und wollte seine Klasse von der Überlegenheit der «culture française» überzeugen. 

Frontalunterricht war die Regel, persönliche Erzählungen waren häufig und politisch inkorrekte Aussagen nicht selten. Zweifellos: aus heutiger Sicht ein miserabler Lehrer. Doch er war einer der wenigen Pädagogen, die damals die unruhigen, pubertierenden Jugendlichen für das Französische begeisterten. Bei ihm büffelte man «Franzvokabeln» - nicht weil man es cool fand oder ihn liebte: Irgendetwas faszinierte die Jugendlichen an ihm.

Professionalisierung der Pädagogik

Viele Kinder und Jugendliche lassen sich nicht von der Wichtigkeit des Einsatzes in der Schule überzeugen. Die Schule hat das Wissensmonopol verloren. Man wendet sich nicht mehr ehrfürchtig an den Lehrer, wenn man etwas über Delphine oder das Wiesenschaumkraut wissen will. Dank Google oder Wikipedia geht's schneller. Herkömmliche Schuldisziplinen werden kritisch hinterfragt: Ist das Erlernen der Orthographieregeln im Zeitalter der automatischen Korrekturen wirklich nötig? Wieso Französisch lernen, wenn selbst Rwanda auf Englisch umstellt? Natürlich: Die Schule hält an diesen Fächern fest, sie muss ihre Position legitimieren. Es braucht die Schule auch nicht, um die Zeit totzuschlagen. Vor allem Jugendliche empfinden den Unterricht eher als eine mühsame Unterbrechung der Freizeit, in der man sich Computergames, Sport und Hobbys widmen kann. 

Auch wird von diesen Schülern die Schule nicht mit sozialem Aufstieg assoziiert. Man hat ja schon alles. Die Folge: Es fehlt an intrinsischer Motivation zu lernen. Könnten diese Schüler selber wählen, würden sie die Hälfte der Stunden streichen.

Die Pädagogik hat reagiert. Individualisierter Unterricht ist eingeführt, der Lehrerberuf professionalisiert und die Didaktik verfeinert worden. Angehende Lehrer feilen an ihrem Auftritt, eignen sich Kommunikationskompetenz an und lernen Methoden, um auf den einzelnen Schüler einzugehen. Das selbständige Lernen wird gefördert, die Lektionen werden rhythmisiert, und multimedial eingerichtete Schulzimmer helfen, Lektionen abwechslungsreich zu gestalten. Der Lehrerberuf hat sich zu einer Profession entwickelt, in der nicht persönliche Erfahrungen im Vordergrund stehen, in der die Lehrpersonen sich vielmehr am aktuellen Fachdiskurs und an nationalen Bildungsstandards ausrichten. Die Gesellschaft ist bereit, in Bildung zu investieren, weil allen klar ist, dass unser Wohlstand, die Integration der Immigranten und das Funktionieren des Staates vom Bildungsniveau der Bevölkerung abhängen.

Vielschichtiger Prozess

Wieso sehen dies nicht alle Schülerinnen und Schüler ein und schliessen sich jenen an, die sich auf die nächste Mathematiklektion freuen und sich eifrig auf die Lernkontrolle vorbereiten? Von der Mittelstufe an bringen viele dem Schulstoff kein selbstverständliches Interesse entgegen. Abgesehen vom Sportunterricht würde man sich die Inhalte nicht freiwillig aneignen. Interessant ist jedoch, dass viele trotzdem lernen und sich in der Schule einsetzen.

Lernen ist ein vielschichtiger Prozess. Kinder und Jugendliche eignen sich spielerisch und auf natürlichem Weg im Laufe ihrer Entwicklung unzählige Kompetenzen und eine Unmenge Wissen an. Die Sprachentwicklung eines Kindes ist ein Wunder, und Kleinkinder müssen mehr als tausend zum Teil schmerzliche Stürze ertragen, bis der aufrechte Gang einigermassen klappt. Die grosse Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen zeichnet sich durch einen unbändigen Lernwillen aus. Man gibt nicht auf, bis man das Rollbrettfahren, ein Computerspiel beherrscht oder die Inseln im Pazifik kennt. Das Problem ist, dass sich die natürliche Lernbegeisterung nicht immer auf die Schule überträgt und ab der Vorpubertät zurückgeht. Dem Lernstoff, den die Schule offeriert, wird keine grosse Begeisterung entgegengebracht. Die Bildungswünsche vieler Kinder und Jugendlicher decken sich nicht mit jenen der Erwachsenen.

Lernmotive

Der Mensch lässt sich nicht programmieren. Grundsätzlich sind wir nur bereit, das zu lernen, was Sinn ergibt. Der Lerninhalt oder die zu erwerbende Kompetenz sollten uns bei der Bewältigung eines Problems oder der Erfüllung eines Wunsches weiterhelfen. Kinder lernen, wie ein Touchscreen funktioniert, weil sie dann spannende Spiele spielen können; oder sie lernen, den Code im Familiencomputer zu knacken, weil sie sich dann Verbotenes ansehen können. Was nicht konkret im eigenen Lebensraum eingesetzt werden kann, verliert an Attraktivität. Wer möchte schon stundenlang die korrekte Handhabung eines Bumerangs üben oder Sanskrit lernen? Intrinsische Lernmotivation steht darum in Zusammenhang mit den konkreten Erfahrungen in der eigenen Lebenswelt. Wir wollen uns jene Kompetenzen und jenes Wissen aneignen, die es braucht, um Herausforderungen in unserem Alltag zu bewältigen.*

Es gibt jedoch noch weitere Lernmotive. Wissen kann auch ein Distinktionscode einer Gemeinschaft sein. Man gehört einer Gruppe Menschen an, weil man deren Wissen reproduzieren kann und über vergleichbare Kompetenzen verfügt. Dieses Wissen und Können hat oft keinen Zusammenhang mit dem Lebensalltag, sondern es handelt sich um eine Zutrittsbedingung zur entsprechenden Gemeinschaft. Psychologen müssen sich in Statistik auskennen, auch wenn sie sie später nie brauchen; und Fahrschüler müssen den Bremsweg berechnen, obwohl man später intuitiv vorgeht. Kinder und Jugendliche lernen, weil sie sich dadurch einer Clique anschliessen können oder von einem Kollegenkreis akzeptiert werden. Man weiss über Fussballspiele der Champions League Bescheid, hat Klatschgeschichten auf Lager oder kennt sich in der Mode aus.

Durch das Lernen erarbeitet man sich den Zutritt zu einer Gruppe, die einem wichtig ist. In der Primarschule funktioniert dies oft innerhalb des Klassenverbands. Der schulische Lernstoff fungiert als sozialer Kitt. Man begeistert sich für die Flora des Engadins oder Schweizer Geschichte, weil man es den anderen gleichtun will. Der Lernstoff muss dann nicht von direkter oder praktischer Bedeutung sein. Gelingt es einer Lehrperson, den Lernstoff zum Gruppencode zu machen, hat sie die Klasse - sozusagen - im Sack und vermag auch desinteressierte Schüler zu mobilisieren. Die Kinder oder Jugendlichen lernen, weil sie Teil der Klasse sein wollen.

Ein weiterer Grund, etwas lernen zu wollen, liegt in unserem Wunsch nach Beziehung. Einzelne Mitmenschen werden zur Bezugsperson, weil wir mit ihnen in einem vertieften emotionalen Kontakt stehen. Man interessiert sich füreinander, phantasiert über den anderen, hegt Erwartungen und durchsteht Konflikte. Für Kinder und Jugendliche sind Bezugspersonen ausserhalb der Familie enorm wichtig; Menschen, die bereit sind, Zeit und Energie für sie zu investieren. Schüler engagieren sich in der Schule, wenn das Lernen in eine Beziehung eingebettet ist. Das Interesse am Lernstoff generiert sich aus dem Kontakt zur Lehrperson. Man lernt, weil man der Lehrperson gefallen, sich vor ihr beweisen oder sie ärgern will. Man interessiert sich für Deutsch, für Grammatik oder Musik, weil man es sich nicht mit dem betreffenden Erwachsenen verderben will. Der Stoff interessiert, weil sich der Pädagoge als Beziehungspartner anbietet, der etwas von einem will. Voraussetzung ist, dass der Lehrperson genügend Freiräume und Zeit zugestanden werden, sich als Persönlichkeit den Schülern und Schülerinnen zu präsentieren.

Es gibt noch einen weiteren Grund, wieso Schüler sich für ein Thema interessieren. Es geht um die Sehnsucht nach dem Aussergewöhnlichen. Die amerikanische Psychologin Joan Lucariello untersuchte die Spontanrede von Schülern. Was erzählen sie freiwillig und unaufgefordert ihren Eltern und Lehrpersonen? Der Befund war eindeutig: Es handelt sich vor allem um Ereignisse und Themen ausserhalb des normalen Tagesablaufs: Verrücktheiten, Überraschungen, Anstössiges oder Gewalt. Der Normalität wurde keine grosse Aufmerksamkeit geschenkt, Normalität war langweilig. 

Es gibt einen entwicklungspsychologischen Grund dafür: Das Denken wird geschärft, wenn man sich mit Unerklärlichem befasst.** Wissen jenseits des Bildungskanons macht wach und aufmerksam. Aus diesem Grund schauen auch wir Erwachsenen uns die «Tagesschau» an: Reguläre Ereignisse würden die Einschaltquoten auf null sinken lassen. Jugendliche erkennen sehr rasch, was der Bildungskanon von ihnen will, und drohen sich von ihm abzuwenden.

«Schräge» Lehrer

Das Interesse am Schulstoff steigt, wenn er die Qualität des Aussergewöhnlichen hat und nicht nur als regulärer Teil des Bildungskanons wahrgenommen wird. Aus Schülersicht sollten Lehrpersonen darum nicht nur Vollstrecker des Lehrplans sein, sondern auch vom Mysterium, von den Paradoxien und den Faszinationen des Lebens*** künden. Es geht nicht nur um Anpassung, sondern auch um die Hinführung zum Leben «dort draussen». Lehrpersonen sollten darum nicht nur Normalität repräsentieren, sondern auch ausserschulische Themen einbringen. Sie dürfen ruhig ein wenig «schräg» sein: sich für eine Affenfarm in Tansania begeistern, einen Spleen für Bauernhäuser im Toggenburg haben oder vom Bluesmusiker Big Joe Williams schwärmen. Dem eingangs erwähnten Französischlehrer ist dies gelungen. Er war auf die französische Sprache und Kultur bezogen - und er demonstrierte durch seine gewiss problematische Haltung und Arroganz, dass es noch eine andere Welt als die Schule gibt.

Die Schule lebt von solchen Lehrpersonen, die sich als Persönlichkeiten einbringen und mit der nächsten Generation eine Beziehung aufnehmen; von Menschen, die sich mit ihren Leidenschaften, Interessen profilieren und mit einem Fuss in einer ausserschulischen Welt stehen.

Der Psychologe und Psychotherapeut Dr. Allan Guggenbühl leitet das Institut für Konfliktmanagement und Mythodrama in Zürich und Bern (www.ikm.ch). Daneben lehrt er als Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich. 2013 ist sein Buch «Jugendgewalt. Wie sie entsteht, was Erzieher tun müssen» (bei Herder) erschienen.


*) 'Intrinsich' wäre also eine Motivation, die sich am äußeren Vorteil orientiert? Ich dächte, intrinsisch ist ein Zweck, der 'um seiner selbst willen' erstrebt wird; nicht, um ihn sich anzueignen, sondern um ihn 'ohne Interesse' anzuschauen. 
**) Das Schönste, das wir erleben können, sagt Albert Einstein, sei "das Geheimnisvolle. Es steht am Anfang aller wahren Kunst und wahren Wissenschaft."
***) Na endlich, jetzt hat er's gepackt: Der Lehrer muss selber von den Mysterien des Lebens ergriffen sein. Auf die Lehrer kommt es an. Sie müssen Ästhetiker sein. Nur professionell ist nicht genug.
JE 


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